»Ich will dem Leben die leuchtende Seite zurückgeben - ungeachtet des vorherrschenden Zynismus«. Felwine Sarr
Felwine Sarr hat in seinen Büchern über Afrikas Zukunft nachgedacht (u.a. in »Afrotopia«) und weltweit für breite Debatten gesorgt. Nun hat er seinen ersten Roman geschrieben.
Die Zwillingsbrüder Fodé und Bouhel wachsen im Senegal auf und sind auf der Suche nach ihrem Selbst. Fodé ist Schreiner, er führt ein traditionelles Leben in seiner Heimat und folgt seiner spirituellen Berufung. Bouhel entscheidet sich für die Literatur und die Musik. Er studiert in Frankreich und findet in der Liebe mit Ulga, einer polnische Studentin, seine Erfüllung. Doch ein Unglück versperrt ihren gemeinsamen Weg in die Zukunft.
Erst Jahre später finden die Brüder wieder zusammen. Felwine Sarr nimmt uns mit auf ihre Suche, ohne ihre Entscheidungen gegeneinander auszuspielen. »Die Orte, an denen meine Träume wohnen« ist ein philosophischer, poetischer und zutiefst menschlicher Roman.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Felwine Sarr hat in seinen Büchern über Afrikas Zukunft nachgedacht (u.a. in »Afrotopia«) und weltweit für breite Debatten gesorgt. Nun hat er seinen ersten Roman geschrieben.
Die Zwillingsbrüder Fodé und Bouhel wachsen im Senegal auf und sind auf der Suche nach ihrem Selbst. Fodé ist Schreiner, er führt ein traditionelles Leben in seiner Heimat und folgt seiner spirituellen Berufung. Bouhel entscheidet sich für die Literatur und die Musik. Er studiert in Frankreich und findet in der Liebe mit Ulga, einer polnische Studentin, seine Erfüllung. Doch ein Unglück versperrt ihren gemeinsamen Weg in die Zukunft.
Erst Jahre später finden die Brüder wieder zusammen. Felwine Sarr nimmt uns mit auf ihre Suche, ohne ihre Entscheidungen gegeneinander auszuspielen. »Die Orte, an denen meine Träume wohnen« ist ein philosophischer, poetischer und zutiefst menschlicher Roman.
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Rezensent Jörg Häntzschel ist ratlos angesichts von Felwine Sarrs neuem Roman, der ihn von fern an "Afrotopia" erinnert, aber dann den unterschiedlichen Lebenswege zweier Brüder aus dem Senegal folgt, um … Ja, um was? Häntzschel ist sich nicht so sicher, was der Autor eigentlich bezweckt mit seiner in kurzen Gegenschnitten erzählten Geschichte. Will er die spirituellen Traditionen Afrikas gegen das moderne Leben in Europa ausspielen? Die langwierigen Schilderungen von Riten verweisen darauf, glaubt Häntzschel. Was das kulturelle Erbe mit der Gegenwart zu tun hat, erklärt der oft "tonlosund anämisch" wirkende Text aber nicht, so der Rezensent. So richtig warm wird der Text für Häntzschel erst gegen Ende, als einer der Brüder sich verliebt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Der Roman schafft es zu zeigen, wie sowohl rationales, aber auch spirituelles, metaphysisches Wissen jahrhundertelang nebeneinander existiert und auch weiter wirkt, egal auf welchem Kontinent. Miriam Zeh Deutschlandfunk Kultur Lesart 20230526
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Schweitzer ist von Felwine Sarrs zweitem Roman enttäuscht. Dagegen, dass Sarr sein "postkoloniales Interesse" nun auch in Romanform bringt, hat der Kritiker gar nichts einzuwenden. Und auch die Geschichte um ein ungleiches Zwillingspaar aus dem Senegal ist von der Grundidee her nicht schlecht, meint Schweitzer: Fodé bleibt in seinem afrikanischen Heimatdorf und widmet sich der Aufrechterhaltung spiritueller Traditionen, Bouhel studiert Semiotik in Frankreich und bringt in Notwehr den gewalttätigen Bruder seiner Freundin um. Fodé versucht daraufhin, seinen Bruder auch mit Hilfe spiritueller Riten aus der Haft zu befreien, resümiert der Rezensent. Eine überzeugende Verbindung der Handlungsstränge vermisst Schweitzer allerdings ebenso wie Pointen und sprachliche Abwechslung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2023Andere Seite
der Welt
Felwine Sarrs Roman über
zwei Brüder, die der
postkoloniale Konflikt entzweit
Mit seinem 2016 erschienenen Essay „Afrotopia“ wollte der aus dem Senegal stammende Schriftsteller und Ökonom Felwine Sarr seinen Kontinent aufrütteln. Der Kolonialismus sei lange vorbei, doch die geistige und kulturelle Unabhängigkeit habe Afrika nie errungen. Die koloniale Herrschaft sei durch andere Formen der Unmündigkeit abgelöst worden. Afrika müsse sich auf seine eigenen kulturellen Stärken besinnen statt auf die abgewirtschafteten Mythen und Doktrinen des Westens, dann stehe ihm mit dem Reichtum seiner Bodenschätze und mit seiner jungen Bevölkerung eine große Zukunft bevor. Der Essay, und der Bericht zur Restitution afrikanischen Kulturerbes, den er mit Bénédicte Savoy für Frankreichs Präsident Emmanuel Macron geschrieben hat, haben Sarr zu einem der bekanntesten postkolonialen Denker gemacht.
Man erinnert sich immer wieder an „Afrotopia“, wenn man Sarrs eben erschienenen Roman „Die Orte, an denen meine Träume wohnen“ liest. Vor allem anfangs wirkt der Roman wie eine Illustration der afrikanischen Selbstbesinnung, die er in dem Essay beschwört. Doch der Eindruck täuscht.
Sarr erzählt in „Die Orte“ von Zwillingsbrüdern aus dem Senegal, die konträre Lebenswege gehen. Der eine, Bouhel, studiert in Frankreich Semiotik. Der andere, Fodé, blieb in seinem Dorf, ist Tischler, wird den Beruf aber bald nicht mehr ausüben: Er wird zum „Kumax“, zum „Hüter des Heiligtums“ ernannt und ist zuständig für die Initiation der Jugendlichen des Orts.
Hier also die Moderne, dort die Tradition, gegeneinandergeschnitten in kurzen, aus laufend wechselnden Perspektiven erzählten Kapiteln. Oder ist es genau andersherum? Ist gerade die Vorstellung altmodisch, begabte junge Afrikaner müssten nach Europa gehen, um etwas aus sich zu machen. Liegt die Zukunft in der Wiederentdeckung afrikanischer Mythen und Rituale, so wie es die „Black Panther“-Filme vorgeführt haben? Sarr scheint so etwas vorzuschweben, sonst würde er die Verwandlung des Tischlers Fodé zur spirituellen Autorität und die dreimonatige Initiation der jungen Männer nicht mit so viel Akribie schildern.
Doch am Leser geht dieser Aufwand großenteils vorbei. Die Zubereitung der Speisen, die Ausführung der Riten, die Prüfungen, der sich die Jugendlichen unterziehen, sie wirken wie hinter Glas. Was ihre Bedeutung ist, welchen Reim wir uns darauf machen sollen, bleibt unklar. Ebenso übrigens, was der Erzähler von den gewaltsamen Praktiken dieser Initiation hält, den Schlägen und Drohungen. Auch traditionelle Misshandlung ist Misshandlung.
Vor dem Leser, so scheint es, hat sich schon Sarr mit diesen Passagen geplagt. Wir wissen, dass Fodés Frau bei einer NGO arbeitet, wissen, dass wir uns im Senegal der Neunzigerjahre befinden, dennoch schiebt sich immer wieder das Bild eines außerzeitlichen, idealisierten, präkolonialen Afrikas in den Vordergrund. Doch worin die Aktualität dieses kulturellen und spirituellen Erbes liegt, bleibt unausgesprochen.
Gelöster erzählt Sarr von Bouhels Leben als auswärtigem Student in der französischen Provinz. Doch auch diese Kapitel wirken anfangs seltsam tonlos und anämisch. Mal liest Bouhel Roman Jakobson, mal blättert er noch rasch durch Roland Barthes, um die Prüfung zu bestehen, von der seine Aufenthaltserlaubnis abhängt. Nebenbei schuftet er im Akkord auf der Kirschplantage, weil das Stipendium für sein Leben nicht reicht.
Ein Roman wird aus Sarrs Text erst, als Bouhel in der Mensa-Schlange die polnische Mitstudentin Ulga kennenlernt und mit ihr eine voller Zärtlichkeit und Wärme geschilderte Liebe erlebt. Doch Sarr hat offenbar mehr vor damit: Während Fodé im Senegal Beschneidungsriten ausführt, weist Ulga Bouhel beim Besuch in Warschau in polnische Osterriten ein. Der tragische Unfall, der das Ende der Liebesgeschichte einleitet, führt Bouhel ins Kloster. Sucht Sarr nach den Gemeinsamkeiten zwischen katholischer und afrikanischer Spiritualität? Und wenn ja, worin besteht sie und was folgt daraus? Wie vieles andere bleibt das unbeantwortet.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Schriftsteller, Musiker und derzeit Literatur-Professor: Felwine Sarr.
Foto: AFP
Felwine Sarr: Die Orte, an denen meine Träume wohnen. Aus dem
Französischen von Doris Heinemann. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 192 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Welt
Felwine Sarrs Roman über
zwei Brüder, die der
postkoloniale Konflikt entzweit
Mit seinem 2016 erschienenen Essay „Afrotopia“ wollte der aus dem Senegal stammende Schriftsteller und Ökonom Felwine Sarr seinen Kontinent aufrütteln. Der Kolonialismus sei lange vorbei, doch die geistige und kulturelle Unabhängigkeit habe Afrika nie errungen. Die koloniale Herrschaft sei durch andere Formen der Unmündigkeit abgelöst worden. Afrika müsse sich auf seine eigenen kulturellen Stärken besinnen statt auf die abgewirtschafteten Mythen und Doktrinen des Westens, dann stehe ihm mit dem Reichtum seiner Bodenschätze und mit seiner jungen Bevölkerung eine große Zukunft bevor. Der Essay, und der Bericht zur Restitution afrikanischen Kulturerbes, den er mit Bénédicte Savoy für Frankreichs Präsident Emmanuel Macron geschrieben hat, haben Sarr zu einem der bekanntesten postkolonialen Denker gemacht.
Man erinnert sich immer wieder an „Afrotopia“, wenn man Sarrs eben erschienenen Roman „Die Orte, an denen meine Träume wohnen“ liest. Vor allem anfangs wirkt der Roman wie eine Illustration der afrikanischen Selbstbesinnung, die er in dem Essay beschwört. Doch der Eindruck täuscht.
Sarr erzählt in „Die Orte“ von Zwillingsbrüdern aus dem Senegal, die konträre Lebenswege gehen. Der eine, Bouhel, studiert in Frankreich Semiotik. Der andere, Fodé, blieb in seinem Dorf, ist Tischler, wird den Beruf aber bald nicht mehr ausüben: Er wird zum „Kumax“, zum „Hüter des Heiligtums“ ernannt und ist zuständig für die Initiation der Jugendlichen des Orts.
Hier also die Moderne, dort die Tradition, gegeneinandergeschnitten in kurzen, aus laufend wechselnden Perspektiven erzählten Kapiteln. Oder ist es genau andersherum? Ist gerade die Vorstellung altmodisch, begabte junge Afrikaner müssten nach Europa gehen, um etwas aus sich zu machen. Liegt die Zukunft in der Wiederentdeckung afrikanischer Mythen und Rituale, so wie es die „Black Panther“-Filme vorgeführt haben? Sarr scheint so etwas vorzuschweben, sonst würde er die Verwandlung des Tischlers Fodé zur spirituellen Autorität und die dreimonatige Initiation der jungen Männer nicht mit so viel Akribie schildern.
Doch am Leser geht dieser Aufwand großenteils vorbei. Die Zubereitung der Speisen, die Ausführung der Riten, die Prüfungen, der sich die Jugendlichen unterziehen, sie wirken wie hinter Glas. Was ihre Bedeutung ist, welchen Reim wir uns darauf machen sollen, bleibt unklar. Ebenso übrigens, was der Erzähler von den gewaltsamen Praktiken dieser Initiation hält, den Schlägen und Drohungen. Auch traditionelle Misshandlung ist Misshandlung.
Vor dem Leser, so scheint es, hat sich schon Sarr mit diesen Passagen geplagt. Wir wissen, dass Fodés Frau bei einer NGO arbeitet, wissen, dass wir uns im Senegal der Neunzigerjahre befinden, dennoch schiebt sich immer wieder das Bild eines außerzeitlichen, idealisierten, präkolonialen Afrikas in den Vordergrund. Doch worin die Aktualität dieses kulturellen und spirituellen Erbes liegt, bleibt unausgesprochen.
Gelöster erzählt Sarr von Bouhels Leben als auswärtigem Student in der französischen Provinz. Doch auch diese Kapitel wirken anfangs seltsam tonlos und anämisch. Mal liest Bouhel Roman Jakobson, mal blättert er noch rasch durch Roland Barthes, um die Prüfung zu bestehen, von der seine Aufenthaltserlaubnis abhängt. Nebenbei schuftet er im Akkord auf der Kirschplantage, weil das Stipendium für sein Leben nicht reicht.
Ein Roman wird aus Sarrs Text erst, als Bouhel in der Mensa-Schlange die polnische Mitstudentin Ulga kennenlernt und mit ihr eine voller Zärtlichkeit und Wärme geschilderte Liebe erlebt. Doch Sarr hat offenbar mehr vor damit: Während Fodé im Senegal Beschneidungsriten ausführt, weist Ulga Bouhel beim Besuch in Warschau in polnische Osterriten ein. Der tragische Unfall, der das Ende der Liebesgeschichte einleitet, führt Bouhel ins Kloster. Sucht Sarr nach den Gemeinsamkeiten zwischen katholischer und afrikanischer Spiritualität? Und wenn ja, worin besteht sie und was folgt daraus? Wie vieles andere bleibt das unbeantwortet.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Schriftsteller, Musiker und derzeit Literatur-Professor: Felwine Sarr.
Foto: AFP
Felwine Sarr: Die Orte, an denen meine Träume wohnen. Aus dem
Französischen von Doris Heinemann. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 192 Seiten, 24 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2023Die Last des Erbes
Felwine Sarr versucht sich an einem Roman
Der senegalesische Ökonom Felwine Sarr hat sich in der europäischen Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren insbesondere durch seine Beteiligung an den Debatten um die Restitution geraubter Kulturgüter hervorgetan. Gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy verfasste Sarr einen vom französischen Präsidenten Macron in Auftrag gegebenen "Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter". Nun hat sich der auch dem deutschsprachigen Publikum als Verfasser eines visionär ausgreifenden, das Eigenrecht nicht westlicher Traditionen einklagenden Sachbuchs zur Zukunft des afrikanischen Kontinents bekannte Autor an die Überführung seines postkolonialen Interesses in einen Roman gewagt.
Sarr stützt sich dafür auf das literaturgeschichtlich nicht gerade selten beschriebene Motiv zweier ungleicher Brüder: Während Fodé sich für den Verbleib in seinem afrikanischen Heimatland entscheidet und einen großen Teil seines Alltags der Aufrechterhaltung ritueller Initiationsriten der heimischen Dorfgemeinschaft widmet, drängt es den gegenüber den lokalen Usancen skeptischen Bouhel zur Migration nach Frankreich, um dort ein Studium der Semiologie aufzunehmen. Fodé wurde in den letzten Jahren vor dem Tod des "Kumax" Ngof in das arkane Wissen des Beschneidungsritus eingeweiht und sieht sich nun mit der psychischen Last konfrontiert, die die Fortführung dieses Erbes bedeuten kann. Bouhel hingegen trifft im studentischen Milieu der Stadt Orléans auf die aus Warschau stammende Ulga, mit der sich eine anfangs intensive, zum Ende hin jedoch scheiternde Liebesbeziehung entwickelt.
Es ist das Verwandtschaftsverhältnis des Zwillingspaars, das dessen in äußerst kurzen Kapiteln geschilderte, nicht bloß geographisch, sondern kulturell disparate Lebensumstände miteinander verbinden soll. Dabei kommt jedoch der Beziehung der beiden eine für den Handlungsverlauf allenfalls marginale, über weite Strecken eher ausgeblendete und gegen Ende hin gänzlich konstruiert wirkende Rolle zu.
An diesem Kreuzungspunkt zum Ende seines Romans versucht Fodé, seinen zu Unrecht in französischer Untersuchungshaft sitzenden Bruder aus dieser misslichen Lage zu befreien. Dieser sitzt ein, weil er seine Freundin gegenüber ihrem gewalttätig gewordenen Bruder verteidigte, diesen dabei jedoch nicht nur verletzte, sondern umbrachte. Fodé rät der Freundin am Telefon, ein Samenkorn vor dem Gefängnis zu pflanzen, um damit auf die Freilassung seines Bruders hinzuwirken. Die junge Frau nimmt diese lokalafrikanischen Wissensbeständen entstammende Anweisung mit den Worten auf: "Meine wissenschaftliche Seite ließ Unerklärtes zu. Schließlich bildet das, was wir nicht wissen, den größten und fruchtbarsten Raum."
Die Stelle steht exemplarisch für das verspielte Potential, das die motivische Ausgangskonstellation des Buches an Widersprüchen und Spannungen hätte hervortreiben können, wenn die Handlungsstränge gekonnter miteinander verschränkt wären und die Sprache mit etwas anderem als kraft- und gestaltlosen, oftmals in parataktischer Einfachheit gehaltenen Registrier- und Vermerksätzen überzeugen könnte. Auch die Perspektivwechsel zwischen Fodé, Bouhel und ihren Frauen in den einzelnen Kapiteln erzeugen durch die Gleichförmigkeit des sprachlichen Ausdrucks eher Verwirrung aufseiten des Lesers als eine Vervielfältigung der dargebotenen Szenerie.
Angesprochen ist mit dieser Situation ebenfalls das für den Roman zentrale Thema der Spiritualität, das als weiterer Versuch gewertet werden kann, die Lebenswelten der beiden Brüder zu parallelisieren: Fodés Verantwortlichkeiten für die dörfliche Initiationszeremonie "Ndut", die ihm vom aus dem Jenseits zu ihm sprechenden Ngof übermittelt werden, auf der einen Seite, Bouhels Versuche, in der Begegnung mit einem Mönch im Kloster Entlastung vom Alltag zu finden, auf der anderen Seite. Für sich genommen fehlt beiden Erzählungen die Pointe, und so bleibt, wie so häufig in diesem Roman, am Ende die unbeantwortete Frage nach einheitsstiftendem Zusammenhang. TOBIAS SCHWEITZER
Felwine Sarr:
"Die Orte, an denen meine Träume
wohnen". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 192 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Felwine Sarr versucht sich an einem Roman
Der senegalesische Ökonom Felwine Sarr hat sich in der europäischen Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren insbesondere durch seine Beteiligung an den Debatten um die Restitution geraubter Kulturgüter hervorgetan. Gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy verfasste Sarr einen vom französischen Präsidenten Macron in Auftrag gegebenen "Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter". Nun hat sich der auch dem deutschsprachigen Publikum als Verfasser eines visionär ausgreifenden, das Eigenrecht nicht westlicher Traditionen einklagenden Sachbuchs zur Zukunft des afrikanischen Kontinents bekannte Autor an die Überführung seines postkolonialen Interesses in einen Roman gewagt.
Sarr stützt sich dafür auf das literaturgeschichtlich nicht gerade selten beschriebene Motiv zweier ungleicher Brüder: Während Fodé sich für den Verbleib in seinem afrikanischen Heimatland entscheidet und einen großen Teil seines Alltags der Aufrechterhaltung ritueller Initiationsriten der heimischen Dorfgemeinschaft widmet, drängt es den gegenüber den lokalen Usancen skeptischen Bouhel zur Migration nach Frankreich, um dort ein Studium der Semiologie aufzunehmen. Fodé wurde in den letzten Jahren vor dem Tod des "Kumax" Ngof in das arkane Wissen des Beschneidungsritus eingeweiht und sieht sich nun mit der psychischen Last konfrontiert, die die Fortführung dieses Erbes bedeuten kann. Bouhel hingegen trifft im studentischen Milieu der Stadt Orléans auf die aus Warschau stammende Ulga, mit der sich eine anfangs intensive, zum Ende hin jedoch scheiternde Liebesbeziehung entwickelt.
Es ist das Verwandtschaftsverhältnis des Zwillingspaars, das dessen in äußerst kurzen Kapiteln geschilderte, nicht bloß geographisch, sondern kulturell disparate Lebensumstände miteinander verbinden soll. Dabei kommt jedoch der Beziehung der beiden eine für den Handlungsverlauf allenfalls marginale, über weite Strecken eher ausgeblendete und gegen Ende hin gänzlich konstruiert wirkende Rolle zu.
An diesem Kreuzungspunkt zum Ende seines Romans versucht Fodé, seinen zu Unrecht in französischer Untersuchungshaft sitzenden Bruder aus dieser misslichen Lage zu befreien. Dieser sitzt ein, weil er seine Freundin gegenüber ihrem gewalttätig gewordenen Bruder verteidigte, diesen dabei jedoch nicht nur verletzte, sondern umbrachte. Fodé rät der Freundin am Telefon, ein Samenkorn vor dem Gefängnis zu pflanzen, um damit auf die Freilassung seines Bruders hinzuwirken. Die junge Frau nimmt diese lokalafrikanischen Wissensbeständen entstammende Anweisung mit den Worten auf: "Meine wissenschaftliche Seite ließ Unerklärtes zu. Schließlich bildet das, was wir nicht wissen, den größten und fruchtbarsten Raum."
Die Stelle steht exemplarisch für das verspielte Potential, das die motivische Ausgangskonstellation des Buches an Widersprüchen und Spannungen hätte hervortreiben können, wenn die Handlungsstränge gekonnter miteinander verschränkt wären und die Sprache mit etwas anderem als kraft- und gestaltlosen, oftmals in parataktischer Einfachheit gehaltenen Registrier- und Vermerksätzen überzeugen könnte. Auch die Perspektivwechsel zwischen Fodé, Bouhel und ihren Frauen in den einzelnen Kapiteln erzeugen durch die Gleichförmigkeit des sprachlichen Ausdrucks eher Verwirrung aufseiten des Lesers als eine Vervielfältigung der dargebotenen Szenerie.
Angesprochen ist mit dieser Situation ebenfalls das für den Roman zentrale Thema der Spiritualität, das als weiterer Versuch gewertet werden kann, die Lebenswelten der beiden Brüder zu parallelisieren: Fodés Verantwortlichkeiten für die dörfliche Initiationszeremonie "Ndut", die ihm vom aus dem Jenseits zu ihm sprechenden Ngof übermittelt werden, auf der einen Seite, Bouhels Versuche, in der Begegnung mit einem Mönch im Kloster Entlastung vom Alltag zu finden, auf der anderen Seite. Für sich genommen fehlt beiden Erzählungen die Pointe, und so bleibt, wie so häufig in diesem Roman, am Ende die unbeantwortete Frage nach einheitsstiftendem Zusammenhang. TOBIAS SCHWEITZER
Felwine Sarr:
"Die Orte, an denen meine Träume
wohnen". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 192 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main