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Produktdetails
  • Verlag: Propyläen
  • Seitenzahl: 447
  • Abmessung: 38mm x 146mm x 220mm
  • Gewicht: 698g
  • ISBN-13: 9783549071472
  • ISBN-10: 3549071477
  • Artikelnr.: 09784414
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Allein, ich weiß nicht, was soll es bedeuten
David Kertzer nimmt die Quellen über den vermeintlichen Antisemitismus der Päpste nur wörtlich / Von Thomas Brechenmacher

Im Jahre 1997 veröffentlichte der amerikanische Soziologe David Kertzer sein Buch über den "Fall Mortara", jene die liberale Öffentlichkeit 1858 so stark erregende Affäre um einen getauften jüdischen Jungen, den Papst Pius IX. seinen Eltern wegnehmen und katholisch erziehen ließ. In einem jetzt erschienenen zweiten Werk zu dieser Thematik bettet Kertzer die Affäre Mortara in den Gesamtzusammenhang päpstlicher "Judenpolitik" zwischen dem ausgehenden achtzehnten und dem ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ein. Der Titel läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und formuliert zugleich die Kernthese des Buches: "Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus".

Kertzer nutzte die Gunst der Stunde und griff schnell auf ein reichhaltiges Quellenmaterial zu, als der Vatikan 1998 das Archiv der Glaubenskongregation, der "Inquisition", öffnete; auch weitere vatikanische und römische Archive zog er für seine Untersuchung heran. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildete die Frage nach der historischen Tiefendimension des Verhaltens der Päpste angesichts des modernen Antisemitismus und insbesondere der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung. Sein Ergebnis: Päpste und katholische Kirche tragen selbst eine maßgebliche Verantwortung für beides; sie wurden schuldig durch ihre Politik gegenüber Juden und Judentum, besonders während des neunzehnten Jahrhunderts. Die Bemühungen des amtierenden Papstes und der zuständigen kurialen Kommissionen, diese Schuld anläßlich des Heiligen Jahres 2000 historisch aufzuarbeiten und zu bekennen, seien unzulänglich gewesen.

Kertzers Anliegen darf sicherlich als berechtigt, das Resultat seiner Arbeit jedoch muß als höchst fragwürdig gelten. Sein Buch steckt voller Halbheiten, Verkürzungen, Ungenauigkeiten, Fehler, bewegt sich in einer Weise an der Oberfläche, die der - von Kertzer selbst erkannten - Komplexität der Thematik schlichtweg nicht angemessen ist. Kertzer hat Quellen studiert, gegen Juden gerichtete Äußerungen und Handlungen zusammengetragen und dieses Materialsammelsurium ohne jede erkennbare analytische Kategorie zum üblen Nährboden des europäischen Antisemitismus stilisiert. Auf eine Auseinandersetzung mit theoretischen Konzepten über Wesen und Genese dieses Antisemitismus läßt er sich nicht ansatzweise ein. In seiner positivistisch-selektiven Naivität fällt es ihm folgerichtig nicht schwer, eine wohlbegründete begriffliche Scheidung ohne weitere Diskussion einfach zu ignorieren und Antijudaismus und Antisemitismus ohne weiteres in einen Topf zu werfen.

Auch Quellenkritik unterbleibt durchweg; Kertzer begnügt sich damit, "neue" Quellen gefunden zu haben. Doch gerade das vielfältige Material des Archivs der Glaubenskongregation hätte vorgestellt und kritisch befragt werden müssen: Wer spricht jeweils, welche Relevanz besitzt das Gesprochene? Welche Ausschnitte werden präsentiert, und warum? Wer das umfangreiche Quellenkorpus dieses Archivs zur Geschichte der Juden im Kirchenstaat kennt, weiß - und kann es anhand von Kertzers Anmerkungsapparat auch überprüfen -, daß nur ein Bruchteil davon bearbeitet wurde. Nach welchen Gesichtspunkten die Auswahl stattfand, bleibt durchweg dunkel. Passend zur begrifflichen Simplizität verweigert Kertzers Buch jegliche inhaltliche Systematik. In drei Großkapiteln schlägt es einen Bogen von der Restauration des Kirchenstaates 1814/15 bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges und setzt vorwiegend solche Schlaglichter, die geeignet sind, Kertzers These vom tiefeingewurzelten päpstlich-kirchlichen Antisemitismus zu untermauern: Zwangstaufe, Ghetto, Ritualmord, katholische Presse, Antisemitismus in Frankreich, Österreich und Polen, Rassenideologie, Nationalsozialismus.

Eine Schlüsselfunktion im ersten Teil des Buches schreibt Kertzer dem Heiligen Offizium, dem Vorgänger der heutigen römischen Glaubenskongregation, zu, erkennt er in dieser Behörde doch die treibende Kraft einer ausgefeilten Unterdrückungspolitik gegenüber den jüdischen Untertanen des Papstes. Das aber lehren die Quellen gerade nicht. Vielmehr dokumentieren sie eindrucksvoll, daß eine strategisch orientierte Politik den Kardinälen und Prälaten niemals gelungen ist. Kertzer unterscheidet nicht zwischen der Rolle, die das Heilige Offizium gerne gespielt hätte, und derjenigen, die es gespielt hat. Tatsächlich ist die Art der "Judenpolitik" nur ein Symptom der generellen Strukturkrise des Stato Pontificio. Nicht in generellem Antisemitismus liegt die darzustellende Problematik, sondern in der eigentlich seit dem sechzehnten Jahrhundert andauernden Unfähigkeit der Kongregationen, die Stellung der jüdischen Untertanen dauerhaft und grundlegend zu regeln. Eingesponnen in verwirrende Kompetenzkämpfe, brachten sie kaum mehr zustande als tönende Verordnungen.

Wer stets Ideologie und tatsächliches Handeln verwechselt, kann vergangene Wirklichkeit nicht adäquat erfassen; die Notwendigkeit, diese Sphären zu trennen, hätten Kertzer die Quellen vermitteln müssen. Zweifellos enthielt das Edikt Pius' VI. von 1775 eine Vielzahl grausamer Bestimmungen; aber das war ein verzweifelter Rundumschlag aus der Defensive. Wieviel wurde davon denn umgesetzt? Die Realität sah gründlich anders aus.

Offensichtlich freute sich Kertzer so sehr über seine Archivfunde, daß er darüber vergaß, die reiche Forschung zu dieser Thematik in mehr als nur zufällig zu nennender Weise wahrzunehmen. Wer kein einziges der gerade sozialgeschichtlich bahnbrechenden Werke Attilio Milanos erwähnt, muß natürlich zu der Behauptung gelangen, Abraham Berliners zweifellos ehrwürdige "Geschichte der Juden in Rom" von 1893 sei "nach wie vor das beste Werk zu diesem Thema". Kirchenrechtlich und allgemein rechtshistorisch zeigt sich Kertzer völlig unbeschlagen; doch dieses Segment, aufbereitet von Vittore Colorni, ist von zentraler Bedeutung für denjenigen, der die rechtliche Stellung der Juden in den verschiedensten Staaten Italiens differenzierter erfassen will als über das Schlagwort "Antisemitismus". Gleiches gilt für die wichtigen Abhandlungen, zum Beispiel Christoph Webers, zu Struktur und Funktionsweise des Kirchenstaates. Wie kann man über "Anormalität" gegenüber den jüdischen Untertanen urteilen, ohne die "Normalität" dieses Staatswesens zu begreifen?

Unbenutzt bleiben die achtbändige Quellensammlung Shlomo Simonsohns sowie die meisten Werke Kenneth Stows über den Heiligen Stuhl und die Juden im sechzehnten Jahrhundert, jener Epoche der Weichenstellungen für die gesamte weitere Geschichte des Verhältnisses von Päpsten und Juden. Allenfalls fragmentarisch erfaßt Kertzer die neuere wie ältere italienische Literatur, blendet vor allem eine fünfzigjährige große Forschungstradition zum jüdischen Leben in Italien, wie sie sich in der Zeitschrift "La Rassegna Mensile di Israel" spiegelt, nahezu vollständig aus. Natürlich fällt es auf diese Weise erheblich leichter, das eigene Werk als Pionierleistung zu plazieren und den Eindruck zu erwecken, über die Juden im Kirchenstaat während des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts sei bisher nur wenig gearbeitet worden. Daß Kertzer schließlich zu Pius XII. zwar Cornwells Zerrbild von "Hitler's Pope", nicht aber das jüngste Werk Pierre Blets eingefallen ist, fügt sich in diesen Zusammenhang ein.

Was helfen all die schönen Archivfunde, wenn die Basis fehlt, sie zu verstehen? Die Juden des Kirchenstaates lebten 1775 "streng isoliert in acht Ghettos": Unsinn. Mindestens ein Drittel der etwa 12000 Juden siedelte gänzlich frei in den über hundert Kleinstädten und auf dem Lande. Von über vierzig Ghettos in Gesamtitalien im Jahr 1797 befanden sich im Kirchenstaat nur jene acht; eher wenige also. Von "strenger" Isolation kann keine Rede sein. Bestimmte, keineswegs alle, nicht einmal die in den jeweiligen Fällen entscheidenden kurialen Kräfte strebten diese vielleicht an, was jedoch noch längst nicht heißt, daß dieses Ziel auch erreicht wurde. Nach 1815 fand "eine Verdoppelung der Anstrengungen" statt, "die Juden mit Hilfe staatlicher Gewalt zur Konversion zu bewegen"; niemals, auch im neunzehnten Jahrhundert nicht, war an eine vollständige Konversion der Juden gedacht, schon aus theologischen Gründen nicht.

Daß Clemens XIV. 1769 die "Aufsicht über das römische Ghetto" dem Heiligen Offizium entzogen und dem Kardinalvikar unterstellt habe, ist schlicht falsch und beruht auf einer Fehllesung der Quellen, die seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts getreulich durch die Literatur gereicht wird. In Wirklichkeit besaß der Kardinalvikar die Zivil- und Kriminaljurisdiktion über die Jüdische Gemeinde Roms ununterbrochen seit 1524, bestätigt 1550 und erneut 1834 von Gregor XVI. Dieser wiederum hatte 1843 ein klares, in prinzipiellen Erwägungen gründendes Argument, das Ansinnen Metternichs abzulehnen, die Juden des Kirchenstaates doch endlich stärker zu emanzipieren: ein säkularer Staat verfüge hier über Möglichkeiten, die ebender Kirchenstaat aufgrund seiner besonderen Struktur nicht habe. Das sind staatstheoretisch höchst interessante und aufschlußreiche Erwägungen, für die freilich Kertzers Betriebsblindheit ebensowenig ein Sensorium hat, wie ihm allgemein das Kategoriensystem eines Papstes des neunzehnten Jahrhunderts völlig verschlossen bleibt. Also erschöpft sich seine Interpretation dieser wichtigen Quelle in dem Verdikt "Reformunwilligkeit".

Fragen über Fragen. Warum werden die sehr klaren Unterschiede in der Politik der drei Päpste Leo XII., Gregor XVI. und Pius IX. nicht herausgearbeitet, warum alle drei unterschiedslos und trotz aussagekräftiger Quellen als intransigente Antisemiten dargestellt? Was hat der (auch katholische) Antisemitismus in Österreich und Frankreich mit den Päpsten zu tun? Warum wird Publizistik, Vulgärtheologie und kuriale Politik nicht exakt auseinandergehalten?

Was Kertzer schließlich über die Tätigkeit Achille Rattis, des nachmaligen Papstes Pius XI., als apostolischer Visitator und Nuntius in Polen 1918 bis 1921 zusammenträgt, übertrifft fast noch die verleumderische Geschichtsklitterei John Cornwells über Pacelli. Die dramaturgische Funktion dieses Kapitels, dem nur noch ein letztes mit dem Titel "An der Schwelle zum Holocaust" folgt, liegt auf der Hand. Die antisemitischen Reihen müssen nach rückwärts geschlossen, der Mythos des "guten" elften, dem "schlechten" zwölften vorangehenden Pius muß demontiert werden. Jener Papst, der in zwei Enzykliken die großen atheistischen, völkermordenden Ideologien des Jahrhunderts verurteilte, der eine Enzyklika gegen den Antisemitismus vorbereitete, der mehrfach, auch zusammen mit dem Heiligen Offizium, öffentlich gegen den Antisemitismus Stellung bezog, wird mit einigen aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten aus - übrigens keineswegs neuen, sondern längst publizierten - Berichten über die Situation in Polen kurzerhand selbst zum eingefleischten Antisemiten erklärt. So stiftet man geistesgeschichtliche Traditionen.

Viel schwerer noch als diese an sich schon gravierenden Mängel wiegt die generelle gedankliche Armut des Buches. Kertzer summiert nur selektiv, klagt nur an, ohne historisch darzustellen, zu erklären. Um aber das Handeln der Päpste zu begreifen, wäre ein Grundverständnis des welthistorischen Dilemmas der Kirchenhäupter den Juden gegenüber notwendig gewesen sowie, daraus abgeleitet, ein durchdachter Interpretationsrahmen. Denn warum waren die Päpste einmal mehr, einmal weniger antijudaistisch? Weil sie eine doppelte Schutzaufgabe wahrzunehmen, weil sie die für das christliche Weltbild unabdingbar notwendigen Juden vor den Christen, andererseits aber auch qua Amt die Christen vor den Juden schützen zu müssen glaubten. In diesem Dilemma, das freilich auch schlimme Folgen zeitigte, liegt die ganze Tragik dieses Verhältnisses. Die Päpste wurden damit bis zum Ende des Kirchenstaates und darüber hinaus nicht fertig. Bis zum Zweiten Vatikanum sollte es dauern, eine wirkliche Neuorientierung herbeizuführen. Dieser Teil, der die Geschichte erst an ihr Ende bringt, fehlt bei Kertzer, wie so vieles mehr.

"Wenn es mir nicht gelungen sein sollte, ihre Weltsicht zu vergegenwärtigen", schreibt Kertzer über die katholische Weltkirche in der Einleitung, "dann bin ich gescheitert." Dem ist nichts hinzuzufügen.

David I. Kertzer: "Die Päpste gegen die Juden". Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus. Aus dem Amerikanischen v. Klaus-Dieter Schmidt. Propyläen Verlag, Berlin, München 2001. 447 S., geb., 48,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der Historiker David I. Kertzer hat bei seinen Forschungen zum katholischen Antijudaismus neben der katholischen Presse vor allem neues Material aus den 1998 zugänglich gemachten Archiven der "römischen Inquisition" ausgewertet - und die Ergebnisse sind, nach Ansicht von Gustav Seibt, "schockierend und müssen Epoche machen". Klar kann Kertzer, so Seibt, die Parallelen zwischen religiösem Antijudaismus und der Entstehung eines rassischen Antisemitismus aufzeigen. Nicht nur hat der Vatikan jahrzehntelang das schlimme Gerücht vom jüdischen Ritualmord an Kindern eifrig verbreitet, "die Nähe der Kirche" zu "antisemitischen Strömungen" kann Kertzer, wie Seibt betont, für alle wichtigen katholischen Nationen belegen. Die katholischen Presse hat sich ohne Scham an der antisemitischen Hetze beteiligt. Das Beweismaterial sei "erdrückend", "unwiderleglich" mache das Buch klar, wie nahe sich Antijudaismus und Antisemitismus auch ideologisch gekommen sind. Nur in einem Punkt widerspricht Seibt deutlich: der "logische" Unterschied zwischen antijudaistischem Bekehrungswunsch und antisemitischer Ausmerzungswut wird auch durch die Aufdeckung katholischer Schändlichkeiten nicht verwischt.

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