Konstantin Simonides war ein begnadeter Hochstapler, der geschickteste und schamloseste Fälscher von alten Manuskripten und Papyrusrollen im 19. Jahrhundert. Rüdiger Schaper ist eine hinreißende biographische Erzählung gelungen, die sich zugleich auf anschauliche Weise mit der Frage nach Originalität und Fälschung auseinandersetzt. Das Buch weckt nicht nur Sympathien für seinen skurrilen Helden, sondern beschwört zugleich die Antikensehnsucht vom 19. Jahrhundert bis heute und zeigt, wie sich das moderne Europa seine Antike erfand.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2011Blass muss die Tinte beim Verfertigen sensationeller Palimpseste sein
Von der freien Arbeit an der Überlieferung: Rüdiger Schaper tut dem Fälscher Konstantin Simonides mit der Promotion zum Erfinder der Antike etwas zu viel der Ehre an
Der kurze Artikel "Literarische Fälschung" in der "Encyclopedia Britannica" widmet Konstantin Simonides einen einzigen Satz: ein Abenteurer, der echte Handschriften und merkwürdige Produkte von eigener Hand verkaufte und dabei auftrat, wie Fälscher das auch sonst gelegentlich täten, "with a certain specious glamour". Der fast vergessene Name wurde unlängst noch einmal genannt, als der streitbare Luciano Canfora den Artemidor-Papyrus zur Schöpfung des geheimnisumwitterten Griechen erklärte. Wie zur Bestätigung dieser These sehen sich selbst die Befürworter der Echtheit des vor fünf Jahren für eine siebenstellige Summe erworbenen Stücks gezwungen, eine sehr komplizierte Geschichte von Verwendungen, Beschriftungen und Zweitverwendungen zu erzählen, beinahe würdig der Lebensgeschichte des Simonides, die von diesem immer wieder neu und anders gemodelt wurde.
Ein Stenogramm des halbwegs Gesicherten wäre kurz. Der Sohn eines Arztes, geboren 1820 auf Symi, einer Insel vor der Küste Südkleinasiens, oder 1824 auf dem trockenen Eiland Hydra, südlich von Athen, erhält eine ordentliche Bildung. Später lebt er im Kloster Athos, versenkt sich in die Welt der Handschriften antiker wie byzantinischer Autoren und gewinnt Zugang zu geheimen Verstecken und großen Mengen von alten Pergamentcodices, Dokumenten und Zeichnungen.
Sie werden sein Metier. Simonides reist durch das antikebegeisterte Europa, nach Paris, Leipzig und Oxford, und bietet Manuskripte an, mit wechselndem Erfolg. Er kann sich die notorisch komplizierten Überlieferungsverhältnisse zunutze machen und arbeitet raffinierter als Konrad Kujau, indem er etwa verkehrte Palimpseste schafft: Einer unzweifelhaft echten Handschrift wird mit blasser Tinte nachträglich ein "älterer", sensationeller Text unterlegt. Simonides erlangt eine gewisse Bekanntheit, gewinnt Gönner und macht sich Feinde. Seine apologetische Lebensgeschichte lässt er als Biographie aus der Feder eines befreundeten Engländers erscheinen, der ebenfalls erfunden ist. Am Ende verlässt ihn das Glück; er stirbt verarmt in Alexandria, wahrscheinlich 1867.
Rüdiger Schaper hat gründlich recherchiert, ist zu Stationen seines Odysseus gereist und schreibt mit literarischem Ehrgeiz. Er verschränkt Motive miteinander, die aktuell sind und damit geeignet, Abstände und Unterscheidungen aufzuheben, etwa ein liebloses Elternhaus und sexuellen Missbrauch durch den Onkel, einen Mönch, der den jungen Konstantin auf den Heiligen Berg mitnimmt. Dann die Geburt des neuen griechischen Staates, dessen Patrioten sich gegen Fremdbestimmung und Beraubung nur wehren können, indem sie selbst zu listenreichen Betrügern werden.
Kluges weiß der Autor über das neunzehnte Jahrhundert zu sagen. Die Beschleunigung des technisch-industriellen Wandels aller Lebensverhältnisse treibt die Gebildeten Europas, sich in die ferne Antike zu versenken. Positivismus und Perfektionsdrang peitschen sie voran, immer noch mehr neue Zeugnisse aus der alten Zeit haben zu wollen; gleichzeitig wird das Echte, Originale, Authentische zum Fetisch in einer Welt, die leidenschaftlich damit befasst ist, ihr Alter und ihre Beschaffenheit mit den neuen Instrumenten von Physik, Chemie und Biologie zu erfassen.
Philologen und Paläographen ziehen auf ihren Aneignungsreisen durch alte Klöster alle Register und entwickeln zugleich immer feinere Kriterien, echt und gefälscht zu unterscheiden. Der tief gläubige Simonides, dem alle Zeiten eins sind, alles in Wort und Schrift Gefasste Ergebnis eines gleich verehrungswürdigen Schöpfungsaktes, wird von ihnen zum Scharlatan gebrandmarkt.
Schaper bemüht gar das Internet als eine neue alexandrinische Universalbibliothek, welche die "gefestigte, wissenschaftlich unterfütterte, modern-romantische Vorstellung vom Original" in seine Bestandteile zerfallen lasse. Der rastlos umgetriebene Pirat Simonides, seine "kaum kontrollierbare Produktivität, frei im Umgang mit Quellen, Daten und geistigem Eigentum" haben des Autors ganze Sympathie. Wer schreibe, fälsche a priori, Tradition sei ein Verrat an dem, was nicht überliefert wird. Forschen und Finden, das Doppelgestirn der Moderne, ergänzt Schaper um das Fälschen zum Dreisatz der Zivilisation. Ob er als Kulturchef des "Tagesspiegel" auch so über den Schwindeldoktor zu Guttenberg geschrieben hat?
Sinn generiert der Autor durch Assoziationen. Die Antinoos-Statue in Delphi, der antike Dichter Simonides und die ihm zugeschriebene Mnemotechnik, die Erfindung der Fotografie, die frauenfeindlichen Marienverehrer auf dem Athos, Lord Byron und sein falscher Sohn, ein fabrizierter Shakespeare, der bei der Präsentation auffliegt, dies und vieles mehr durchdringt und adelt die dürftigen Fakten. Indem er die Antike des neunzehnten Jahrhunderts immer wieder zum Konstrukt, zur fixen Idee eines kolonialistischen Europa erklärt, denunziert er zugleich die Professionalisierung und Autonomisierung der Altertumswissenschaft - und der Theologie gleich mit. Konstantin Tischendorf, der Entdecker des Codex Sinaiticus, steigt dementsprechend zum bösen Antipoden und Alter Ego des Simonides auf. Diese Deutschen, die sich im Griechischen besser als alle anderen auskennen wollten: Ein solches Ressentiment wird Simonides unterstellt (und verschwiegen, dass es in der Substanz zutrifft).
Über die Praxis der Sammler und Philologen jener Zeit erfährt man Erhellendes. Aber der Untertitel des Buches wird durch den Bericht selbst widerlegt. Simonides blieb in Frankreich ganz ohne Erfolg, in Deutschland saß er kurzzeitig im Gefängnis, und nur in England sicherte ihm ein offenkundig pathologischer Sammler für längere Zeit die Subsistenz. Zwar druckte ein renommierter englischer Universitätsverlag die angeblich von einem Uranios verfasste ägyptische Königsgeschichte, herausgegeben von einem Leipziger Philologen. Aber der Schwindel flog rasch auf, da man genauer hinsah, als der allzu produktive Editor dies getan hatte.
Simonides hat auch nicht die Antike erfunden; dafür war seine Wirkung viel zu gering. Schaper heroisiert den Vereinsamten zum unzeitgemäßen Heros, der gut in die Spätantike gepasst hätte oder in das heutige, vom Bankrott bedrohte Griechenland. Man liest sein Buch mit Spannung und Vergnügen. Doch der Preis der Ehrenrettung ist hoch: Historismus und die Wissenschaft als Denk- und Lebensformen erscheinen hier im Modus einer Schwarzen Legende.
UWE WALTER
Rüdiger Schaper: "Die Odyssee des Fälschers." Die abenteuerliche Geschichte des Konstantin Simonides, der Europa zum Narren hielt und nebenbei die Antike erfand.
Siedler Verlag, München 2011. 206 S., Abb., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der freien Arbeit an der Überlieferung: Rüdiger Schaper tut dem Fälscher Konstantin Simonides mit der Promotion zum Erfinder der Antike etwas zu viel der Ehre an
Der kurze Artikel "Literarische Fälschung" in der "Encyclopedia Britannica" widmet Konstantin Simonides einen einzigen Satz: ein Abenteurer, der echte Handschriften und merkwürdige Produkte von eigener Hand verkaufte und dabei auftrat, wie Fälscher das auch sonst gelegentlich täten, "with a certain specious glamour". Der fast vergessene Name wurde unlängst noch einmal genannt, als der streitbare Luciano Canfora den Artemidor-Papyrus zur Schöpfung des geheimnisumwitterten Griechen erklärte. Wie zur Bestätigung dieser These sehen sich selbst die Befürworter der Echtheit des vor fünf Jahren für eine siebenstellige Summe erworbenen Stücks gezwungen, eine sehr komplizierte Geschichte von Verwendungen, Beschriftungen und Zweitverwendungen zu erzählen, beinahe würdig der Lebensgeschichte des Simonides, die von diesem immer wieder neu und anders gemodelt wurde.
Ein Stenogramm des halbwegs Gesicherten wäre kurz. Der Sohn eines Arztes, geboren 1820 auf Symi, einer Insel vor der Küste Südkleinasiens, oder 1824 auf dem trockenen Eiland Hydra, südlich von Athen, erhält eine ordentliche Bildung. Später lebt er im Kloster Athos, versenkt sich in die Welt der Handschriften antiker wie byzantinischer Autoren und gewinnt Zugang zu geheimen Verstecken und großen Mengen von alten Pergamentcodices, Dokumenten und Zeichnungen.
Sie werden sein Metier. Simonides reist durch das antikebegeisterte Europa, nach Paris, Leipzig und Oxford, und bietet Manuskripte an, mit wechselndem Erfolg. Er kann sich die notorisch komplizierten Überlieferungsverhältnisse zunutze machen und arbeitet raffinierter als Konrad Kujau, indem er etwa verkehrte Palimpseste schafft: Einer unzweifelhaft echten Handschrift wird mit blasser Tinte nachträglich ein "älterer", sensationeller Text unterlegt. Simonides erlangt eine gewisse Bekanntheit, gewinnt Gönner und macht sich Feinde. Seine apologetische Lebensgeschichte lässt er als Biographie aus der Feder eines befreundeten Engländers erscheinen, der ebenfalls erfunden ist. Am Ende verlässt ihn das Glück; er stirbt verarmt in Alexandria, wahrscheinlich 1867.
Rüdiger Schaper hat gründlich recherchiert, ist zu Stationen seines Odysseus gereist und schreibt mit literarischem Ehrgeiz. Er verschränkt Motive miteinander, die aktuell sind und damit geeignet, Abstände und Unterscheidungen aufzuheben, etwa ein liebloses Elternhaus und sexuellen Missbrauch durch den Onkel, einen Mönch, der den jungen Konstantin auf den Heiligen Berg mitnimmt. Dann die Geburt des neuen griechischen Staates, dessen Patrioten sich gegen Fremdbestimmung und Beraubung nur wehren können, indem sie selbst zu listenreichen Betrügern werden.
Kluges weiß der Autor über das neunzehnte Jahrhundert zu sagen. Die Beschleunigung des technisch-industriellen Wandels aller Lebensverhältnisse treibt die Gebildeten Europas, sich in die ferne Antike zu versenken. Positivismus und Perfektionsdrang peitschen sie voran, immer noch mehr neue Zeugnisse aus der alten Zeit haben zu wollen; gleichzeitig wird das Echte, Originale, Authentische zum Fetisch in einer Welt, die leidenschaftlich damit befasst ist, ihr Alter und ihre Beschaffenheit mit den neuen Instrumenten von Physik, Chemie und Biologie zu erfassen.
Philologen und Paläographen ziehen auf ihren Aneignungsreisen durch alte Klöster alle Register und entwickeln zugleich immer feinere Kriterien, echt und gefälscht zu unterscheiden. Der tief gläubige Simonides, dem alle Zeiten eins sind, alles in Wort und Schrift Gefasste Ergebnis eines gleich verehrungswürdigen Schöpfungsaktes, wird von ihnen zum Scharlatan gebrandmarkt.
Schaper bemüht gar das Internet als eine neue alexandrinische Universalbibliothek, welche die "gefestigte, wissenschaftlich unterfütterte, modern-romantische Vorstellung vom Original" in seine Bestandteile zerfallen lasse. Der rastlos umgetriebene Pirat Simonides, seine "kaum kontrollierbare Produktivität, frei im Umgang mit Quellen, Daten und geistigem Eigentum" haben des Autors ganze Sympathie. Wer schreibe, fälsche a priori, Tradition sei ein Verrat an dem, was nicht überliefert wird. Forschen und Finden, das Doppelgestirn der Moderne, ergänzt Schaper um das Fälschen zum Dreisatz der Zivilisation. Ob er als Kulturchef des "Tagesspiegel" auch so über den Schwindeldoktor zu Guttenberg geschrieben hat?
Sinn generiert der Autor durch Assoziationen. Die Antinoos-Statue in Delphi, der antike Dichter Simonides und die ihm zugeschriebene Mnemotechnik, die Erfindung der Fotografie, die frauenfeindlichen Marienverehrer auf dem Athos, Lord Byron und sein falscher Sohn, ein fabrizierter Shakespeare, der bei der Präsentation auffliegt, dies und vieles mehr durchdringt und adelt die dürftigen Fakten. Indem er die Antike des neunzehnten Jahrhunderts immer wieder zum Konstrukt, zur fixen Idee eines kolonialistischen Europa erklärt, denunziert er zugleich die Professionalisierung und Autonomisierung der Altertumswissenschaft - und der Theologie gleich mit. Konstantin Tischendorf, der Entdecker des Codex Sinaiticus, steigt dementsprechend zum bösen Antipoden und Alter Ego des Simonides auf. Diese Deutschen, die sich im Griechischen besser als alle anderen auskennen wollten: Ein solches Ressentiment wird Simonides unterstellt (und verschwiegen, dass es in der Substanz zutrifft).
Über die Praxis der Sammler und Philologen jener Zeit erfährt man Erhellendes. Aber der Untertitel des Buches wird durch den Bericht selbst widerlegt. Simonides blieb in Frankreich ganz ohne Erfolg, in Deutschland saß er kurzzeitig im Gefängnis, und nur in England sicherte ihm ein offenkundig pathologischer Sammler für längere Zeit die Subsistenz. Zwar druckte ein renommierter englischer Universitätsverlag die angeblich von einem Uranios verfasste ägyptische Königsgeschichte, herausgegeben von einem Leipziger Philologen. Aber der Schwindel flog rasch auf, da man genauer hinsah, als der allzu produktive Editor dies getan hatte.
Simonides hat auch nicht die Antike erfunden; dafür war seine Wirkung viel zu gering. Schaper heroisiert den Vereinsamten zum unzeitgemäßen Heros, der gut in die Spätantike gepasst hätte oder in das heutige, vom Bankrott bedrohte Griechenland. Man liest sein Buch mit Spannung und Vergnügen. Doch der Preis der Ehrenrettung ist hoch: Historismus und die Wissenschaft als Denk- und Lebensformen erscheinen hier im Modus einer Schwarzen Legende.
UWE WALTER
Rüdiger Schaper: "Die Odyssee des Fälschers." Die abenteuerliche Geschichte des Konstantin Simonides, der Europa zum Narren hielt und nebenbei die Antike erfand.
Siedler Verlag, München 2011. 206 S., Abb., geb., 16,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Von wegen klassisch griechisch. Nach dieser Lektüre ist sich Matthias Waha nicht mehr so sicher, was wirklich wahr ist an unserem Bild von der Antike. Hatte der Schriftenfälscher Konstantin Simonides nicht vielleicht seine Finger im Spiel, wie schon bei der "Konstaninischen Schenkung"? Das Buch aber ist echt, nachweislich verfasst von Rüdiger Schaper, als auf spärlichem Material fußende spannende Biografie, Erzählung und gelehrter kunsthistorischer Essay in einem, wie Waha begeistert erläutert. Allerdings geht ihm die Sympathie des Autors für den Fälscherkönig Simonides ein bisschen zu weit. Schließlich handelt es sich um einen Kriminellen, wenn auch einen "sanften". Der mutmaßliche Beweggrund des Fälschers, der Heimat zu Ruhm zu verhelfen, stimmt Waha in diesem einen Punkt auch nicht nachsichtiger.
© Perlentaucher Medien GmbH
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