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Die Milleniumsnacht: In seinem klapprigen Citroen DS jagt der knapp 60-jährige Martin über den Autobahnring um Paris. Neben ihm sitzt die Tochter seines besten Freundes, der vor Jahren unter sonderbaren Umständen verstarb. Während Reklametafeln und Verkehrsschilder vorbeiflirren, erzählt Martin der jungen Frau, wie er und ihr Vater als Mitglieder einer radikalen linken Gruppe die Welt aus den Angeln heben wollten. Sie hört ihm zu, unterbricht ihn mit Bemerkungen, die von zeitgemäßer politischer Ahnungslosigkeit zeugen - und trifft ihn am Ende doch mit einer scheinbar simplen Frage ins…mehr

Produktbeschreibung
Die Milleniumsnacht: In seinem klapprigen Citroen DS jagt der knapp 60-jährige Martin über den Autobahnring um Paris. Neben ihm sitzt die Tochter seines besten Freundes, der vor Jahren unter sonderbaren Umständen verstarb. Während Reklametafeln und Verkehrsschilder vorbeiflirren, erzählt Martin der jungen Frau, wie er und ihr Vater als Mitglieder einer radikalen linken Gruppe die Welt aus den Angeln heben wollten. Sie hört ihm zu, unterbricht ihn mit Bemerkungen, die von zeitgemäßer politischer Ahnungslosigkeit zeugen - und trifft ihn am Ende doch mit einer scheinbar simplen Frage ins Herz.

Martin erzählt, wie er und seine Gefährten Pässe fälschten, Piratensender aufbauten, Geld für Flug- blätter beschafften und sich in immer abenteuer- lichere Aktionen verstrickten. Er enthüllt den Preis, den das Individuum für die vollständige Politisierung zu zahlen hat: Infantilismus, morbide Züge und Schwierigkeiten mit der Liebe. Aber er entdeckt auch die geheime Affinität der Rebellen zur 'bürger- lichen' Poesie: Wie die großen Dichter laden sie eine als leer empfundene Gegenwart mit den Ikonen der Vergangenheit auf und projizieren diese auf eine verheißungsvolle Zukunft.
Autorenporträt
Oliver Rolin wurde 1947 in Boulogne-Billancourt geboren. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte Rolin in Senegal, 1967 trat er in Paris der "Union des jeunesses communistes" bei. Ein Jahr später wurde er Mitglied der maoistisch orientierten Nouvelle Resistance Populaire (NRP) und wirkte unter dem Decknamen "Antoine" an deren militanten Aktionen mit. Als die NRP sich 1973 auflöste, verschwand Rolin im Untergrund, bis er 1978 Lektor und später Herausgeber bei dem Pariser Verlag Editions de Seuil wurde. 1994 erhielt er den Prix Femina für seinen Roman "Port Sudan".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2004

Flugblätter für die Ewigkeit
Mit dem Citroën DS auf der Ringautobahn der Erinnerung: Olivier Rolins Roman über die französische Studentenrevolte

Aus der entrückten Flugperspektive und doch auf Augenhöhe der Fakten, so wollte der Romancier Olivier Rolin, Jahrgang 1947, das Jugendengagement seiner Generation noch einmal erzählen. Erkundungsgefährt ist ein alter Citroën DS mit Kosenamen "Remember". Im Cockpit sitzt der Erzähler, neben ihm Marie, die Tochter von Treize, seinem besten, verstorbenen Freund. Als Flugbahn dient die Ringautobahn des Pariser Boulevard Périphérique. Es ist Nacht. An der Porte d'Ivry hat der Fahrer die Ausfahrt verpaßt, um Marie nach Hause zu bringen. Einfach weiterfahren? "Es sei denn, du hast es eilig, nach Hause zu kommen? Nein? Ich bin fit. Ein bißchen angetrunken, aber nicht zu sehr. Also fahren wir weiter."

Runde um Runde fahren sie so die ganze Nacht. Im Augenwinkel gleiten endlos Verkehrsschilder und Reklameschriften vorbei - Exit Vincennes, Johnny Walker Keep Walking, Boulogne 100 Meter, Daewoo, Temp. 12 Grad, Rue de Palestine, Digital Sound. Es sind solche Reizsignale, die immer wieder Erinnerungen wecken und zugleich alle Worte in den Sog der Beliebigkeit ziehen. Denn der Mann am Steuer erzählt. Unaufhörlich erzählt er, wie es war, damals, als Pompidou an der Macht war, als die linksradikale Aktivistengruppe Flugblätter oder Geiselnahmen vorbereitete und jeder Tag Revolutionstag war - weniger mit dem Ziel realer Machtübernahme, sondern eher, um für die Revolution sterben zu lernen.

Der Roman von Olivier Rolin ist die selbstironische, aber ehrliche und überdies unterhaltsame Rückschau eines Zeitgenossen, der sich literarisch längst von jenen Jahren verabschiedet hat und sie "heute" - das heißt: graues Haar, bürgerlicher Lebensstil und vergangene Lust - dennoch nicht ganz verleugnen mag. Darin liegt das Überzeugende des Werks: daß es sich, anders als so manches einschlägige Buch der letzten Jahre, nicht mit salopper Selbstironie einfach vor jener Vergangenheit aus dem Staub macht, sondern das Thema selbstkritisch umkreist. Nur könnte man auf dieser Ringautobahn endlos immer weiterfahren, hundert, fünfhundert, tausend Seiten lang, und käme narrativ doch nicht voran. Vielleicht liegt es an der windigen Extravaganz der Zeit selbst, daß sie sich in keine geordnete erzählerische Form bringen läßt.

Das Wörtchen "du", mit dem der Erzähler vom ersten Satz an auch "ich" sagt - "Du magst das Wort Nacht, ebenso navire, night, noche triste, notta continua" -, schafft wie in einem permanenten inneren Dialog die Intimität der Aufrichtigkeit. Fast wirkt auch das andere "du", das des mitfahrenden Mädchens, zu dem trotz der erotischen Spannung kaum Blickkontakt aufkommt, wie eine Variante des eigenen, ausufernden Ich. Dabei liegen Welten zwischen den Generationen. Aus der Zeit, wo zum wohl letzten Mal eine Jugend "sich für die Ewigkeit interessierte" und ihren revolutionären Spießrutenlauf gegen die Monotonie einer Wohlstandsgesellschaft antrat, sind praktisch nur die schwarzen Ledersitze des DS übriggeblieben. Der Rest ist kalter Kaffee mit der widerlichen Erinnerung an aufgequollene Kippen in trüber Zigarettenbrühe nach durchdiskutierter Nacht.

Und doch läßt gerade diese Erinnerung, angeregt durch die Namensschilder oder Ortsdetails am Rand der Fahrbahn, in einer assoziativ wechselnden, bald beschleunigten, bald verlangsamenden Gangschaltung der Syntax das einstige Revolutionsgrüppchen noch einmal aufleben. Sie träumten - kurz nach Vichy geboren - von Heldentum und Drama, kamen aber über die Farce nicht hinaus mit ihren Einbrüchen, Straßenschlachten und antifaschistischen Kommandoaktionen. In den Vorbereitungspausen für solche Einsätze gerieten sie sich beim Monopoly-Spiel in die Haare oder verbrachten die Freizeit auf einem Tretboot im See. Die "Appassionata" und andere "konterrevolutionäre" Musik hörten sie nur heimlich; das nächtliche Flugblattschreiben wurde zum wahren Heldenakt, wenn sich im Nebenzimmer zwei nackte Mädchenbeine räkelten.

Solche Klischeeszenen eines revolutionären Leerlaufs sind in der Literatur schon reichlich bemüht worden, um eine fremd gewordene eigene Jugend billig zu entsorgen. Rolins Erzähler am Steuer des DS hat anderes im Sinn. Im Monolog mit der Tochter seines toten Freundes sucht er im Dauerflimmern der reinen Signalgegenwart Rot-Gelb-Grün auf dem nächtlichen Boulevard Périphérique den Faden von Vergangenheit und Zukunft neu zu knüpfen. Denn so, wie Marie ihren Vater früh verlor und deshalb nun wißbegierig neben ihm im Auto sitzt, starb der seine in Vietnam.

Und so vermischt sich seine mit historischen und literarischen Anspielungen gespickte Erzählung immer wieder mit der Erinnerung an die Reise, die er auf den Spuren seines Vaters zu jenem anderen Kriegsschauplatz unternahm. Es gilt, die Kluft zwischen zwei sehr unterschiedlichen Verlusterfahrungen zu überbrücken. "Kennst du Diên Biên Phu? Hast du Alexander Blok, Cendrars, Céline, Victor Hugo gelesen?" Das fragt der Älteren die Junge immer wieder. "Es muß einen Zusammenhang geben zwischen eurem naiven Kult des individuellen Glücks, bei euch Ultramodernen, und der Tatsache, daß ihr so verdammt wenig wißt, was Geschichte ist." Die Revoluzzer seiner Generation hätten einem anderen Ewigkeitsideal entsprochen als die Ewigjungen heutzutage auf den Werbeplakaten. "Du fängst an zu dozieren", brummt das Mädchen. Und daß der Erzählfluß augenblicklich verstummt, vielmehr: vom Sog der vorbeiziehenden Lichtsignale geschluckt wird, erspart dem Roman, in intellektuelles Fabulieren abzugleiten.

In einer reizvollen Schlußszene hebt er statt dessen literarisch tatsächlich ab. Die revolutionäre Drehscheibe Paris mit ihrem stereotypen Flachhorizont aus Leuchtschriften gewinnt in der Erzählung plötzlich ihre historische Tiefe zurück. Nach einer durchzechten Nacht besteigen der Erzähler und sein Freund Treize, Maries Vater, das Baugerüst der Türme von Saint-Sulpice. Die großen Steuermänner der Revolution hängen ihnen längst zum Halse heraus. Immer tiefer versinkt das vor- und nachrevolutionäre Paris unter ihnen: Von ganz oben auf der Turmspitze aus wollen sie die aufgehende Sonne betrachten. Der Tritt ins Freie hat das heranwachsende Mädchen ihren Vater gekostet, wirft sie aber auf dem Boulevard aus der Familien- in die große Geschichte zurück. Dieser selbst im freien Fall leichtfüßig geschriebene Roman, dem bei seinem Erscheinen vor einem Jahr in Frankreich großer Erfolg beschieden war, behält auch in der deutschen Übersetzung seine subtile innere Wirbelbewegung und liefert wenn schon nicht das große Epochenwerk, dann doch eines der intelligentesten nachgereichten literarischen Zeugnisse dazu.

Olivier Rolin: "Die Papiertiger von Paris". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Sabine Herting. Karl Blessing Verlag, München, 2003. 251 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Das Familienalbum einer Generation, ohne Retuschen und Nachbesserungen."
Neue Zürcher Zeitung

"Seine bisherigen Bücher waren Vorstudien zu diesem Roman, und das Warten hat sich gelohnt ... Der ganze Aufbau dieses Buches ist Bewegung, Strudel, Energie."
Le Monde

"Rolin fängt die Komik und den Horror des politischen Aktivismus der 70er Jahre sehr genau ein."
Times Literary Supplement

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Voll des Lobes für diesen, auf die französische Studentenrevolte zurückblickenden Roman ist Rezensent Joseph Hanimann. Für ihn ist es eines der intelligentesten nachgereichten literarischen Zeugnisse jener Jahre, die er gelesen hat. Überzeugend findet er den Roman vor allem deshalb, weil es sich anders als "so manch einschlägiges Buch der letzten Jahre" nicht mit salopper Selbstironie vor der Vergangenheit aus dem Staub macht, "sondern das Thema selbstkritisch umkreist". Die revolutionäre Drehscheibe Paris "mit ihrem stereotypen Flachhorizont aus Leuchtschriften" gewinnt für den Rezensenten hier plötzlich ihre historische Tiefe zurück. Nach einer durchzechten Nacht, in der, wie Haniman schreibt, in einer "assoziativ wechselnden, bald beschleunigenden, bald verlangsamenden Gangschaltung der Syntax" Erinnerungen an die 68er-Revolution noch einmal aufleben, besteigen zwei Männer das Baugerüst der Kirchtürme von St. Sulpice, von wo aus sie den Sonnenaufgang betrachten wollen, offenbar für den einen von ihnen mit tödlichem Ausgang. Noch im freien Fall jedoch findet der Rezensent den Roman leichtfüßig geschrieben, zumal die deutsche Übersetzung die "subtile innere Wirbelbewegung" beibehalten habe.

© Perlentaucher Medien GmbH"