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Wie lassen sich Natur und Gesellschaft, Menschen und Nichtmenschen, Individuen und Kollektive zu einem neuen Gefüge zusammensetzen? Philippe Descola skizziert die Möglichkeiten einer neuen Ökologie der Beziehungen zwischen den Entitäten und zeigt, dass der Verzicht auf den westlichen Anthropozentrismus unabdingbar ist.

Produktbeschreibung
Wie lassen sich Natur und Gesellschaft, Menschen und Nichtmenschen, Individuen und Kollektive zu einem neuen Gefüge zusammensetzen? Philippe Descola skizziert die Möglichkeiten einer neuen Ökologie der Beziehungen zwischen den Entitäten und zeigt, dass der Verzicht auf den westlichen Anthropozentrismus unabdingbar ist.
Autorenporträt
Philippe Descola, geboren 1949 in Paris, ist Professor für Anthropologie, Schüler von Claude Levi Strauss und dessen Nachfolger am renommierten College de France. Er erhielt die Medaille d'argent des Centre nationale de la recherche scientifique (cnrs) und ist Ritter der Ehrenlegion. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch Jenseits von Natur und Kultur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2014

Warum die anderen anders sind
Der Philosoph Philippe Descola erklärt, warum das Begriffspaar Natur und Kultur sinnlos ist

Als Philippe Descola einmal auf die Idee kam, allein jagen zu gehen, verirrte er sich so orientierungslos im Dschungel, dass seine Rettung nur darin bestehen konnte, von einem Indianer kurz vor Sonnenuntergang wiedergefunden zu werden. Allein hätte er den Weg aus dem Wald in das Dorf, in dem er lebte, niemals gefunden. Denn der Wald war kein europäischer Forst, sondern der Urwald Amazoniens. Ein Urwald, in den die in ihm lebenden Angehörigen der indigenen Völker niemals allein gehen.

Ein Umstand, der Descola schon aufgefallen war, bevor er sich verirrte. Doch irgendwie wird in ihm diese Prägung aus einer anderen Welt wieder durchbrochen sein. In Frankreich, wo Descola geboren wurde und aufgewachsen ist, lernt jeder in der Schule jene Metapher von René Descartes, nach der man, wenn man sich im Wald verlaufen hat, nur lang genug stur geradeaus laufen müsse, um wieder herauszufinden. Was in Frankreich funktioniert und nicht nur die bekannte Metapher eines der Begründer des modernen abendländischen Rationalismus bildet, ist in den Wäldern Amazoniens buchstäblich ohne Bedeutung. Der Dschungel Amazoniens steht plastisch - und wenn man sich in ihm verlaufen hat auch drastisch - für die Existenz eines Außen des abendländischen Rationalismus. Eines Rationalismus, der deshalb natürlich keine universelle Gültigkeit beanspruchen kann, obwohl er es nach wie vor wie ganz selbstverständlich tut.

Die Feststellung der begrenzten Reichweite des abendländischen Rationalismus und der daraus folgenden Kosmologie ist eine der zentralen Aussagen von Descolas gerade auf Deutsch erschienenem Buch "Die Ökologie der Anderen". Es geht ihm in seinem sehr konzentrierten, aber immer gut lesbaren Durchgang durch die Geschichte der westlichen Wissenschaften um die Erledigung des Gegensatzes von Natur und Kultur, wie ihn Philosophie und Wissenschaft in der Nachfolge Descartes' etabliert haben. Die Natur ist für ihn kein vom sozialen Leben völlig getrennter Bereich mehr. Sie ist kein Bereich, den die Menschen zu verstehen und zu kontrollieren suchen und dessen Launen sie zuweilen ausgesetzt sind, der jedoch ein Feld autonomer Regelmäßigkeiten bildet, in dem Werte, Konventionen und Ideologien keinen Platz haben.

"Wo hört die Natur auf, wo fängt die Kultur an bei der Klimaerwärmung, bei der Verringerung der Ozonschicht, bei der Herstellung spezialisierter Zellen aus omnipotenten Zellen?", so fragt Descola nur rhetorisch. Die Frage hat keinen Sinn mehr. Die Angewohnheit der westlichen Welt, das Natürliche im Menschen und seiner Umwelt sehr klar vom Künstlichen darin zu unterscheiden, ist an ihr Ende gekommen. Die Praxis ergab schon auf anderen Kontinenten, zum Beispiel in China und in Japan, keinen Sinn. Dort ist die Idee der Natur unbekannt, und der menschliche Körper wird auch nicht als Zeichen der Seele und Nachbildung eines transzendenten Modells - früher als göttliche Schöpfung, heute als Genotyp - verstanden.

Auch deshalb, schreibt Descola, sei es, wenn es darum geht, die Veränderung der Idee der Natur und die wissenschaftlichen Entdeckungen zu verstehen, notwendig, den Blick über das europäische Denken und seine Geschichte hinaus zu erweitern. Das Gute an dieser Empfehlung ist, dass man Descolas Lebens- und Denkweg als genau diese Bewegung beschreiben kann, die man mit dem aktuellen Buch auch auf Deutsch lesend nachvollziehen kann. Descola hat an der École Normale Supérieure in Paris, dem Eliteausbildungsinstitut für französische Intellektuelle, Philosophie studiert, bis er zum Schüler des Ethnologen und Anthropologen Claude Lévi-Strauss wurde. Heute ist er dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl für die "Anthropologie der Natur" am Collège de France. Wie Lévi-Strauss suchte und fand Descola seine Initiierung als Ethnologe unter den Völkern Amazoniens.

Es gab und gibt immer noch gute Gründe, gerade in Amazonien nach dem Anderen zur westlichen Kultur zu suchen. Lévi-Strauss hatte die Indigenen dieser Region vom Status der Primitiven befreit, die angeblich auf einer von uns längst überwundenen früheren Kulturstufe stehengeblieben waren. Die indigenen Völker hatten eine genauso lange Geschichte hinter sich wie wir, und dass wir glaubten, sie hätten sich nicht verändert oder verändern wollen, das hatte einfach damit zu tun, dass wir keine Zeugnisse ihrer Geschichte haben. Sie haben in ihrer Geschichte einfach auf andere Sachen Wert gelegt als wir; und um an dieser Entscheidung festhalten zu können, haben sie sich, so Lévi-Strauss' Vorstellung, immer weiter in die Wälder zurückgezogen.

Deshalb gleicht Amazonien nicht Westafrika oder Südasien. Die amazonischen Völker sind nicht segmentiert, nicht nach Kasten und nicht nach Ordnungsprinzipien der Erobererstaaten neu zusammengesetzt worden. Sie sind nicht auseinandergerissen oder durch Sklavenhandel vermischt worden. Sie haben weder ein Nomadenleben am Rande endloser Handelswege geführt, noch haben sie strenge, auf Funktionsteilung beruhende politische Hierarchien kennengelernt; und vor allem sind sie nicht in den Bann der unwiderstehlich expandierenden Weltreligionen geraten. Sie waren und sind es teilweise heute noch: das Andere in jeder Form. Deshalb wollte Descola in einem völlig unerforschten Gebiet im Grenzbereich zwischen Ecuador und Peru im amazonischen Regenwald seine Forschungen durchführen.

Warum und wie es dazu kam, kann man in der Einleitung seines Forschungsberichts "Leben und Sterben in Amazonien" nachlesen, der wie sein Hauptwerk "Jenseits von Natur und Kultur" im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Schon diese dreißig Seiten lange Einleitung ist große Literatur wie Sigmund Freuds Fallstudie über den "kleinen Hans", der die Pferde im Wien der Jahrhundertwende neu sortiert und klassifiziert, oder wie Clifford Geertz' Essay zum Hahnenkampf auf Bali - Aufzeichnungen aus den "Zwischenzuständen" (Descola), in denen die Unterscheidung von Kultur und Natur schon immer sinnlos war.

"Die Grenzen der Zivilisation bieten selbst dem, der sich ihnen unvoreingenommen nähert, nur selten ein freundliches Gesicht", schreibt Descola im ersten Satz. In den trostlosen Siedlungen der fast unberührten Gegenden am Rand der Regenwälder spielt sich für Descola ein realer Grenzkonflikt von weltweiter Bedeutung ab. Hier ist seit einem Jahrhundert eine Handvoll kleiner Stämme dem Ansturm derer ausgesetzt, die sie vertreiben wollen, um sich den Wald einzuverleiben. Das sind elende, von inneren Gegensätzen gezeichnete Bauern auf der Suche nach einem Stückchen Land, aber auch mächtige Viehzüchter und Plantagenbesitzer, Gold- und Edelsteinsucher und multinationale Konzerne, die es auf Erdöl, Tropenhölzer und Bodenschätze abgesehen haben. Eine Konstellation also, die, wenn der Kampf weitergeht, keinen Zweifel daran lässt, wer ihn gewinnen wird.

Das Großartige an Descolas Denken und Schreiben ist aber, dass er genau diese Ausweglosigkeit mit einer sprachlichen Ruhe beschreibt, die, obwohl sie die Qualen, die hitzige, ungesunde Atmosphäre in jedem Satz spürbar macht, ohne jeden apokalyptischen Furor auskommt. Mit seinem Abtauchen in den Dschungel und in das Leben der Achuar-Indianer wird in jeder Einzelheit klar: Es gibt keine Dialektik von Natur und Kultur. Diese besonders in Deutschland durch Marx und Adorno so tief verbreitete Vorstellung, die selbst diejenigen annehmen, die weder mit Marx noch Adorno etwas am Hut haben, ist selbst ein Teil des Dilemmas. Den Regenwald und seine Bewohner rettet man nicht, indem man sie zum Schutzgebiet erklärt und sie damit aus der Kampfzone nimmt. Genauso wenig wie man den Wald rettet, wenn man ihn zur Zone der wirtschaftlichen Nutzung macht.

In beiden Fällen würde man vernichten, was man schützen will - wenn auch auf verschiedene Weisen; und nachwachsen wird er nicht, weil man den Regenwald aus tausend wissenschaftlich beschriebenen Gründen nicht zum Forst umfunktionieren kann. Die Lösung kann nur darin bestehen, die westlichen Vorstellungen von Natur und Kultur auf- und abzulösen, damit, so schreibt Descola, "die Organismen, die Werkzeuge, die Artefakte, die Gottheiten, die Geister, die technischen Verfahren nicht mehr einfach als ein Umfeld aufgefasst werden, als Ressourcen, als einschränkende Faktoren oder als Arbeitsmittel, sondern wirklich als Akteure, die in gegebenen Situationen mit den Menschen interagieren".

CORD RIECHELMANN

Philippe Descola: "Die Ökologie der Anderen. Die Anthropologie und die Frage der Natur". Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Matthes & Seitz, 131 Seiten, 19,90 Euro

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