Ein Plädoyer für eine neue Debattenkultur und eine Öffentlichkeit, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist
Die Öffentlichkeit unserer zerstrittenen Spätmoderne ist in einer desolaten Lage. Klug und scharfsinnig untersucht der Autor ihren Zustand, benennt ihre Feinde und Bedrohungen und stellt die Schicksalsfrage: Wie können wir eine zukunftsfähige Öffentlichkeit schaffen? Ein hochaktuelles, aufrüttelndes Debattenbuch.
Die Öffentlichkeit ist der zentrale Wert unserer Demokratie. Nur wenn sich freie Meinungen ohne Angst begegnen, können sie das verhandeln, was alle angeht. Ohne eine funktionierende Öffentlichkeit kann niemand seine Interessen formulieren oder seine Meinung bilden. Doch die spätmoderne Öffentlichkeit sieht sich in einer paradoxen Lage. Je mehr Menschen durch die sozialen Netzwerke Zugang haben, desto chaotischer werden ihre Debatten. Radikale Vereinfachungen führen zu einer polarisierten Öffentlichkeit, in der es nur noch Freunde und Feinde gibt.Wer auf sachliche Informationen und einen rationalen Diskurs hofft, wird immer öfter enttäuscht. Dabei steuert unsere Gesellschaft auf eine doppelte Katastrophe zu. Die Zersplitterung des Sozialen nimmt in wachsendem Tempo zu und die Veränderungen des Anthropozäns zeichnen sich immer drohender am Horizont ab. Es ist also höchste Zeit, die Ursachen der zerstrittenen Öffentlichkeit aufzuzeigen. Denn sonst stehen wir bald vor einem brennenden Haus, und statt zu löschen, schreien wir uns alle weiter an.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die Öffentlichkeit unserer zerstrittenen Spätmoderne ist in einer desolaten Lage. Klug und scharfsinnig untersucht der Autor ihren Zustand, benennt ihre Feinde und Bedrohungen und stellt die Schicksalsfrage: Wie können wir eine zukunftsfähige Öffentlichkeit schaffen? Ein hochaktuelles, aufrüttelndes Debattenbuch.
Die Öffentlichkeit ist der zentrale Wert unserer Demokratie. Nur wenn sich freie Meinungen ohne Angst begegnen, können sie das verhandeln, was alle angeht. Ohne eine funktionierende Öffentlichkeit kann niemand seine Interessen formulieren oder seine Meinung bilden. Doch die spätmoderne Öffentlichkeit sieht sich in einer paradoxen Lage. Je mehr Menschen durch die sozialen Netzwerke Zugang haben, desto chaotischer werden ihre Debatten. Radikale Vereinfachungen führen zu einer polarisierten Öffentlichkeit, in der es nur noch Freunde und Feinde gibt.Wer auf sachliche Informationen und einen rationalen Diskurs hofft, wird immer öfter enttäuscht. Dabei steuert unsere Gesellschaft auf eine doppelte Katastrophe zu. Die Zersplitterung des Sozialen nimmt in wachsendem Tempo zu und die Veränderungen des Anthropozäns zeichnen sich immer drohender am Horizont ab. Es ist also höchste Zeit, die Ursachen der zerstrittenen Öffentlichkeit aufzuzeigen. Denn sonst stehen wir bald vor einem brennenden Haus, und statt zu löschen, schreien wir uns alle weiter an.
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»[...] Ein Weckruf, um gemeinsam Verantwortung zu übernehmen.« Gina Bucher, NZZ am Sonntag, 28. Februar 2021 Gina Bucher NZZ am Sonntag 20210228
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2021Sprechen wir uns doch zusammen
Aber zuerst wird bitte schön die Klassenfrage gelöst: Bernd Stegemann sucht nach einer neuen Öffentlichkeit
Bernd Stegemanns Metier ist das Theater. Er hat mehrere Stationen als Dramaturg durchlaufen (derzeit ist er am Berliner Ensemble) und ist seit 2005 Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Seit einigen Jahren ist er auch als politischer Schriftsteller hervorgetreten, zuletzt mit dem Buch "Die Moralfalle". Als politischer Aktivist war er Gründungsmitglied der linken Sammlungsbewegung "Aufstehen", deren Galionsfigur Sahra Wagenknecht war. Bis 2019 war er dort auch Vorsitzender und galt als "Chefstratege". Warum diese Bewegung, die anfangs Furore machte, schnell wieder in der Versenkung verschwunden ist, lässt sich erahnen, wenn man sein neues Buch über "Die Öffentlichkeit und ihre Feinde" liest. Es ist eine zähe, schwierige Lektüre, und die Schlussfolgerungen, die Stegemann nach fast dreihundert Seiten aus seinen Überlegungen zieht, sind nahezu unverständlich: Sie verschwimmen in einem Nebel aus philosophischem Namedropping und Transzendenzsuche.
Man könnte das ganze Buch als eine Art Hybrid bezeichnen. Das gilt schon methodisch: Stegemann ist ein Adept der Systemtheorie Niklas Luhmanns, der, soweit er sich zur praktischen Politik geäußert hat, ein knochentrockener Konservativer war. Er ist aber auch ein klassischer Linker, der es mit dem "Hauptwiderspruch" (zwischen Kapital und Arbeit) und mit der Dialektik hat. Was vielleicht eine dialektisch aufgeklärte Systemtheorie oder eine systemtheoretisch informierte Dialektik hätte werden sollen, erweist sich in seinem Buch als ziemlich undiszipliniertes und oft widersprüchliches Springen von einem Gegenstand zum anderen, von der einen zur anderen Methode. Hybrid ist auch der Inhalt: Da geht es mit den üblichen kapitalismuskritischen Argumenten gegen den Neoliberalismus, dazu wird das Thema "Gesellschaft der Singularitäten" (Andreas Reckwitz) als verschärfende Bedingung addiert, schließlich landet Stegemann bei den Widersprüchen der Postmoderne (oder der spätkapitalistischen Moderne) und bei den Herausforderungen, mit denen die Menschheit im Anthropozän konfrontiert ist.
Dem Titel seines Buches entsprechend versucht Stegemann, ein neues Verständnis von Öffentlichkeit zu gewinnen, weil die konstituierenden Elemente klassischer Konzepte in der Spät- oder Postmoderne nicht mehr funktionieren, so etwa Habermas' Modell einer "deliberativen Öffentlichkeit". An den Unzulänglichkeiten des "herrschaftsfreien Diskurses" haben sich allerdings viele, wie etwa schon Robert Spaemann vor Jahrzehnten, scharfsinniger abgearbeitet. Als neue Form sucht Stegemann nach den Bedingungen einer "offenen Öffentlichkeit".
Schon die begriffliche Doppelung macht misstrauisch, und tatsächlich folgt der Autor auch hier seinem Prinzip, alle anderen Theorien in Grund und Boden zu kritisieren, aber selbst jede Konkretion und jeden Realitätsbezug zu vermeiden. Öffentlichkeit ist für ihn mit Luhmann "eine besondere Beobachtungssituation", und die offene Öffentlichkeit soll eine Situation ermöglichen, "in der Aussagen und ihr Verstehen kontingent sind und zugleich als Gespräch in einer gemeinsamen Welt realisiert werden". Der Begriff der gemeinsamen Welt lässt an Hannah Arendt oder kommunitaristische Theoretiker wie Walzer oder Sandel denken, aber im Gegensatz zu diesen macht Stegemann nicht einmal Andeutungen darüber, wo und wie diese gemeinschaftsstiftende Kommunikation stattfinden könnte.
Natürlich findet man auch treffende Beobachtungen. So stellt er am Beispiel der Migrationsfrage dar, wie sich zwei Gruppen gegenüberstehen, ohne dass es zu einem wirklichen Gespräch käme; er bezieht dabei den migrationskritischen Standpunkt, den Wagenknecht öffentlich vorgetragen hat. Doch statt Bedingungen zu nennen, unter denen eine öffentliche Diskussion überhaupt geführt werden könnte, schlägt er dann die "dialektische" Volte, dass solche Kommunikation durch den alles verschleiernden "Hauptwiderspruch" verhindert wird, dass dafür also offenbar zuerst die internationalen wie die innergesellschaftlichen Klassenverhältnisse verändert werden müssten. Auch so kann man sich aus politischen Problemlagen und ihren möglichen Lösungen herausreden oder -schreiben.
Bedenkenswert ist auch die Kritik an der angeblich fatalen Notwendigkeit zur permanenten Disponibilität, die der neoliberal organisierte Arbeitsmarkt den Menschen auferlegt, die überdies, wenn sie reüssieren wollen, in einen Zwang zur Selbstoptimierung geraten - aber auch das haben viele andere Autoren beschrieben. Treffend ist Stegemanns Kritik an den sich selbst bestätigenden und immunisierenden Verschwörungstheorien sowie den Widersprüchen der "Identitätspolitik", inklusive "political correctness", "cancel culture" und "wokeness". Sie bestätigt aus einer linken Perspektive weitgehend das, was auf liberaler oder konservativer Seite schon lange angeprangert wird. Dort wird man es auch begrüßen, dass er Greta Thunbergs "How can you dare" und "Fridays for future" aufs Korn nimmt und "Klima-Panik", mit gewissen Abstrichen, für genauso gefährlich hält wie die Leugnung des Klimawandels.
Im letzten Kapitel und am Schluss verliert sich Stegemann zunehmend in Ausführungen über Religion, Mystik und Transzendenz. Neben der "french theory" werden Descartes und Nietzsche als Beispiele denkerischer Verirrung angeführt, auch ein Schlenker zu Platons Höhlengleichnis darf nicht fehlen. Natürlich ist Adornos Kritik an der Kulturindustrie eine Art Passepartout, und Heidegger ruft von seiner Lichtung herüber, nämlich mit der Bemerkung in seinem berühmten Interview mit Rudolf Augstein, "dass nur ein Gott uns noch retten kann". Als Kronzeugen für Ökologie als neue Transzendenz werden Gregory Bateson und Bruno Latour angeführt. Das Ganze endet mit der Wendung "...wir können uns daran erinnern, dass die demütige Arbeit an der Transzendenztauglichkeit einst auch den Zweck erfüllt hat, den Weltuntergang aufzuschieben". Vermutlich ist Sahra Wagenknecht, die eigentlich zusammen mit Stegemann "Aufstehen" wollte, an solchen Äußerungen verzweifelt.
GÜNTHER NONNENMACHER
Bernd Stegemann: "Die Öffentlichkeit und ihre Feinde".
Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2021. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber zuerst wird bitte schön die Klassenfrage gelöst: Bernd Stegemann sucht nach einer neuen Öffentlichkeit
Bernd Stegemanns Metier ist das Theater. Er hat mehrere Stationen als Dramaturg durchlaufen (derzeit ist er am Berliner Ensemble) und ist seit 2005 Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Seit einigen Jahren ist er auch als politischer Schriftsteller hervorgetreten, zuletzt mit dem Buch "Die Moralfalle". Als politischer Aktivist war er Gründungsmitglied der linken Sammlungsbewegung "Aufstehen", deren Galionsfigur Sahra Wagenknecht war. Bis 2019 war er dort auch Vorsitzender und galt als "Chefstratege". Warum diese Bewegung, die anfangs Furore machte, schnell wieder in der Versenkung verschwunden ist, lässt sich erahnen, wenn man sein neues Buch über "Die Öffentlichkeit und ihre Feinde" liest. Es ist eine zähe, schwierige Lektüre, und die Schlussfolgerungen, die Stegemann nach fast dreihundert Seiten aus seinen Überlegungen zieht, sind nahezu unverständlich: Sie verschwimmen in einem Nebel aus philosophischem Namedropping und Transzendenzsuche.
Man könnte das ganze Buch als eine Art Hybrid bezeichnen. Das gilt schon methodisch: Stegemann ist ein Adept der Systemtheorie Niklas Luhmanns, der, soweit er sich zur praktischen Politik geäußert hat, ein knochentrockener Konservativer war. Er ist aber auch ein klassischer Linker, der es mit dem "Hauptwiderspruch" (zwischen Kapital und Arbeit) und mit der Dialektik hat. Was vielleicht eine dialektisch aufgeklärte Systemtheorie oder eine systemtheoretisch informierte Dialektik hätte werden sollen, erweist sich in seinem Buch als ziemlich undiszipliniertes und oft widersprüchliches Springen von einem Gegenstand zum anderen, von der einen zur anderen Methode. Hybrid ist auch der Inhalt: Da geht es mit den üblichen kapitalismuskritischen Argumenten gegen den Neoliberalismus, dazu wird das Thema "Gesellschaft der Singularitäten" (Andreas Reckwitz) als verschärfende Bedingung addiert, schließlich landet Stegemann bei den Widersprüchen der Postmoderne (oder der spätkapitalistischen Moderne) und bei den Herausforderungen, mit denen die Menschheit im Anthropozän konfrontiert ist.
Dem Titel seines Buches entsprechend versucht Stegemann, ein neues Verständnis von Öffentlichkeit zu gewinnen, weil die konstituierenden Elemente klassischer Konzepte in der Spät- oder Postmoderne nicht mehr funktionieren, so etwa Habermas' Modell einer "deliberativen Öffentlichkeit". An den Unzulänglichkeiten des "herrschaftsfreien Diskurses" haben sich allerdings viele, wie etwa schon Robert Spaemann vor Jahrzehnten, scharfsinniger abgearbeitet. Als neue Form sucht Stegemann nach den Bedingungen einer "offenen Öffentlichkeit".
Schon die begriffliche Doppelung macht misstrauisch, und tatsächlich folgt der Autor auch hier seinem Prinzip, alle anderen Theorien in Grund und Boden zu kritisieren, aber selbst jede Konkretion und jeden Realitätsbezug zu vermeiden. Öffentlichkeit ist für ihn mit Luhmann "eine besondere Beobachtungssituation", und die offene Öffentlichkeit soll eine Situation ermöglichen, "in der Aussagen und ihr Verstehen kontingent sind und zugleich als Gespräch in einer gemeinsamen Welt realisiert werden". Der Begriff der gemeinsamen Welt lässt an Hannah Arendt oder kommunitaristische Theoretiker wie Walzer oder Sandel denken, aber im Gegensatz zu diesen macht Stegemann nicht einmal Andeutungen darüber, wo und wie diese gemeinschaftsstiftende Kommunikation stattfinden könnte.
Natürlich findet man auch treffende Beobachtungen. So stellt er am Beispiel der Migrationsfrage dar, wie sich zwei Gruppen gegenüberstehen, ohne dass es zu einem wirklichen Gespräch käme; er bezieht dabei den migrationskritischen Standpunkt, den Wagenknecht öffentlich vorgetragen hat. Doch statt Bedingungen zu nennen, unter denen eine öffentliche Diskussion überhaupt geführt werden könnte, schlägt er dann die "dialektische" Volte, dass solche Kommunikation durch den alles verschleiernden "Hauptwiderspruch" verhindert wird, dass dafür also offenbar zuerst die internationalen wie die innergesellschaftlichen Klassenverhältnisse verändert werden müssten. Auch so kann man sich aus politischen Problemlagen und ihren möglichen Lösungen herausreden oder -schreiben.
Bedenkenswert ist auch die Kritik an der angeblich fatalen Notwendigkeit zur permanenten Disponibilität, die der neoliberal organisierte Arbeitsmarkt den Menschen auferlegt, die überdies, wenn sie reüssieren wollen, in einen Zwang zur Selbstoptimierung geraten - aber auch das haben viele andere Autoren beschrieben. Treffend ist Stegemanns Kritik an den sich selbst bestätigenden und immunisierenden Verschwörungstheorien sowie den Widersprüchen der "Identitätspolitik", inklusive "political correctness", "cancel culture" und "wokeness". Sie bestätigt aus einer linken Perspektive weitgehend das, was auf liberaler oder konservativer Seite schon lange angeprangert wird. Dort wird man es auch begrüßen, dass er Greta Thunbergs "How can you dare" und "Fridays for future" aufs Korn nimmt und "Klima-Panik", mit gewissen Abstrichen, für genauso gefährlich hält wie die Leugnung des Klimawandels.
Im letzten Kapitel und am Schluss verliert sich Stegemann zunehmend in Ausführungen über Religion, Mystik und Transzendenz. Neben der "french theory" werden Descartes und Nietzsche als Beispiele denkerischer Verirrung angeführt, auch ein Schlenker zu Platons Höhlengleichnis darf nicht fehlen. Natürlich ist Adornos Kritik an der Kulturindustrie eine Art Passepartout, und Heidegger ruft von seiner Lichtung herüber, nämlich mit der Bemerkung in seinem berühmten Interview mit Rudolf Augstein, "dass nur ein Gott uns noch retten kann". Als Kronzeugen für Ökologie als neue Transzendenz werden Gregory Bateson und Bruno Latour angeführt. Das Ganze endet mit der Wendung "...wir können uns daran erinnern, dass die demütige Arbeit an der Transzendenztauglichkeit einst auch den Zweck erfüllt hat, den Weltuntergang aufzuschieben". Vermutlich ist Sahra Wagenknecht, die eigentlich zusammen mit Stegemann "Aufstehen" wollte, an solchen Äußerungen verzweifelt.
GÜNTHER NONNENMACHER
Bernd Stegemann: "Die Öffentlichkeit und ihre Feinde".
Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2021. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Sehr ausführlich und vollmundig-wütend streitet Jens-Christian Rabe mit dem Autor. Der Kritiker ordnet den Autor zuerst in einen gewissen Kontext ein, informiert, dass er zur linken "Aufstehen"-Bewegung - mit Sahra Wagenknecht - gehörte und insgesamt zu einer publizistischen Richtung, die Rabe "eine Art Backlash von linksliberaler Seite" nennt. Das Buch fuhrwerkt nach Meinung des Kritikers reichlich mit dem "Grundstudium-Zettelkasten" herum, um sich die neue Unkultur des Korrekten und des Verbietens vom Hals zu halten. Der Kritiker meint, hier werde leider nur mit den schwächsten Argumenten der Gegner ein Strauß ausgefochten und er stört sich an der "verblüffenden Selbstverständlichkeit", mit der sich auch dieser Autor "als Teil der Lösung" begreift.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2021Gegenschlag von links
Bernd Stegemann und die Feinde der Freiheit
Der 1967 geborene Berliner Dramaturg und Theaterwissenschaftler Bernd Stegemann hat sich mit Büchern wie „Die Moralfalle“ (2018) in den vergangenen Jahren auch als linker Antimoralist einen Namen gemacht. Unter anderem mit der prominenten Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht versuchte er 2018 sogar, unter dem Namen „Aufstehen“ eine neue linke Sammlungsbewegung zu initiieren. „Aufstehen“ wollte nicht selbst Partei sein, sondern den linken Parteien im Bundestag parlamentarische Mehrheiten beschaffen – allerdings gegen deren, nach Ansicht von „Aufstehen“, zu bürgerliche Bequemlichkeit, zu zaghafte Sozialpolitik und zu weltfremde Leidenschaft für Moralismus aller Art.
Wirklich abgehoben ist „Aufstehen“ bislang nicht, den publizistischen Teil des Projekts setzt Bernd Stegemann aber in seinem neuen Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ energisch fort. Es passt gut zu viel beachteten neuen Büchern wie „Generation Beleidigt – Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei“ von Caroline Fourest, einer linken französischen Filmemacherin und Feministin, aber auch zum Rücktritt des Linken-Abgeordneten Fabio De Masi wegen zu viel „erhobenen Zeigefingern“ in seiner Partei, oder neuen publizistischen Manifest „Wofür stehen wir?“, in dem der Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo die Freiheit der Medien von links bedroht sieht von den „Auswüchsen“ von „Political Correctness“ und „Identitätspolitik“.
Es scheint eine Art Backlash von linksliberaler Seite im Gange zu sein. Gegenüber Fourests panisch-polemischer Anekdotensammlung ist „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ dabei nun so etwas wie die blasiert-beflissene Kulturtheorie-Sause. Immer einen Tick zu unironisch und selbstgerecht wird am gespaltenen Patienten Öffentlichkeit angeberhaft-paternalisierend mit dem Greatest-Hits-Besteck aus dem Grundstudium-Zettelkasten herumgestochert: Adorno! Systemtheorie! Nietzsche! Biopolitik! Und immer ist von der Gegenwart etwas zu neomarxistisch-geschichtsphilosophisch raunend als „Spätmoderne“ die Rede.
In gleich zwei der fünf Kapitel soll es einleuchtenderweise um aktuelle Widersprüche gehen – einmal um die der Öffentlichkeit im Allgemeinen, einmal sogar um „unser aller Widersprüche“ –, konkret ist die Pointe dann aber doch die Beschwörung der angeblich gesellschaftszersetzenden Gefahr, die vom unerträglich moralisierenden Endgegner ausgeht, der keine Meinungen mehr zulassen will außer seiner eigenen: der „woken Cancel Culture“. Diese ständig empörte Unkultur, so Stegemann, führe zu einem „Rückschritt an Komplexitätstauglichkeit“. Früher habe es als Fortschritt gegolten, dass sich unterschiedliche Meinungen aushalten müssen, die „woke Cancel Culture“ reagiere auf diese Zumutung jedoch mit „einer Art Notbremse“. Statt um Meinungen und Argumente gehe es nur noch darum, welche Meinungen und Argumente überhaupt öffentlich geäußert werden dürften.
Nun gibt es zweifellos gar nicht so wenige „woke“ Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer, die ihren Kampf um weniger Rassismus und Diskriminierung und mehr Gerechtigkeit und Teilhabe ihrerseits schmerzfrei rigoros führen. Aber sie befinden sich zumeist weit entfernt von den Hebeln der Macht. Und die Rigorosität einiger diskreditiert nicht automatisch den Kern eines ganzen Anliegens.
Wenn ihm zudem wirklich eine weniger kaputtempörte, also „offenere“, vernünftigere Öffentlichkeit am Herzen liegt, wie er beteuert, wäre es dann nicht geboten, sich vor allem für die stärksten Argumente des Gegners zu interessieren und nicht bloß für seine schwächsten? Und wäre es auch nicht viel aufregender, erst mal dem eigenen Zwang zur unterkomplexen Übersichtlichkeit auf den Grund zu gehen? Interessant ist „Die Öffentlichkeit und ihr Feinde“ deshalb über zu weite Stecken weniger wegen seiner Analysen zum ja tatsächlich verzwickten Gespräch der Zeit und seiner – meistens durchaus aufrichtig erscheinenden – Zukunftssorgen. Interessant ist das Buch wegen der verblüffenden Selbstverständlichkeit, mit der Stegemann offenbar trotz seiner eigenen polemischen Verkürzungen davon ausgeht, nicht mehr Teil des Problems, sondern schon Teil der Lösung zu sein.
Seltsam schlapp wirkt dementsprechend die Pointe: Angesichts der gigantischen ökologischen Herausforderungen sei nicht „spätmoderne Erregung“ geboten, sondern eine „neue Form der geistigen Einstellung“, nämlich Demut. Stegemann geht augenscheinlich ein gewisses Bewusstsein dafür ab, dass die Forderung nach Demut für Mehrheitsvertreter einen völlig anderen Klang hat als für Menschen, die gerade erst den Mut gefasst haben, für mehr Teilhabe und Sichtbarkeit zu kämpfen.
Mit anderen Worten: Wenn es ein lohnenswertes diskurspolitisches Projekt der autochthonen Mehrheitsgesellschaft gibt, der auch der Autor dieser Rezension angehört, dann vielleicht dieses: sich darüber klar zu werden, wie stark man in weiten Teilen noch zur dritten Kategorie von politischen Menschen gehört. Zu denen, die denken, sie seien schon Teil der Lösung, obwohl sie in Wahrheit noch Teil des Problems sind.
JENS-CHRISTIAN RABE
Wäre es nicht geboten, sich für
die stärksten Argumente seines
Gegners zu interessieren?
Bernd Stegemann:
Die Öffentlichkeit
und ihre Feinde.
Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2021.
384 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Bernd Stegemann und die Feinde der Freiheit
Der 1967 geborene Berliner Dramaturg und Theaterwissenschaftler Bernd Stegemann hat sich mit Büchern wie „Die Moralfalle“ (2018) in den vergangenen Jahren auch als linker Antimoralist einen Namen gemacht. Unter anderem mit der prominenten Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht versuchte er 2018 sogar, unter dem Namen „Aufstehen“ eine neue linke Sammlungsbewegung zu initiieren. „Aufstehen“ wollte nicht selbst Partei sein, sondern den linken Parteien im Bundestag parlamentarische Mehrheiten beschaffen – allerdings gegen deren, nach Ansicht von „Aufstehen“, zu bürgerliche Bequemlichkeit, zu zaghafte Sozialpolitik und zu weltfremde Leidenschaft für Moralismus aller Art.
Wirklich abgehoben ist „Aufstehen“ bislang nicht, den publizistischen Teil des Projekts setzt Bernd Stegemann aber in seinem neuen Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ energisch fort. Es passt gut zu viel beachteten neuen Büchern wie „Generation Beleidigt – Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei“ von Caroline Fourest, einer linken französischen Filmemacherin und Feministin, aber auch zum Rücktritt des Linken-Abgeordneten Fabio De Masi wegen zu viel „erhobenen Zeigefingern“ in seiner Partei, oder neuen publizistischen Manifest „Wofür stehen wir?“, in dem der Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo die Freiheit der Medien von links bedroht sieht von den „Auswüchsen“ von „Political Correctness“ und „Identitätspolitik“.
Es scheint eine Art Backlash von linksliberaler Seite im Gange zu sein. Gegenüber Fourests panisch-polemischer Anekdotensammlung ist „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ dabei nun so etwas wie die blasiert-beflissene Kulturtheorie-Sause. Immer einen Tick zu unironisch und selbstgerecht wird am gespaltenen Patienten Öffentlichkeit angeberhaft-paternalisierend mit dem Greatest-Hits-Besteck aus dem Grundstudium-Zettelkasten herumgestochert: Adorno! Systemtheorie! Nietzsche! Biopolitik! Und immer ist von der Gegenwart etwas zu neomarxistisch-geschichtsphilosophisch raunend als „Spätmoderne“ die Rede.
In gleich zwei der fünf Kapitel soll es einleuchtenderweise um aktuelle Widersprüche gehen – einmal um die der Öffentlichkeit im Allgemeinen, einmal sogar um „unser aller Widersprüche“ –, konkret ist die Pointe dann aber doch die Beschwörung der angeblich gesellschaftszersetzenden Gefahr, die vom unerträglich moralisierenden Endgegner ausgeht, der keine Meinungen mehr zulassen will außer seiner eigenen: der „woken Cancel Culture“. Diese ständig empörte Unkultur, so Stegemann, führe zu einem „Rückschritt an Komplexitätstauglichkeit“. Früher habe es als Fortschritt gegolten, dass sich unterschiedliche Meinungen aushalten müssen, die „woke Cancel Culture“ reagiere auf diese Zumutung jedoch mit „einer Art Notbremse“. Statt um Meinungen und Argumente gehe es nur noch darum, welche Meinungen und Argumente überhaupt öffentlich geäußert werden dürften.
Nun gibt es zweifellos gar nicht so wenige „woke“ Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer, die ihren Kampf um weniger Rassismus und Diskriminierung und mehr Gerechtigkeit und Teilhabe ihrerseits schmerzfrei rigoros führen. Aber sie befinden sich zumeist weit entfernt von den Hebeln der Macht. Und die Rigorosität einiger diskreditiert nicht automatisch den Kern eines ganzen Anliegens.
Wenn ihm zudem wirklich eine weniger kaputtempörte, also „offenere“, vernünftigere Öffentlichkeit am Herzen liegt, wie er beteuert, wäre es dann nicht geboten, sich vor allem für die stärksten Argumente des Gegners zu interessieren und nicht bloß für seine schwächsten? Und wäre es auch nicht viel aufregender, erst mal dem eigenen Zwang zur unterkomplexen Übersichtlichkeit auf den Grund zu gehen? Interessant ist „Die Öffentlichkeit und ihr Feinde“ deshalb über zu weite Stecken weniger wegen seiner Analysen zum ja tatsächlich verzwickten Gespräch der Zeit und seiner – meistens durchaus aufrichtig erscheinenden – Zukunftssorgen. Interessant ist das Buch wegen der verblüffenden Selbstverständlichkeit, mit der Stegemann offenbar trotz seiner eigenen polemischen Verkürzungen davon ausgeht, nicht mehr Teil des Problems, sondern schon Teil der Lösung zu sein.
Seltsam schlapp wirkt dementsprechend die Pointe: Angesichts der gigantischen ökologischen Herausforderungen sei nicht „spätmoderne Erregung“ geboten, sondern eine „neue Form der geistigen Einstellung“, nämlich Demut. Stegemann geht augenscheinlich ein gewisses Bewusstsein dafür ab, dass die Forderung nach Demut für Mehrheitsvertreter einen völlig anderen Klang hat als für Menschen, die gerade erst den Mut gefasst haben, für mehr Teilhabe und Sichtbarkeit zu kämpfen.
Mit anderen Worten: Wenn es ein lohnenswertes diskurspolitisches Projekt der autochthonen Mehrheitsgesellschaft gibt, der auch der Autor dieser Rezension angehört, dann vielleicht dieses: sich darüber klar zu werden, wie stark man in weiten Teilen noch zur dritten Kategorie von politischen Menschen gehört. Zu denen, die denken, sie seien schon Teil der Lösung, obwohl sie in Wahrheit noch Teil des Problems sind.
JENS-CHRISTIAN RABE
Wäre es nicht geboten, sich für
die stärksten Argumente seines
Gegners zu interessieren?
Bernd Stegemann:
Die Öffentlichkeit
und ihre Feinde.
Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2021.
384 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de