Diese Studie entwickelt unter Rückgriff auf erzähltheoretische, semantische, kognitive und kulturwissenschaftliche Ansätze ein Modell zur Beschreibung der Perspektivenstruktur narrativer Texte. Im Mittelpunkt stehen nicht nur formale Aspekte multiperspektivischen Erzählens, sondern vor allem die Effekte, die sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Perspektiven ergeben. Die Unterscheidung zwischen geschlossenen und offenen Perspektivenstrukturen und die Einbeziehung außerliterarischer Kontexte ermöglichen die Klärung der spannenden Frage, inwiefern multiperspektivisches Erzählen für die Gestaltung von kulturspezifischen Erfahrungen funktionalisiert wird. An zehn ausführlichen Interpretationen ausgewählter Romane sowohl von bekannten Autorinnen und Autoren (G. Eliot, O. Wilde, R. Kipling, J. Conrad, A. Huxley, E. M. Forster und V. Woolf) als auch von bisher in der Forschung weniger beachteten Romanciers (G. A. Henty, S. Grand und V. Sackville-West) wird die formale, semantische und funktionale Bandbreite multiperspektivischen Erzählens bie der Inszenierung von drei wichtigen Kulturthemen im Zeitraum zwischen Viktorianismus und Moderne demonstriert. Dabei zeigt sich, daß das den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts prototypische "single-point perspective system" zunehmend einer Gegenüberstellung unvereinbarer Perspektiven weicht und daß Multiperspektivität neben der Inszenierung eines epistemologischen Skeptizismus in ganz anderer Weise der Infragestellung traditioneller Weiblichkeitsvorstellungen und der Dekonstruktion imperialistischer Denkweisen dient.