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»Kaum ein anderer Denker veranschaulicht die Widersprüche des heutigen Kapitalismus besser als Slavoj Zizek.« New York Review of Books
Das heutige Leben ist vom Überfluss geprägt. Es muss immer mehr sein, nie ist es genug. Lacan hat jedoch gezeigt, dass wir immer einen Überschuss an dem benötigen, was wir brauchen: Sonst können wir das, was wir haben, nicht genießen. Mit dieser Gedankenfigur, die Zizek mit Marx' »Mehrwert« und Freuds »Lustgewinn« zusammendenkt, analysiert der Meisterdenker aus Slowenien die Paradoxien der gegenwärtigen politischen Lage. Unter anderem anhand von…mehr

Produktbeschreibung
»Kaum ein anderer Denker veranschaulicht die Widersprüche des heutigen Kapitalismus besser als Slavoj Zizek.« New York Review of Books

Das heutige Leben ist vom Überfluss geprägt. Es muss immer mehr sein, nie ist es genug. Lacan hat jedoch gezeigt, dass wir immer einen Überschuss an dem benötigen, was wir brauchen: Sonst können wir das, was wir haben, nicht genießen. Mit dieser Gedankenfigur, die Zizek mit Marx' »Mehrwert« und Freuds »Lustgewinn« zusammendenkt, analysiert der Meisterdenker aus Slowenien die Paradoxien der gegenwärtigen politischen Lage. Unter anderem anhand von Hollywood-Filmen wie der »Joker«, der Corona-Pandemie und den Zwängen der »Cancel Culture« zeigt Zizek, dass wir vielleicht einen Ausweg aus unserer verzwickten Lage finden, wenn wir nur erkennen, dass der Gewinn, den die »Mehrlust« verspricht, substanz- und nutzlos ist.

»Zizek ist der Philosoph, der den richtigen Leuten auf die Nerven geht.« The Spectator
Autorenporträt
Slavoj iek, geboren 1949, ist Philosoph, Psychoanalytiker und Kulturkritiker. Er lehrt Philosophie an der Universität von Ljubljana in Slowenien und an der European Graduate School in Saas-Fee und ist derzeit International Director am Birkbeck Institute for the Humanities in London. Seine zahlreichen Bücher sind in über 20 Sprachen übersetzt. Im S. Fischer Verlag sind zuletzt erschienen 'Hegel im verdrahteten Gehirn' (2020), 'Wie ein Dieb im Tageslicht. Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus' (2019), 'Mut zur Hoffnungslosigkeit' (2018), 'Absoluter Gegenstoß. Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus' (2016), 'Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus' (2015), 'Was ist ein Ereignis?' (2014) und 'Das Jahr der gefährlichen Träume' (2013).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Tobias Kniebe staunt nicht schlecht, dass ihm der alte Feuerprediger Slavoj Zitzek hier als philosophischer Aufpasser begegnet, der hier der Einhaltung von Regeln das Wort redet. Das Bild von Zizek, der zu Corona-Zeiten in der Londoner U-Bahn andere ermahnt, die Maske aufzusetzen, brennt sich ihm ein. Aber Kniebe folgt trotzdem freudig diesem Leitfaden für Nichtverwirrte, um sich schön irritieren zu lassen. Mehrlust, eine Kombination aus Mehrwert und Lustgewinn, bringt ihm Zizek mit dem Bild des Umweltschützer nahe, der aus Angst ums Klima auch noch im Eisregen einen perversen Lustgewinn aus dem Radfahren zieht. Und dass gerade eine Wissenschaft, die ihre eigene Vorläufigkeit betont, den Autoritätshörigen nicht genug Wahrheit bietet, das hat ihm zuvor auch noch niemand so einleuchtend erklärt. "Besser ein böser Gott als gar kein Gott, erklärt sich Kniebe jetzt mit Zizek die neue Lust auf Verschwörungstheorien.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2023

Nach allen
Gewissheiten
Der nimmermüde intellektuelle Provokateur
Slavoj Žižek besteht jetzt auf die Einhaltung von
Regeln. Ist das sein Ernst? Nur ein bisschen
VON TOBIAS KNIEBE
enn jedes Buch im Kopf auch ein Abbild seines Autors erzeugt, in der zugehörigen Phase seines Lebens und Denkens, dann sieht man hier den berühmten Philosophen Slavoj Žižek vor sich, wie er mitten in der Pandemie in der – sagen wir Londoner – U-Bahn sitzt. Und recht grimmig schaut.
Die Augenringe sind tiefer und dunkler geworden. Der Bart ist, wenn das möglich ist, noch eine Spur zotteliger als früher. Und dann spricht der Mann, der einst als „gefährlichster Philosoph des Westens“ gebrandmarkt wurde und diesen Titel seither trägt wie das höchste Ehrenzeichen, sein zufälliges Gegenüber an: „Setzen Sie doch bitte Ihre Maske auf!“
Dieses Bild, das man als Leser aus seinem neuen 500-Seiten-Wälzer „Paradoxien der Mehrlust“ mitnimmt, zeigt Žižek in neuem Licht. Man kannte ihn als nimmermüde publizierenden Unruhestifter und brillanten Provokateur, als Feuerprediger gegen kapitalistische Globalisierung und politisch korrekte Moralapostel, auch als Re-Animator marxistischen Gedankenguts. Als philosophischer Aufpasser, der auf der Einhaltung von Regeln besteht, trat er bisher eher nicht in Erscheinung.
Aber da steht es, gleich am Anfang des ersten Teils. Und gegen Schluss noch einmal, nahezu wortgleich, fast wie eine unbeabsichtigte Doppelung. Žižek holt Kant hervor und zitiert aus „Was ist Aufklärung?“, die Unterscheidung vom öffentlichen und privaten Gebrauch der Vernunft. Und übersetzt das gleich in seinen eigenen Klartext: „Denke frei, äußere deine Gedanken öffentlich, und gehorche!“
Gerichtet ist das vor allem an „Impfskeptiker“, die Žižek in der Pandemie offenbar verstört haben: „Debattiert, veröffentlicht eure Zweifel, aber haltet euch an die Verordnungen, sobald sie von den Behörden erlassen worden sind. Ohne einen derartigen praktischen Konsens werden wir uns allmählich zu einer Gesellschaft entwickeln, die nur noch aus Stammesgruppen besteht, wie es sich in vielen westlichen Ländern bereits abzeichnet.“
Der praktische Konsens war es bisher nicht, der Žižek philosophisch vor allem am Herzen lag, ebenso wenig wie „die große Errungenschaft der Moderne, der öffentliche Raum“, in dem der öffentliche Gebrauch der Vernunft ja nun einmal stattfinden muss. Auch diesen sieht er, ein paar Seiten vorher und zu seinem großen Kummer, „im Verschwinden begriffen“.
Also Moment mal: Spricht aus der Maske dieses normalerweise wild gestikulierenden, sprunghaft assoziierenden, bedenklich unterhaltsamen und in unauflösbaren Paradoxien schwelgenden Popkultur-Meisterdenkers (oder wahlweise für seine Feinde auch: Scharlatans) jetzt auf einmal: Jürgen Habermas?
So krass ist es noch nicht, die „Gehorche!“-Passage ist eher ein Einzelfall. Und schon der Untertitel des Buches, der einen „Leitfaden für die Nichtverwirrten“ verspricht, beugt allzu normativen Anweisungen vor. Denn die Nichtverwirrten, die trotz allem noch „bequem mit dem Strom der Alltagsideologie schwimmen“, will Žižek weiterhin verwirren. Damit am Ende dann wirklich alle nicht mehr wissen, wo rechts und links, oben und unten ist.
Seine längst erprobte Methode dafür ist, die unterschiedlichsten Referenzen unabgefedert aufeinanderknallen zu lassen. Da treffen zwei alte lebensmüde Könige aus der Serie „Vikings“ auf Žižeks philosophischen Hausheiligen Jacques Lacan; das slowenische Schimpfwort „Lass dich von einem Schwanz ansehen“ wird mit den Vierzigerjahre-Hollywood-Komödien Ernst Lubitschs konfrontiert; und Joaquin Phoenix als „Joker“ kann sich in seinem finalen Wahnsinn direkt auf Hegel berufen: „Das Verbrechen und die Verrücktheit sind Extreme, welche der Menschengeist überhaupt im Verlauf seiner Entwicklung zu überwinden hat.“ Was das Ende dieses Films sogar positiv macht.
Hegel ist wie immer der Horizont, an den Žižek in seinen schnelldrehenden dialektischen Denkbewegungen stößt. Wo sich im Denken und den Phänomenen der Gegenwart Widersprüche auftun, die keiner mehr zusammenfügen kann, auch Žižek nicht, hilft nur noch Hegel. Der liefert immerhin das Werkzeug, „die Kluft“, „den Spalt“ oder „den Riss selbst“ zu denken. Von Klüften, Rissen und Spalten ist dieses Buch reichlich durchzogen.
Nach Zizek kann es dann nur weitergehen, wenn man die vollkommene Ratlosigkeit nach dem Ende aller Gewissheiten und Autoritäten – mit Lacan hier „Subjektive Destitution“ genannt – durchleidet und vollständig annimmt. Nach diesem „Nullpunkt der Herabsetzung“ kann etwas Neues entstehen, vielleicht kann daraus sogar eine neue Ordnung erwachsen, aber diese Aussicht muss vage bleiben. Man kann es erst wissen, wenn man drinsteckt, und es klingt durchaus nicht nach einem angenehmen Zustand.
Hilfreicher sind eher die kleinen Beobachtungen, die kurz auftauchen und dann auch wieder verschwinden, vielleicht auch deshalb, weil sie im Gesamtwerk des Mannes schon öfter einen Auftritt hatten. „Keine wahre Liebe ohne Verrat“ heißt etwa eine kühne Behauptung zwischendrin, die mit der Stasi-verseuchten Ehe zwischen Vera Lengsfeld und Knud Wollenberger exemplifiziert wird, aber auch mit dem Finale der Serie „Homeland“ – Details würden hier zu weit führen, aber das Ganze löst durchaus ein längeres Nachgrübeln über die eigenen Beziehungen aus.
Auch wenn es mit ungebremster Wortgewalt gegen den „pseudolinken, politisch korrekten, starren Moralismus“ geht, den Žižek in akademischen Zirkeln überall am Werk sieht und der ihn der neuesten Linken mehr und mehr entfremdet, bleibt manchmal ein Vorschlag stehen, der zum Weiterdenken einlädt: „Das Problem steckt schon in der Idee einer akademischen Welt als ,Safe Space‘. Wir sollten dafür kämpfen, die Welt außerhalb der Universitäten sicher für alle zu machen, und wenn die akademische Welt sich an diesem Kampf beteiligen will, dann sollte sie gerade der Raum sein, wo wir uns offen mit sämtlichen rassistischen und sexistischen Gräueln auseinandersetzen.“
Das tut dieses Buch auf jeden Fall, etwa wenn Žižek populistische Gewalt und ihre „bürgerkriegsähnlichen Ausmaße“ untersucht und zu dem Schluss kommt, diese lasse sich nicht mehr einfach mit wirtschaftlichen Interessen und ideologischen Manipulationen erklären. „Man muss auch das (rassistische, sexistische) Genießen miteinbeziehen, wie es in den karnevalesken öffentlichen Veranstaltungen der Alt-Right deutlich zu erkennen ist“, schreibt er.
Lustvolle Rassisten etwa beim Sturm auf das US-Capitol – da ist man bei der titelgebenden „Mehrlust“ angelangt, einer Wortschöpfung Lacans, die auf Marx’ Begriff des „Mehrwerts“ zurückgeht, aber auch eine Verwandtschaft zu Freuds „Lustgewinn“ hat. Diese Mehrlust wirkt laut Žižek nicht nur bei der Alt-Right, sondern auch in zahllosen anderen paradoxen Konstellationen, etwa wenn ein zur Rettung des Klimas erzwungener Verzicht auf das Auto in den perversen Lustgewinn umschlägt, noch im übelsten Eisregen mit dem Fahrrad ins Büro zu fahren. Žižek wirkt oft dann am hellsichtigsten, wenn er dank seines psychoanalytischen Blicks die libidinösen Unterströme in der Gesellschaft offenlegt.
Eine solche Beobachtung, in der er seiner slowenischen Philosophenkollegin Alenka Zupančič folgt, führt dann auch wieder zur Pandemie zurück – und zum Verständnis dessen, was da eigentlich passiert ist. Als Corona-Skeptiker gegen Hygenievorschriften und Ausgangssperren mobilmachten und sich die Masken vom Kopf rissen, konnte man ja annehmen, sie fühlten sich von einer mächtigen neuen Verbotsautorität bedrängt, gegen die es zu rebellieren galt. Ihr Furor erschien aber – angesichts des offen wie nie zuvor ausgestellten Diskurses der Unsicherheit in der Wissenschaft („Im Moment glauben wir dies, aber die Studienlage ist unklar, morgen kann anders sein“) – unerklärlich überdimensioniert.
Was aber, wenn es genau andersherum war? Wenn gerade das ewig Vorläufige der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die endgültige Abwesenheit einer wirklich erklärenden Autorität – des „großen Anderen“ Lacans – diese Menschen in eine fatale Mangellage gestürzt hat? Dann ergibt die folgende Entwicklung, die ungebremste Verbreitung eines wilden Verschwörungsglaubens, auf einmal sehr viel mehr Sinn.
Denn dann konstruieren sich diese Wahrheitssucher eine neue, allmächtige Autorität eben selbst, erfinden Strippenzieher im Herzen eines imaginierten, pharmazeutisch-industriellen Lügenkomplexes. Sie stellen den „großen Anderen“ damit wieder her, aber als Monster: „Ein konsistenter Gott kann nur ein böser Gott sein; alles andere ergibt keinen Sinn. Aber besser ein böser Gott als gar kein Gott.“
Bei diesem Gedanken angekommen, kann man den Andersdenkenden in Sachen Corona zugestehen, dass sie eben nicht alle kleine Donald Trumps sind – dass ihre Sehnsucht nach Wahrheit meistens echt ist. Und hat doch eine Idee, warum es trotzdem so gefährlich wurde. Damit zeigt Žižek einmal mehr, dass er jederzeit für Denkanstöße gut ist. Selbst wenn der Versuch, aus seinen Schriften ein kohärentes Gesamtbild herauszufiltern – oder gar Ideen, was man tun könnte –, auch diesmal nur im Haareraufen enden kann.
W
Am
hellsichtigsten
wirkt Žižek
oft dann,
wenn er die
libidinösen
Unterströme der
Gesellschaft
offenlegt
Slavoj Žižek: Paradoxien der Mehrlust.
Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten.
Aus dem Englischen
von Frank Born
und Axel Walter.
S. Fischer,
Frankfurt a.M. 2023.
496 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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[...] man folgt den theoretischen Volten und Purzelbäumen, Widerlegungen und Retourkutschen, Witzen und Filmnacherzählungen [...] mit Faszination und zuletzt oft genug mit Bewunderung. Lea Wintterlin Philosophie Magazin 20230710
Nach allen
Gewissheiten

Der nimmermüde intellektuelle Provokateur
Slavoj Žižek besteht jetzt auf die Einhaltung von
Regeln. Ist das sein Ernst? Nur ein bisschen

VON TOBIAS KNIEBE

enn jedes Buch im Kopf auch ein Abbild seines Autors erzeugt, in der zugehörigen Phase seines Lebens und Denkens, dann sieht man hier den berühmten Philosophen Slavoj Žižek vor sich, wie er mitten in der Pandemie in der – sagen wir Londoner – U-Bahn sitzt. Und recht grimmig schaut.

Die Augenringe sind tiefer und dunkler geworden. Der Bart ist, wenn das möglich ist, noch eine Spur zotteliger als früher. Und dann spricht der Mann, der einst als „gefährlichster Philosoph des Westens“ gebrandmarkt wurde und diesen Titel seither trägt wie das höchste Ehrenzeichen, sein zufälliges Gegenüber an: „Setzen Sie doch bitte Ihre Maske auf!“

Dieses Bild, das man als Leser aus seinem neuen 500-Seiten-Wälzer „Paradoxien der Mehrlust“ mitnimmt, zeigt Žižek in neuem Licht. Man kannte ihn als nimmermüde publizierenden Unruhestifter und brillanten Provokateur, als Feuerprediger gegen kapitalistische Globalisierung und politisch korrekte Moralapostel, auch als Re-Animator marxistischen Gedankenguts. Als philosophischer Aufpasser, der auf der Einhaltung von Regeln besteht, trat er bisher eher nicht in Erscheinung.

Aber da steht es, gleich am Anfang des ersten Teils. Und gegen Schluss noch einmal, nahezu wortgleich, fast wie eine unbeabsichtigte Doppelung. Žižek holt Kant hervor und zitiert aus „Was ist Aufklärung?“, die Unterscheidung vom öffentlichen und privaten Gebrauch der Vernunft. Und übersetzt das gleich in seinen eigenen Klartext: „Denke frei, äußere deine Gedanken öffentlich, und gehorche!“

Gerichtet ist das vor allem an „Impfskeptiker“, die Žižek in der Pandemie offenbar verstört haben: „Debattiert, veröffentlicht eure Zweifel, aber haltet euch an die Verordnungen, sobald sie von den Behörden erlassen worden sind. Ohne einen derartigen praktischen Konsens werden wir uns allmählich zu einer Gesellschaft entwickeln, die nur noch aus Stammesgruppen besteht, wie es sich in vielen westlichen Ländern bereits abzeichnet.“

Der praktische Konsens war es bisher nicht, der Žižek philosophisch vor allem am Herzen lag, ebenso wenig wie „die große Errungenschaft der Moderne, der öffentliche Raum“, in dem der öffentliche Gebrauch der Vernunft ja nun einmal stattfinden muss. Auch diesen sieht er, ein paar Seiten vorher und zu seinem großen Kummer, „im Verschwinden begriffen“.

Also Moment mal: Spricht aus der Maske dieses normalerweise wild gestikulierenden, sprunghaft assoziierenden, bedenklich unterhaltsamen und in unauflösbaren Paradoxien schwelgenden Popkultur-Meisterdenkers (oder wahlweise für seine Feinde auch: Scharlatans) jetzt auf einmal: Jürgen Habermas?

So krass ist es noch nicht, die „Gehorche!“-Passage ist eher ein Einzelfall. Und schon der Untertitel des Buches, der einen „Leitfaden für die Nichtverwirrten“ verspricht, beugt allzu normativen Anweisungen vor. Denn die Nichtverwirrten, die trotz allem noch „bequem mit dem Strom der Alltagsideologie schwimmen“, will Žižek weiterhin verwirren. Damit am Ende dann wirklich alle nicht mehr wissen, wo rechts und links, oben und unten ist.

Seine längst erprobte Methode dafür ist, die unterschiedlichsten Referenzen unabgefedert aufeinanderknallen zu lassen. Da treffen zwei alte lebensmüde Könige aus der Serie „Vikings“ auf Žižeks philosophischen Hausheiligen Jacques Lacan; das slowenische Schimpfwort „Lass dich von einem Schwanz ansehen“ wird mit den Vierzigerjahre-Hollywood-Komödien Ernst Lubitschs konfrontiert; und Joaquin Phoenix als „Joker“ kann sich in seinem finalen Wahnsinn direkt auf Hegel berufen: „Das Verbrechen und die Verrücktheit sind Extreme, welche der Menschengeist überhaupt im Verlauf seiner Entwicklung zu überwinden hat.“ Was das Ende dieses Films sogar positiv macht.

Hegel ist wie immer der Horizont, an den Žižek in seinen schnelldrehenden dialektischen Denkbewegungen stößt. Wo sich im Denken und den Phänomenen der Gegenwart Widersprüche auftun, die keiner mehr zusammenfügen kann, auch Žižek nicht, hilft nur noch Hegel. Der liefert immerhin das Werkzeug, „die Kluft“, „den Spalt“ oder „den Riss selbst“ zu denken. Von Klüften, Rissen und Spalten ist dieses Buch reichlich durchzogen.

Nach Zizek kann es dann nur weitergehen, wenn man die vollkommene Ratlosigkeit nach dem Ende aller Gewissheiten und Autoritäten – mit Lacan hier „Subjektive Destitution“ genannt – durchleidet und vollständig annimmt. Nach diesem „Nullpunkt der Herabsetzung“ kann etwas Neues entstehen, vielleicht kann daraus sogar eine neue Ordnung erwachsen, aber diese Aussicht muss vage bleiben. Man kann es erst wissen, wenn man drinsteckt, und es klingt durchaus nicht nach einem angenehmen Zustand.

Hilfreicher sind eher die kleinen Beobachtungen, die kurz auftauchen und dann auch wieder verschwinden, vielleicht auch deshalb, weil sie im Gesamtwerk des Mannes schon öfter einen Auftritt hatten. „Keine wahre Liebe ohne Verrat“ heißt etwa eine kühne Behauptung zwischendrin, die mit der Stasi-verseuchten Ehe zwischen Vera Lengsfeld und Knud Wollenberger exemplifiziert wird, aber auch mit dem Finale der Serie „Homeland“ – Details würden hier zu weit führen, aber das Ganze löst durchaus ein längeres Nachgrübeln über die eigenen Beziehungen aus.

Auch wenn es mit ungebremster Wortgewalt gegen den „pseudolinken, politisch korrekten, starren Moralismus“ geht, den Žižek in akademischen Zirkeln überall am Werk sieht und der ihn der neuesten Linken mehr und mehr entfremdet, bleibt manchmal ein Vorschlag stehen, der zum Weiterdenken einlädt: „Das Problem steckt schon in der Idee einer akademischen Welt als ,Safe Space‘. Wir sollten dafür kämpfen, die Welt außerhalb der Universitäten sicher für alle zu machen, und wenn die akademische Welt sich an diesem Kampf beteiligen will, dann sollte sie gerade der Raum sein, wo wir uns offen mit sämtlichen rassistischen und sexistischen Gräueln auseinandersetzen.“

Das tut dieses Buch auf jeden Fall, etwa wenn Žižek populistische Gewalt und ihre „bürgerkriegsähnlichen Ausmaße“ untersucht und zu dem Schluss kommt, diese lasse sich nicht mehr einfach mit wirtschaftlichen Interessen und ideologischen Manipulationen erklären. „Man muss auch das (rassistische, sexistische) Genießen miteinbeziehen, wie es in den karnevalesken öffentlichen Veranstaltungen der Alt-Right deutlich zu erkennen ist“, schreibt er.

Lustvolle Rassisten etwa beim Sturm auf das US-Capitol – da ist man bei der titelgebenden „Mehrlust“ angelangt, einer Wortschöpfung Lacans, die auf Marx’ Begriff des „Mehrwerts“ zurückgeht, aber auch eine Verwandtschaft zu Freuds „Lustgewinn“ hat. Diese Mehrlust wirkt laut Žižek nicht nur bei der Alt-Right, sondern auch in zahllosen anderen paradoxen Konstellationen, etwa wenn ein zur Rettung des Klimas erzwungener Verzicht auf das Auto in den perversen Lustgewinn umschlägt, noch im übelsten Eisregen mit dem Fahrrad ins Büro zu fahren. Žižek wirkt oft dann am hellsichtigsten, wenn er dank seines psychoanalytischen Blicks die libidinösen Unterströme in der Gesellschaft offenlegt.

Eine solche Beobachtung, in der er seiner slowenischen Philosophenkollegin Alenka Zupančič folgt, führt dann auch wieder zur Pandemie zurück – und zum Verständnis dessen, was da eigentlich passiert ist. Als Corona-Skeptiker gegen Hygenievorschriften und Ausgangssperren mobilmachten und sich die Masken vom Kopf rissen, konnte man ja annehmen, sie fühlten sich von einer mächtigen neuen Verbotsautorität bedrängt, gegen die es zu rebellieren galt. Ihr Furor erschien aber – angesichts des offen wie nie zuvor ausgestellten Diskurses der Unsicherheit in der Wissenschaft („Im Moment glauben wir dies, aber die Studienlage ist unklar, morgen kann anders sein“) – unerklärlich überdimensioniert.

Was aber, wenn es genau andersherum war? Wenn gerade das ewig Vorläufige der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die endgültige Abwesenheit einer wirklich erklärenden Autorität – des „großen Anderen“ Lacans – diese Menschen in eine fatale Mangellage gestürzt hat? Dann ergibt die folgende Entwicklung, die ungebremste Verbreitung eines wilden Verschwörungsglaubens, auf einmal sehr viel mehr Sinn.

Denn dann konstruieren sich diese Wahrheitssucher eine neue, allmächtige Autorität eben selbst, erfinden Strippenzieher im Herzen eines imaginierten, pharmazeutisch-industriellen Lügenkomplexes. Sie stellen den „großen Anderen“ damit wieder her, aber als Monster: „Ein konsistenter Gott kann nur ein böser Gott sein; alles andere ergibt keinen Sinn. Aber besser ein böser Gott als gar kein Gott.“

Bei diesem Gedanken angekommen, kann man den Andersdenkenden in Sachen Corona zugestehen, dass sie eben nicht alle kleine Donald Trumps sind – dass ihre Sehnsucht nach Wahrheit meistens echt ist. Und hat doch eine Idee, warum es trotzdem so gefährlich wurde. Damit zeigt Žižek einmal mehr, dass er jederzeit für Denkanstöße gut ist. Selbst wenn der Versuch, aus seinen Schriften ein kohärentes Gesamtbild herauszufiltern – oder gar Ideen, was man tun könnte –, auch diesmal nur im Haareraufen enden kann.

W

Am
hellsichtigsten
wirkt Žižek
oft dann,
wenn er die
libidinösen
Unterströme der
Gesellschaft
offenlegt

Slavoj Žižek: Paradoxien der Mehrlust.
Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten.
Aus dem Englischen
von Frank Born
und Axel Walter.
S. Fischer,
Frankfurt a.M. 2023.
496 Seiten, 28 Euro.

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

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