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Im Januar 1948, kurz nach Abschluss des Promotionsverfahrens, beginnt Hans Blumenberg mit der Arbeit an seiner Habilitationsschrift. Sie wächst sich rasch zu einem monumentalen Projekt aus, das nicht weniger will, als den philosophischen Horizont der Moderne vor dem Hintergrund ihrer Krise zu vermessen. Diesen Anspruch löst Die ontologische Distanz zwar nicht ganz ein, aber mit der Verknüpfung von geschichtsphilosophischen Interessen und phänomenologischer Methode bereitet die Studie den Boden, auf dem Blumenbergs große bewusstseinshistorische Untersuchungen der folgenden Jahrzehnte…mehr

Produktbeschreibung
Im Januar 1948, kurz nach Abschluss des Promotionsverfahrens, beginnt Hans Blumenberg mit der Arbeit an seiner Habilitationsschrift. Sie wächst sich rasch zu einem monumentalen Projekt aus, das nicht weniger will, als den philosophischen Horizont der Moderne vor dem Hintergrund ihrer Krise zu vermessen. Diesen Anspruch löst Die ontologische Distanz zwar nicht ganz ein, aber mit der Verknüpfung von geschichtsphilosophischen Interessen und phänomenologischer Methode bereitet die Studie den Boden, auf dem Blumenbergs große bewusstseinshistorische Untersuchungen der folgenden Jahrzehnte gedeihen.

Mehr als siebzig Jahre nach der Niederschrift wird Die ontologische Distanz nun erstmals publiziert, unter anderem ergänzt um Materialien aus dem Nachlass. In seinem Nachwort rekonstruiert der Herausgeber die komplexe Entstehungsgeschichte des Werks, in der Blumenbergs prekäre Arbeitsbedingungen ebenso eine Rolle spielen wie seine Lektüre von Husserls nachgelassenen Texten und sein wachsender Widerstand gegen Heideggers Philosophie. Der Band macht eine wichtige Etappe von Blumenbergs Denkweg nachvollziehbar und schließt mit Blick auf das Frühwerk eine markante Lücke.
Autorenporträt
Hans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als ¿Halbjude¿. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe 'Poetik und Hermeneutik'. Nicola Zambon, geboren 1983, hat über Hans Blumenberg promoviert und ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin. Die ontologische Distanz ist nach Phänomenologische Schriften 1981-1988 und Realität und Realismus seine dritte Blumenberg-Edition im Suhrkamp Verlag.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2022

Verquere Neuzeit

Hans Blumenberg am Beginn seiner akademischen Laufbahn: die Habilitation von 1950

Von Helmut Mayer

Vom mehr oder weniger deutlichen Bewusstsein einer Krise, welche die Gegenwart erfüllt, schreibt 1950 ein junger deutscher Philosoph, dem es in den letzten Kriegsmonaten nur mit knapper Not gelungen war, der Einweisung ins Arbeitslager als "Halbjude" zu entgehen. Gleich darauf fällt ein Verweis auf die Diagnose des Nihilismus, womit ein gängiges Stichwort - auch auf philosophisch-geisteswissenschaftlichem Terrain - aufgegriffen ist. Die zeitgenössischen Verwendungen dieses Begriffs werden dann allerdings nicht direkt aufgenommen. Zu eng möchte sich der knapp dreißigjährige, gerade am Beginn seiner akademischen Laufbahn stehende Hans Blumenberg an sie nicht anschließen.

Es könnte nur ablenken von dem weiten Rückgriff, mit dem Blumenberg in seiner nun edierten Kieler Habilitationsschrift die konstatierte Krise zu erklären sucht. Denn die ist bei ihm nichts anderes als eine der Neuzeit, "die annihilatio des Wirklichkeitsbodens der Neuzeit im ganzen. Die Depotenzierung der Bindungen und Normen zeigt nur an, dass der Grund von Wirklichkeit, auf den ihre Verbindlichkeit bezogen ist, entzogen wurde."

Um solches Tieferlegen einer Zeitdiagnostik kommt Philosophie, die auf sich hält, vermutlich kaum herum. Zumindest dann nicht, wenn Hauptfiguren, an die sie sich kritisch hält, Husserl und Heidegger heißen. Im späten Husserl, der die transzendentale Phänomenologie mit ihrer Einklammerung der Welt als Arbeit an der finalen Einlösung eines Telos der abendländischen Geistesgeschichte verstand, sieht Blumenberg den konstatierten Verlust des neuzeitlichen Wirklichkeitsbodens zum deutlichsten philosophischen Ausdruck gebracht. Husserls "Krisis der europäischen Wissenschaft" wird zur "Krisis der Phänomenologie Husserls". Und Heidegger, dessen Daseinsanalytik Blumenberg als Revision ebendieser Phänomenologie liest, zeigt für ihn an, dass selbst auf dem Wege eines solch entschiedenen Umbaus kein Ausweg zu finden ist - nämlich aus einer die Neuzeit prägenden Verfehlung von Endlichkeit und Faktizität und damit unaufhebbarer Geschichtlichkeit des Menschen.

Eine Verfehlung, die Blumenberg mit Descartes verknüpft, der die Neuzeit auf ein Ideal sicherer, methodengeleiteter Erkenntnis verpflichtet habe - um den Preis einer "ontologischen Distanz", welche die Gegenstände solcher Erkenntnis tatsächlich zu Gegenständen macht. Husserl steigere den darin angelegten Weltverlust noch, während Heidegger diese Distanz zwar kassiert, aber bei einer Seinsgeschichte landet, gegen die sich Blumenberg schon in seiner Doktorarbeit in Stellung gebracht hatte.

Die Habilitationsschrift ist fraglos eine aufschlussreiche Etappe auf Blumenbergs Weg, und ihre Publikation füllt eine Lücke in dem durch andere Editionen aus dem Nachlass bereits gut nachvollziehbaren frühen intellektuellen Parcours. Die beiden exzellenten Darstellungen von Rüdiger Zill und Jürgen Goldstein, die vor zwei Jahren zu Blumenbergs hundertstem Geburtstag erschienen - und nicht zu vergessen: Kurt Flaschs große Studie über den Weg bis zur 1966 erschienenen "Legitimität der Neuzeit" -, hatten das bereits deutlich gemacht.

Zwar wird aus der an ihrem Gewissheitsideal "scheiternden" Neuzeit schließlich der Nachweis ihrer "Legitimität", aber das Motiv der Selbstbehauptung, mit der sie auf hochmittelalterliche theologische Entwicklungen reagiert habe, ist bereits präsent. Die groß zugeschnittenen Epochenfragen wird Blumenberg nicht aufgeben, aber er wird sie überwuchern lassen durch detailgenaue Interpretationen, die keine Spur mehr lassen von einer sachlich durch Descartes präsentierten Neuzeit. Die "ontologische Distanz" wird fallen gelassen, aber in der an ihrem Leitfaden entworfenen "Morphologie" der Weltverhältnisse bereiten sich die Überlegungen zu verschiedenen Wirklichkeitsbegriffen vor, an denen sich die - ebenfalls schon auftauchende - "Metakinese" geschichtlicher Horizonte fassen lässt.

All das bleibt höchst eigenwillig und wird es erst recht durch den Weg zum eigenen Stil, der die (leicht heideggernden) Vollmundigkeiten hinter sich lässt. Dass Blumenberg diese unter Zeitdruck entstandene Arbeit nicht zur Publikation überarbeitete, verwundert im Rückblick nicht. Was genau er im Sinn hatte, als er in sein Exemplar ein Zettelchen einfügte, auf dem unter einem Totenkopf zu lesen steht "Mit grosser Vorsicht zu geniessen", darüber lässt sich aber nur spekulieren.

Hans Blumenberg: "Die ontologische Distanz". Eine Untersuchung zur Krisis der philosophischen Grundlagen der Neuzeit.

Hrsg. von Nicola Zambon. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 378 S., geb., 38,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Es handelt sich um die Habilitationsschrift des knapp dreißigjährigen Philosophen. Er selbst hatte sie gar nicht zur Publikation vorgesehen und überarbeitet, merkt Rezensent Hermut Mayer an. Für ihn ist die Lektüre dennoch gewinnbringend. Sie stellt für ihn Kontinutäten im Werk Blumenbergs her. Auch damals schon ging es also um die "annihilatio des Wirklichkeitsbodens der Neuzeit im ganzen". Descartes, Husserl und Heidegger sind die Planeten, um die diese Schrift kreist. Um den Kontext zu ergründen empfiehlt Mayer Blumenberg-Monografien von Rüdiger Zill und Jürgen Goldstein und ganz besonders Kurt Flaschs große Studie über Blumenbergs Weg bis zur 1966 erschienenen "Legitimität der Neuzeit".

© Perlentaucher Medien GmbH
»Die Habilitationsschrift ist fraglos eine aufschlussreiche Etappe auf Blumenbergs Weg ...« Helmut Mayer Frankfurter Allgemeine Zeitung 20221126