Die Suche danach, was aus dem Traum einer multikulturellen Gesellschaft geworden ist.
Was machen eigentlich die Klassenkameraden von früher alle so? Ist aus ihnen das geworden, was wir damals schon von ihnen dachten? Und inwieweit prägt die Schule, die wir besuchten, den Lebenslauf von uns allen? Als der Journalist Patrick Bauer Ahmed, seinen besten Freund von einst, zufällig wiedertrifft, will dieser ihm Drogen verkaufen. Ahmed und Patrick waren gemeinsam auf einer fortschrittlichen Grundschule in Berlin-Kreuzberg, auf der Kinder aus unterschiedlichen Verhältnissen und Kulturen von früh an einen gemeinsamen Lebensweg beginnen sollten. Warum hat das nicht geklappt?
Irgendwo, an irgendeiner Stelle haben sich die Klassenkameraden von Patrick Bauer verloren. Die deutschen Kinder starteten nach der Grundschule in ein Leben, wie man es sich vorstellt: Abitur, Studium, Ausbildung, WG, Freundin, Freund, Job. Man trifft sich hier und da. Nicht alle sind glücklich geworden. Aber niemand ist wirklich aus der Reihe gefallen. Fast alle der zahlreichen Mitschüler aus anderen Kulturen, der Mitschüler mit den lustigen Namen, die für die deutschen Kinder so schnell normal geworden waren, sind dagegen in eine andere Welt abgebogen. In eine Welt, von der die anderen nichts mehr mitbekamen. Und so macht sich Patrick Bauer - in Zeiten, da so viele Meinungsmacher schnelle und einfache Erklärungen dafür finden wollen, warum es mit dem Miteinander zwischen »Einheimischen« und den »Zuwanderer-Nachfahren« in Deutschland nicht so recht funktionieren will - auf eine sehr komische und anrührende Suche nach seinen alten Klassenkameraden.
Was machen eigentlich die Klassenkameraden von früher alle so? Ist aus ihnen das geworden, was wir damals schon von ihnen dachten? Und inwieweit prägt die Schule, die wir besuchten, den Lebenslauf von uns allen? Als der Journalist Patrick Bauer Ahmed, seinen besten Freund von einst, zufällig wiedertrifft, will dieser ihm Drogen verkaufen. Ahmed und Patrick waren gemeinsam auf einer fortschrittlichen Grundschule in Berlin-Kreuzberg, auf der Kinder aus unterschiedlichen Verhältnissen und Kulturen von früh an einen gemeinsamen Lebensweg beginnen sollten. Warum hat das nicht geklappt?
Irgendwo, an irgendeiner Stelle haben sich die Klassenkameraden von Patrick Bauer verloren. Die deutschen Kinder starteten nach der Grundschule in ein Leben, wie man es sich vorstellt: Abitur, Studium, Ausbildung, WG, Freundin, Freund, Job. Man trifft sich hier und da. Nicht alle sind glücklich geworden. Aber niemand ist wirklich aus der Reihe gefallen. Fast alle der zahlreichen Mitschüler aus anderen Kulturen, der Mitschüler mit den lustigen Namen, die für die deutschen Kinder so schnell normal geworden waren, sind dagegen in eine andere Welt abgebogen. In eine Welt, von der die anderen nichts mehr mitbekamen. Und so macht sich Patrick Bauer - in Zeiten, da so viele Meinungsmacher schnelle und einfache Erklärungen dafür finden wollen, warum es mit dem Miteinander zwischen »Einheimischen« und den »Zuwanderer-Nachfahren« in Deutschland nicht so recht funktionieren will - auf eine sehr komische und anrührende Suche nach seinen alten Klassenkameraden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.11.2011Die Schule brennt
Nirgendwo hängt beruflicher Erfolg so sehr
von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland
Diese Geschichte nahm ihren Lauf mit einem Lauf: Der Neon -Redakteur Patrick Bauer joggte eines Nachmittags durch einen Kreuzberger Park, als er von einem türkischstämmigen Typen in Bomberjacke angezischt wurde, ob er Stoff brauche. Bauer brauchte nichts, erkannte aber den jungen Mann wieder und merkte, dass in dieser Begegnung ein Stoff ganz anderer Art steckt. Vor ihm stand Ahmed. Sein Banknachbar aus der Grundschule. Ahmed, mit dem zusammen er 1990 eingeschult worden war. Ahmed mit der Zahnlücke und dem glucksenden Lachen, der die Deutschen nur Kartoffeln nannte und der oft Sechsen im Diktat bekam, weshalb ihm Bauer dann Nachhilfe gab, wofür Ahmed seine Mathe-Hausaufgaben machte.
Die Blücherschule an der Grenze zwischen Neukölln und Kreuzberg war damals eine Art pädagogisches Labor: Ist doch toll, sagten Bauers Eltern, wenn hier Akademikerkinder mit Arbeiterkindern zusammenkommen. Ist doch kulturell bereichernd, wenn Patricks Mitschüler aus Sri Lanka und Teheran stammen. Und es war anscheinend tatsächlich schön; Bauer malt ein Bild geglückter Integration: „Wir stritten uns über Lieblingsfarben und Lieblingsvereine, wir bildeten Grüppchen und waren sicher sehr oft gemein zueinander. Aber eine Sache spielte in unserer Klasse nie eine Rolle. Unsere Herkunft. Wir alle kamen aus Berlin.“ Jetzt aber ist der eine ein erfolgreicher Journalist, der andere steht am Zaun und vertickt anscheinend Drogen.
Für Patrick Bauer ist die peinliche Begegnung Anlass zu schauen, was aus all seinen ehemaligen Klassenkameraden wurde. Aus der strebsamen Arzu, aus Elin, Murat, Sibel. Und was aus dem stillen Sven, aus Tanja mit der arbeitslosen Mutter und aus Simon mit den Ökoeltern. Das Buch, das daraus entstanden ist, sollte jeder deutsche Bildungspolitiker lesen, schließlich zeigt „Die Parallelklasse. Ahmed, ich und die anderen – Die Lüge von der Chancengleichheit“ ( Luchterhand, 192 Seiten, 14,99 Euro ) wie in einem Brennspiegel, dass Deutschland in Sachen Bildungspolitik eine lupenreine Klassengesellschaft ist.
Zwei Gruppen gibt es in diesem Buch. Diejenigen, die sich sofort auf Bauers Anfrage melden und dann gemeinsam mit ihm in nostalgischen Gesprächen schwelgen – oder ihm zumindest bereitwillig Auskunft geben. Und diejenigen, die sich verstecken, entziehen, verleugnen lassen. Der Graben zwischen den beiden Gruppen verläuft nicht entlang ethnischer, sondern entlang sozialer Trennungslinien. Bauer findet drei ehemalige Klassenkameraden aus iranischen Familien, die schöne Berufe haben beziehungsweise in einem anspruchsvollen Studium stecken; ihre Eltern waren jeweils Akademiker und sind aus politischen Gründen geflohen. Und es gibt den türkischstämmigen Fatih, dessen Eltern sich nicht um seine Ausbildung gekümmert haben, der aber dennoch Architekt wurde. Dieser Fatih erklärt sich seinen beruflichen Erfolg durch einen glücklichen Zufall: „Wäre ich nicht zufällig in diesen Kindergarten gekommen, der gleich neben unserem Haus lag und in dem fast nur Deutsche waren, wäre ich in der ersten Klasse bestimmt nicht so gut mitgekommen.“
„Die Parallelklasse“ ist deshalb so beeindruckend, weil die darin beschriebenen 30 Biographien das größte Problem deutscher Bildungspolitik eklatant belegen: In keinem anderen OECD-Land ist die soziale Vererbung so hoch wie bei uns. Wer aus einem armen Elternhaus kommt, bleibt arm, wer in bürgerlichen Verhältnissen aufwächst, hat gute Chancen, selbst wieder in der Mittelschicht zu landen. Oder wie es bei Bauer heißt: „Die Schüler, die in der ersten Klasse Probleme hatten mitzukommen, hatten auch nach der sechsten Klasse Probleme mitzukommen. Deswegen kamen sie in vielen Fällen nirgendwo an. Diese Schüler stammten aus Elternhäusern, die man bildungsfern nennt und sozial schwach.“
Heinz Buschkowsky ist Bezirksbürgermeister in dem Stadtteil, in dem die Blücher-Schule liegt. Er fordert seit Jahren Kindergartenpflicht für Kinder ab dem ersten Lebensjahr, schließlich geht die Schere schon in einem Alter auf, in dem die Kinder noch nicht mal „Schere“ sagen können. In einem flammenden Plädoyer schrieb Buschkowsky vor wenigen Monaten: „Obwohl Deutschland von allen OECD-Staaten das meiste Geld für die Familienförderung aufwendet, sind andere Länder auf diesem Sektor weitaus erfolgreicher. Sie investieren direkt in die Welt der Kinder. In Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen, freie Lernmittel, Lehrer und Sozialarbeiter an den Schulen.“
Wer glaubt, das sei eben SPD-Gerede, dem sei eine Studie der Boston Consulting Group empfohlen, in dem der Bundesregierung dringend nahegelegt wird, eine kostenlose Vorschule zu finanzieren, frühe Sprachförderung in den Mittelpunkt ihrer Bildungspolitik zu stellen und Ganztagesschulen mit echtem pädagogischen Konzept und mehr Personal als bisher zur Verfügung zu stellen. Das würde laut BCG fünf Milliarden Euro kosten – würde sich bis 2030 aber sechsfach rentieren: 30 Milliarden Mehreinnahmen errechneten die Unternehmensberater durch zusätzliche Steuereinnahmen und den Wegfall von Sozialhilfen.
Statt aber endlich umzubauen, wird das bestehende System zementiert, wo es nur geht, Studiengebühren fallen weg, Kindertagesstättenplätze aber kosten bis zu 500 Euro im Monat. Und die letzte Kürzung des Elterngeldes kann man in ihrer Einseitigkeit nur als obszön bezeichnen: Hartz-IV-Empfänger bekommen statt 300 Euro nichts mehr, Besserverdienende aber erhalten weiterhin 1800 Euro im Monat. Das ist Zugbrückenpolitik, nichts weiter. Statt Kindern aus ärmeren Familien stärker unter die Arme zu greifen, wird der Elite finanzielles Gleitmittel einverleibt, auf dass sie viel gebären möge.
Die Folge ist ein immenser „Statusfatalismus“, wie das Allensbach-Institut die Totalresignation mal nannte, mit der sich viele Abgehängte abwenden. Sven, der in der Schule schon schlecht war, weil sich niemand um ihn kümmerte, und der heute Parks säubert, eine „Maßnahme“ der Arbeitsagentur, sagt bei ihrem Treffen achselzuckend zu Patrick Bauer: „Träume sind sinnlos, schau dich um, bringt ja nichts.“
Bauer regt sich zu Beginn des Buches über einen Münchner Freund auf, der ihm erzählt, er und seine Frau hätten bei der Einschulung des eigenen Kindes auf jedem einzelnen Klassenfoto in den Gängen die farbigen Kinder gezählt und sich dann gegen diese Schule entschieden. Sichtlich angewidert zitiert Bauer den Freund, der vorher betonte, er sei ja Grünenwähler und überhaupt eher links: „Vielleicht widerspreche ich meinen politischen Überzeugungen, aber ich will meine Tochter nicht opfern.“
Nach seiner 180-seitigen Spurensuche aber steht für Bauer fest, dass auch er seinen Sohn nicht „opfern“ wird: „Ich finde es schrecklich, dass die Schulklassen heute oft den sozialen Klassen entsprechend aufgeteilt sind. Vor einigen Monaten hätte ich gesagt, dass ich mein Kind auch auf einer Problemschule in Neukölln anmelden würde. Aus Prinzip. Heute finde ich die Vorstellung unvorstellbar. Er soll nicht aus Prinzip die trübe Suppe auslöffeln, die Jahrzehnte verfehlter Bildungs- und Integrationspolitik seiner Generation eingebrockt haben.“
Womit wir bei dem eigentlichen Sprengstoff wären, den die so souverän und auch großteils lustig erzählten Biographien in ihrer Sammlung bergen: Schulen wie die Blücher-Schule, die zu Bauers Schulzeit noch als Melting-Pots gedacht waren, funktionieren in Zeiten kollektiver Abstiegsängste wie soziale Zentrifugen: Eltern, die es sich leisten können, ziehen weg oder melden – zumindest in den Bundesländern, in denen noch die sogenannte Sprengelpflicht besteht –, mit Scheinwohnsitzen ihre Kinder an anderen Schulen an. Auch die meisten türkischstämmigen Klassenkameraden sagten Bauer während seiner Recherche, sie würden ihr Kind heute auf jeden Fall anderswo anmelden.
Der Rest bleibt dann unter sich: Bei einem Besuch an seiner alten Schule findet Bauer seine ehemalige Lehrerin, Frau Schach, eine warmherzige, kluge, witzige Frau, die ihm die traurige Geschichte vom Ausbaden gesellschaftlicher Versäumnisse erzählt, von fehlendem Respekt, steigenden Aggressionen, totalem Frust und von „umgekippten“ Klassen.
So existieren mitten in der Hauptstadt in Sachen Segregation längst amerikanische Verhältnisse: Es gibt in Kreuzberg heute vier Vorzeige-Grundschulen, in denen der Anteil deutscher Schüler fast bei hundert Prozent liegt. Und es gibt Orte wie die Blücher-Schule, eine „marode Insel in einem chicen Bezirk“, wie Bauer schreibt, Schulen, in denen in Form von schlecht ausgebildeten Kindern katastrophale Schulden aufgehäuft werden.
ALEX RÜHLE
Die Schere geht auf in einem Alter,
in dem viele Kinder noch gar nicht
„Schere“ sagen können
Resultat dieser Bildungspolitik
ist totaler Fatalismus:
„Träume? Bringt doch nichts!“
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nirgendwo hängt beruflicher Erfolg so sehr
von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland
Diese Geschichte nahm ihren Lauf mit einem Lauf: Der Neon -Redakteur Patrick Bauer joggte eines Nachmittags durch einen Kreuzberger Park, als er von einem türkischstämmigen Typen in Bomberjacke angezischt wurde, ob er Stoff brauche. Bauer brauchte nichts, erkannte aber den jungen Mann wieder und merkte, dass in dieser Begegnung ein Stoff ganz anderer Art steckt. Vor ihm stand Ahmed. Sein Banknachbar aus der Grundschule. Ahmed, mit dem zusammen er 1990 eingeschult worden war. Ahmed mit der Zahnlücke und dem glucksenden Lachen, der die Deutschen nur Kartoffeln nannte und der oft Sechsen im Diktat bekam, weshalb ihm Bauer dann Nachhilfe gab, wofür Ahmed seine Mathe-Hausaufgaben machte.
Die Blücherschule an der Grenze zwischen Neukölln und Kreuzberg war damals eine Art pädagogisches Labor: Ist doch toll, sagten Bauers Eltern, wenn hier Akademikerkinder mit Arbeiterkindern zusammenkommen. Ist doch kulturell bereichernd, wenn Patricks Mitschüler aus Sri Lanka und Teheran stammen. Und es war anscheinend tatsächlich schön; Bauer malt ein Bild geglückter Integration: „Wir stritten uns über Lieblingsfarben und Lieblingsvereine, wir bildeten Grüppchen und waren sicher sehr oft gemein zueinander. Aber eine Sache spielte in unserer Klasse nie eine Rolle. Unsere Herkunft. Wir alle kamen aus Berlin.“ Jetzt aber ist der eine ein erfolgreicher Journalist, der andere steht am Zaun und vertickt anscheinend Drogen.
Für Patrick Bauer ist die peinliche Begegnung Anlass zu schauen, was aus all seinen ehemaligen Klassenkameraden wurde. Aus der strebsamen Arzu, aus Elin, Murat, Sibel. Und was aus dem stillen Sven, aus Tanja mit der arbeitslosen Mutter und aus Simon mit den Ökoeltern. Das Buch, das daraus entstanden ist, sollte jeder deutsche Bildungspolitiker lesen, schließlich zeigt „Die Parallelklasse. Ahmed, ich und die anderen – Die Lüge von der Chancengleichheit“ ( Luchterhand, 192 Seiten, 14,99 Euro ) wie in einem Brennspiegel, dass Deutschland in Sachen Bildungspolitik eine lupenreine Klassengesellschaft ist.
Zwei Gruppen gibt es in diesem Buch. Diejenigen, die sich sofort auf Bauers Anfrage melden und dann gemeinsam mit ihm in nostalgischen Gesprächen schwelgen – oder ihm zumindest bereitwillig Auskunft geben. Und diejenigen, die sich verstecken, entziehen, verleugnen lassen. Der Graben zwischen den beiden Gruppen verläuft nicht entlang ethnischer, sondern entlang sozialer Trennungslinien. Bauer findet drei ehemalige Klassenkameraden aus iranischen Familien, die schöne Berufe haben beziehungsweise in einem anspruchsvollen Studium stecken; ihre Eltern waren jeweils Akademiker und sind aus politischen Gründen geflohen. Und es gibt den türkischstämmigen Fatih, dessen Eltern sich nicht um seine Ausbildung gekümmert haben, der aber dennoch Architekt wurde. Dieser Fatih erklärt sich seinen beruflichen Erfolg durch einen glücklichen Zufall: „Wäre ich nicht zufällig in diesen Kindergarten gekommen, der gleich neben unserem Haus lag und in dem fast nur Deutsche waren, wäre ich in der ersten Klasse bestimmt nicht so gut mitgekommen.“
„Die Parallelklasse“ ist deshalb so beeindruckend, weil die darin beschriebenen 30 Biographien das größte Problem deutscher Bildungspolitik eklatant belegen: In keinem anderen OECD-Land ist die soziale Vererbung so hoch wie bei uns. Wer aus einem armen Elternhaus kommt, bleibt arm, wer in bürgerlichen Verhältnissen aufwächst, hat gute Chancen, selbst wieder in der Mittelschicht zu landen. Oder wie es bei Bauer heißt: „Die Schüler, die in der ersten Klasse Probleme hatten mitzukommen, hatten auch nach der sechsten Klasse Probleme mitzukommen. Deswegen kamen sie in vielen Fällen nirgendwo an. Diese Schüler stammten aus Elternhäusern, die man bildungsfern nennt und sozial schwach.“
Heinz Buschkowsky ist Bezirksbürgermeister in dem Stadtteil, in dem die Blücher-Schule liegt. Er fordert seit Jahren Kindergartenpflicht für Kinder ab dem ersten Lebensjahr, schließlich geht die Schere schon in einem Alter auf, in dem die Kinder noch nicht mal „Schere“ sagen können. In einem flammenden Plädoyer schrieb Buschkowsky vor wenigen Monaten: „Obwohl Deutschland von allen OECD-Staaten das meiste Geld für die Familienförderung aufwendet, sind andere Länder auf diesem Sektor weitaus erfolgreicher. Sie investieren direkt in die Welt der Kinder. In Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen, freie Lernmittel, Lehrer und Sozialarbeiter an den Schulen.“
Wer glaubt, das sei eben SPD-Gerede, dem sei eine Studie der Boston Consulting Group empfohlen, in dem der Bundesregierung dringend nahegelegt wird, eine kostenlose Vorschule zu finanzieren, frühe Sprachförderung in den Mittelpunkt ihrer Bildungspolitik zu stellen und Ganztagesschulen mit echtem pädagogischen Konzept und mehr Personal als bisher zur Verfügung zu stellen. Das würde laut BCG fünf Milliarden Euro kosten – würde sich bis 2030 aber sechsfach rentieren: 30 Milliarden Mehreinnahmen errechneten die Unternehmensberater durch zusätzliche Steuereinnahmen und den Wegfall von Sozialhilfen.
Statt aber endlich umzubauen, wird das bestehende System zementiert, wo es nur geht, Studiengebühren fallen weg, Kindertagesstättenplätze aber kosten bis zu 500 Euro im Monat. Und die letzte Kürzung des Elterngeldes kann man in ihrer Einseitigkeit nur als obszön bezeichnen: Hartz-IV-Empfänger bekommen statt 300 Euro nichts mehr, Besserverdienende aber erhalten weiterhin 1800 Euro im Monat. Das ist Zugbrückenpolitik, nichts weiter. Statt Kindern aus ärmeren Familien stärker unter die Arme zu greifen, wird der Elite finanzielles Gleitmittel einverleibt, auf dass sie viel gebären möge.
Die Folge ist ein immenser „Statusfatalismus“, wie das Allensbach-Institut die Totalresignation mal nannte, mit der sich viele Abgehängte abwenden. Sven, der in der Schule schon schlecht war, weil sich niemand um ihn kümmerte, und der heute Parks säubert, eine „Maßnahme“ der Arbeitsagentur, sagt bei ihrem Treffen achselzuckend zu Patrick Bauer: „Träume sind sinnlos, schau dich um, bringt ja nichts.“
Bauer regt sich zu Beginn des Buches über einen Münchner Freund auf, der ihm erzählt, er und seine Frau hätten bei der Einschulung des eigenen Kindes auf jedem einzelnen Klassenfoto in den Gängen die farbigen Kinder gezählt und sich dann gegen diese Schule entschieden. Sichtlich angewidert zitiert Bauer den Freund, der vorher betonte, er sei ja Grünenwähler und überhaupt eher links: „Vielleicht widerspreche ich meinen politischen Überzeugungen, aber ich will meine Tochter nicht opfern.“
Nach seiner 180-seitigen Spurensuche aber steht für Bauer fest, dass auch er seinen Sohn nicht „opfern“ wird: „Ich finde es schrecklich, dass die Schulklassen heute oft den sozialen Klassen entsprechend aufgeteilt sind. Vor einigen Monaten hätte ich gesagt, dass ich mein Kind auch auf einer Problemschule in Neukölln anmelden würde. Aus Prinzip. Heute finde ich die Vorstellung unvorstellbar. Er soll nicht aus Prinzip die trübe Suppe auslöffeln, die Jahrzehnte verfehlter Bildungs- und Integrationspolitik seiner Generation eingebrockt haben.“
Womit wir bei dem eigentlichen Sprengstoff wären, den die so souverän und auch großteils lustig erzählten Biographien in ihrer Sammlung bergen: Schulen wie die Blücher-Schule, die zu Bauers Schulzeit noch als Melting-Pots gedacht waren, funktionieren in Zeiten kollektiver Abstiegsängste wie soziale Zentrifugen: Eltern, die es sich leisten können, ziehen weg oder melden – zumindest in den Bundesländern, in denen noch die sogenannte Sprengelpflicht besteht –, mit Scheinwohnsitzen ihre Kinder an anderen Schulen an. Auch die meisten türkischstämmigen Klassenkameraden sagten Bauer während seiner Recherche, sie würden ihr Kind heute auf jeden Fall anderswo anmelden.
Der Rest bleibt dann unter sich: Bei einem Besuch an seiner alten Schule findet Bauer seine ehemalige Lehrerin, Frau Schach, eine warmherzige, kluge, witzige Frau, die ihm die traurige Geschichte vom Ausbaden gesellschaftlicher Versäumnisse erzählt, von fehlendem Respekt, steigenden Aggressionen, totalem Frust und von „umgekippten“ Klassen.
So existieren mitten in der Hauptstadt in Sachen Segregation längst amerikanische Verhältnisse: Es gibt in Kreuzberg heute vier Vorzeige-Grundschulen, in denen der Anteil deutscher Schüler fast bei hundert Prozent liegt. Und es gibt Orte wie die Blücher-Schule, eine „marode Insel in einem chicen Bezirk“, wie Bauer schreibt, Schulen, in denen in Form von schlecht ausgebildeten Kindern katastrophale Schulden aufgehäuft werden.
ALEX RÜHLE
Die Schere geht auf in einem Alter,
in dem viele Kinder noch gar nicht
„Schere“ sagen können
Resultat dieser Bildungspolitik
ist totaler Fatalismus:
„Träume? Bringt doch nichts!“
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2011Klassentreffen in Kreuzberg
Über die Gewinner und Verlierer im Bildungssystem
Die Geschichte beginnt in einem Park. Einem Park in Berlin-Kreuzberg, dort, wo sich alle treffen. Die modernen Großstadtbürger, die hier gelegentlich vor oder nach der Arbeit eine Runde joggen. Und diejenigen, die im Park arbeiten, Drogen verkaufen. Es sind zwei unterschiedliche Welten, und normalerweise achtet jede auf ausreichend Abstand zur anderen. Wie es ist, wenn diese zwei Welten aufeinanderprallen, davon handelt das Buch "Die Parallelklasse".
"Als ich Ahmed nach zehn Jahren wiedersehe, will er mir Drogen verkaufen." "Ich", das ist Patrick Bauer, der Autor, einer der Jogger im Park. Ahmed, das ist einer der anderen - und Bauers früherer Klassenkamerad. Es ist ein denkwürdiges Wiedersehen und für Bauer Anlass nachzuforschen, was aus seinen früheren Mitschülern aus der Kreuzberger Blücher-Grundschule geworden ist, und warum. Das Ergebnis ist keine allgemeingültige Analyse des deutschen Bildungssystems unter besonderer Berücksichtigung von Kindern mit Migrationshintergrund. Es ist nur ein Schlaglicht - eine Schule, eine Klasse, eine Art Klassentreffen. Und doch sagt es vieles darüber aus, warum in Deutschland trotz jahrelanger Integrationsbemühungen Parallelgesellschaften existieren. Diese Geschichte könnte genauso gut im Multikultiviertel von Frankfurt, Köln oder Hamburg spielen.
Bauer ist an der Grenze zwischen den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln großgeworden, in einem Problemkiez schon damals. Viele seiner Klassenkameraden waren "NdH"-Kinder, wie es in der Lehrersprache heißt, Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache. Kinder wie Ahmed. Nach der Grundschule trennten sich ihre Wege: Die meisten "Kartoffeln" (so nennt Ahmed die Deutschen) bekamen eine Empfehlung fürs Gymnasium, die meisten NdHs eine für die Haupt- oder Realschule. Die Kartoffeln wohnen heute in einer der sanierten Altbauetagen, klappen in Cafés ihre Macbooks auf und essen Zitronentarte. Die anderen leben in einer dieser Siedlungen, wo vor lauter Satellitenschüsseln die Balkone kaum noch zu erkennen sind. Die Realität bestätigt so manches Klischee.
Mit der Blücher-Grundschule hat das alles wenig zu tun, das wird bei der Lektüre schnell klar. Die Weichen, wohin sich Lebenswege entwickeln, sie werden viel früher gestellt: im Kleinkindalter. Einer der wenigen NdH-Schüler, die eine respektable Karriere gemacht haben, sagt, er habe schlicht Glück gehabt. Glück, dass er zufällig in einen Kindergarten gegangen sei, den fast nur deutsche Kinder besucht hätten. So lernte er die Sprache, so konnte er in der Schule gut mitarbeiten und im Bildungssystem aufsteigen. Wer mit Defiziten in die Grundschule komme, verlasse sie auch mit Defiziten, sagt ein Lehrer.
Es ist ein Buch, das Heinz Buschkowsky gefallen dürfte. Der Berliner SPD-Politiker ist ein Verfechter der Kita-Pflicht ab dem Alter von einem Jahr - zumindest in sozialen Brennpunkten. Und es ist ein Buch, das zeigt, wie gefährlich das von der Bundesregierung geplante Betreuungsgeld ist, jene Belohnung für Eltern, die ihr Kind nicht in eine Kita geben. So kommen weiter diejenigen voran, deren Eltern es wollen und fördern. Die anderen wursteln sich irgendwie durch. Und irgendwann trifft man sich dann vielleicht im Park.
JULIA LÖHR.
Patrick Bauer, Die Parallelklasse.
Luchterhand Literaturverlag, München 2011. 190 Seiten, 14,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Über die Gewinner und Verlierer im Bildungssystem
Die Geschichte beginnt in einem Park. Einem Park in Berlin-Kreuzberg, dort, wo sich alle treffen. Die modernen Großstadtbürger, die hier gelegentlich vor oder nach der Arbeit eine Runde joggen. Und diejenigen, die im Park arbeiten, Drogen verkaufen. Es sind zwei unterschiedliche Welten, und normalerweise achtet jede auf ausreichend Abstand zur anderen. Wie es ist, wenn diese zwei Welten aufeinanderprallen, davon handelt das Buch "Die Parallelklasse".
"Als ich Ahmed nach zehn Jahren wiedersehe, will er mir Drogen verkaufen." "Ich", das ist Patrick Bauer, der Autor, einer der Jogger im Park. Ahmed, das ist einer der anderen - und Bauers früherer Klassenkamerad. Es ist ein denkwürdiges Wiedersehen und für Bauer Anlass nachzuforschen, was aus seinen früheren Mitschülern aus der Kreuzberger Blücher-Grundschule geworden ist, und warum. Das Ergebnis ist keine allgemeingültige Analyse des deutschen Bildungssystems unter besonderer Berücksichtigung von Kindern mit Migrationshintergrund. Es ist nur ein Schlaglicht - eine Schule, eine Klasse, eine Art Klassentreffen. Und doch sagt es vieles darüber aus, warum in Deutschland trotz jahrelanger Integrationsbemühungen Parallelgesellschaften existieren. Diese Geschichte könnte genauso gut im Multikultiviertel von Frankfurt, Köln oder Hamburg spielen.
Bauer ist an der Grenze zwischen den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln großgeworden, in einem Problemkiez schon damals. Viele seiner Klassenkameraden waren "NdH"-Kinder, wie es in der Lehrersprache heißt, Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache. Kinder wie Ahmed. Nach der Grundschule trennten sich ihre Wege: Die meisten "Kartoffeln" (so nennt Ahmed die Deutschen) bekamen eine Empfehlung fürs Gymnasium, die meisten NdHs eine für die Haupt- oder Realschule. Die Kartoffeln wohnen heute in einer der sanierten Altbauetagen, klappen in Cafés ihre Macbooks auf und essen Zitronentarte. Die anderen leben in einer dieser Siedlungen, wo vor lauter Satellitenschüsseln die Balkone kaum noch zu erkennen sind. Die Realität bestätigt so manches Klischee.
Mit der Blücher-Grundschule hat das alles wenig zu tun, das wird bei der Lektüre schnell klar. Die Weichen, wohin sich Lebenswege entwickeln, sie werden viel früher gestellt: im Kleinkindalter. Einer der wenigen NdH-Schüler, die eine respektable Karriere gemacht haben, sagt, er habe schlicht Glück gehabt. Glück, dass er zufällig in einen Kindergarten gegangen sei, den fast nur deutsche Kinder besucht hätten. So lernte er die Sprache, so konnte er in der Schule gut mitarbeiten und im Bildungssystem aufsteigen. Wer mit Defiziten in die Grundschule komme, verlasse sie auch mit Defiziten, sagt ein Lehrer.
Es ist ein Buch, das Heinz Buschkowsky gefallen dürfte. Der Berliner SPD-Politiker ist ein Verfechter der Kita-Pflicht ab dem Alter von einem Jahr - zumindest in sozialen Brennpunkten. Und es ist ein Buch, das zeigt, wie gefährlich das von der Bundesregierung geplante Betreuungsgeld ist, jene Belohnung für Eltern, die ihr Kind nicht in eine Kita geben. So kommen weiter diejenigen voran, deren Eltern es wollen und fördern. Die anderen wursteln sich irgendwie durch. Und irgendwann trifft man sich dann vielleicht im Park.
JULIA LÖHR.
Patrick Bauer, Die Parallelklasse.
Luchterhand Literaturverlag, München 2011. 190 Seiten, 14,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Segregation ist mitten unter uns. Für Alex Rühle eine erschreckende Erkenntnis, die das Buch von Patrick Bauer ihm eröffnet. Allerdings schreibt Bauer als Neon-Redakteur offenbar auch souverän und witzig genug, um das ganze Elend der sozialen Vererbungslehre, das hier anhand von 30 Biografien vergleichend erörtert wird, dem Leser erträglich zu machen. Was in dem Buch über Murat, Arzu und Sibel und den kleinen Patrick natürlich drinsteht, möchte Rühle jedem deutschen Bildungspolitiker zu lesen geben. Wieso eigentlich? Um künftig Schulen zu verhindern, in denen, Zitat: "in Form von schlecht ausgebildeten Kindern katastrophale Schulden aufgehäuft werden." Wenn das kein Grund ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH