Bernd Weiler bietet überraschende Einsichten, was hinter der Formel von der Fortschrittsgläubigkeit als der geistigen Signatur des 19. Jahrhunderts liegt: In einer spannenden wissenschaftsgeschichtlichen und wissenssoziologischen Rekonstruktion wird die fortschrittseuphorische »Gründerzeit« der modernen Anthropologie ab 1850 quellenreich nachgezeichnet und analysiert, wie die nordamerikanische Kulturanthropologie und die Wiener Schule der Ethnologie am Beginn des 20. Jahrhunderts fortschrittskritisch mit der Vorstellung von der »Kulturarmut der Wilden« brechen und ein neues Kapitel der Wissenschaftsgeschichte aufschlagen. Bernd Weilers Untersuchung ist eine Pflichtlektüre für alle, die die Entwicklung der Kultur- und Sozialwissenschaften verstehen wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2007Die Logik des Fremden
Auch geistiger Boden kann Erdbeben erleben, und die nachträgliche Vermessung der Folgen ist schwierig. So untersuchen zahlreiche Studien derzeit die Erschütterungen, die der Darwinismus der Wissenschaftslandschaft des neunzehnten Jahrhunderts zugefügt hat. Der Grazer Soziologe Bernd Weiler wählt in seiner umfangreichen Arbeit über "Die Ordnung des Fortschritts" einen Ausschnitt, der die Jahre 1854 bis 1871 zeigt. In diesen Jahren erfolgt das Auftreffen des naturwissenschaftlichen Evolutionsdenkens auf die anthropologische Forschung und Theoriebildung der Zeit. Die entstehenden Formen eines "Kultur-Evolutionismus" werden bei Weiler vorgestellt. Zwei exemplarische, aber sehr unterschiedliche "antievolutionistische" Positionen vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts setzt er dann dagegen: den relativistischen Ansatz des Kulturanthropologen Franz Boas sowie die auf zeitlose Werte abstellende Kulturtheorie des katholischen Ethnologen Wilhelm Schmidt. Das Entwicklungsdenken besteht auf zeitlicher Distanz zum kulturell Fremden - die Gegner des Evolutionismus betonen die Ungleichheit der Rahmenbedingungen und die Eigenlogik der fremden Kultur. Weilers materialreiche Arbeit versteht sich als Beitrag zur Geschichte der Fortschrittsidee. Das ist ein wenig hoch zu gegriffen. Weder ist sein Herangehen ideengeschichtlich, noch findet man zum Komplex Entwicklung/Evolution/Fortschritt eine theoretische Analyse. Ergiebiger ist das Buch, wenn man es als eng am Material entlanggeführtes Porträt einer turbulenten Epoche liest. Und als Seismogramm. An den Bruchkanten zwischen Geschichte und Evolutionismus entstehen die Verheißungen einer durchaus problematischen Wissenschaft: der Anthropologie. (Bernd Weiler: "Die Ordnung des Fortschritts". Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der "jungen" Anthropologie. transcript Verlag, Bielefeld 2007. 521 S., br., 36,80 [Euro].) pgg
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch geistiger Boden kann Erdbeben erleben, und die nachträgliche Vermessung der Folgen ist schwierig. So untersuchen zahlreiche Studien derzeit die Erschütterungen, die der Darwinismus der Wissenschaftslandschaft des neunzehnten Jahrhunderts zugefügt hat. Der Grazer Soziologe Bernd Weiler wählt in seiner umfangreichen Arbeit über "Die Ordnung des Fortschritts" einen Ausschnitt, der die Jahre 1854 bis 1871 zeigt. In diesen Jahren erfolgt das Auftreffen des naturwissenschaftlichen Evolutionsdenkens auf die anthropologische Forschung und Theoriebildung der Zeit. Die entstehenden Formen eines "Kultur-Evolutionismus" werden bei Weiler vorgestellt. Zwei exemplarische, aber sehr unterschiedliche "antievolutionistische" Positionen vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts setzt er dann dagegen: den relativistischen Ansatz des Kulturanthropologen Franz Boas sowie die auf zeitlose Werte abstellende Kulturtheorie des katholischen Ethnologen Wilhelm Schmidt. Das Entwicklungsdenken besteht auf zeitlicher Distanz zum kulturell Fremden - die Gegner des Evolutionismus betonen die Ungleichheit der Rahmenbedingungen und die Eigenlogik der fremden Kultur. Weilers materialreiche Arbeit versteht sich als Beitrag zur Geschichte der Fortschrittsidee. Das ist ein wenig hoch zu gegriffen. Weder ist sein Herangehen ideengeschichtlich, noch findet man zum Komplex Entwicklung/Evolution/Fortschritt eine theoretische Analyse. Ergiebiger ist das Buch, wenn man es als eng am Material entlanggeführtes Porträt einer turbulenten Epoche liest. Und als Seismogramm. An den Bruchkanten zwischen Geschichte und Evolutionismus entstehen die Verheißungen einer durchaus problematischen Wissenschaft: der Anthropologie. (Bernd Weiler: "Die Ordnung des Fortschritts". Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der "jungen" Anthropologie. transcript Verlag, Bielefeld 2007. 521 S., br., 36,80 [Euro].) pgg
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[Das Buch] ist trotz seines hohen wissenschaftlichen Anspruchs und seiner großen Seitenzahl kurzweilig, weil es eine Fülle informativer Details zu den wissenssoziologischen und gesellschaftspolitischen Hintergründen der damaligen Fortschrittseuphorie liefert.«
Marie-France Chevron, Sociologia Internationalis, 1/2 (2007) 20080601
Marie-France Chevron, Sociologia Internationalis, 1/2 (2007) 20080601