Jahrzehntelang lebte Monika Sznajderman im Schatten des Schweigens. Ihr Vater hatte über seine Odyssee durch die Konzentrations- und Vernichtungslager, seine Flucht und die Rückkehr nach Warschau nie sprechen wollen. Bis die Fotos aus Übersee kamen: Absender waren Verwandte, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte. Sie beginnt zu recherchieren. Wenige Dokumente im Stadtarchiv von Radom und der Bericht des einzigen Überlebenden, des Großonkels Eliasz Sznajderman, im Holocaust Museum in Washington - mehr Spuren hat die große Familie in Polen nicht hinterlassen.
Im Gegensatz zu ihnen, »gewöhnlichen Menschen ohne Geschichte«, sind die polnischen Vorfahren der Mutter Angehörige der Oberschicht, national und antisemitisch eingestellte Gutsbesitzer und Unternehmer, die nach den Regeln und Gesetzen ihrer Klasse leben. Monika Sznajderman ist in ihren Recherchen weit fortgeschritten, als sie entdecken muss, dass etwa zur selben Zeit, als ein bekannter Künstler ihre elegante polnische Großmutter auf einem Gemälde verewigte, zweihundertfünfzig Kilometer weiter östlich ihre jüdische Großmutter von Ukrainern erschlagen wurde.
Die Geschichte, die Monika Sznajderman aus Interviews, Briefen, Fotos und veröffentlichten Quellen rekonstruiert, spricht mit seltener Eindringlichkeit von der Tragik des jahrhundertelangen polnisch-jüdischen Zusammenlebens, die nicht nur ihre Familie, sondern die ganze Gesellschaft bis heute nicht loslässt.
Im Gegensatz zu ihnen, »gewöhnlichen Menschen ohne Geschichte«, sind die polnischen Vorfahren der Mutter Angehörige der Oberschicht, national und antisemitisch eingestellte Gutsbesitzer und Unternehmer, die nach den Regeln und Gesetzen ihrer Klasse leben. Monika Sznajderman ist in ihren Recherchen weit fortgeschritten, als sie entdecken muss, dass etwa zur selben Zeit, als ein bekannter Künstler ihre elegante polnische Großmutter auf einem Gemälde verewigte, zweihundertfünfzig Kilometer weiter östlich ihre jüdische Großmutter von Ukrainern erschlagen wurde.
Die Geschichte, die Monika Sznajderman aus Interviews, Briefen, Fotos und veröffentlichten Quellen rekonstruiert, spricht mit seltener Eindringlichkeit von der Tragik des jahrhundertelangen polnisch-jüdischen Zusammenlebens, die nicht nur ihre Familie, sondern die ganze Gesellschaft bis heute nicht loslässt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2018Schlaglichter auf die polnisch-jüdische Geschichte
Durch die Brille der Opfer und der gleichgültigen Zeugen: Monika Sznajderman rekonstruiert die Erlebnisse ihrer Familie
Ist man ein Nestbeschmutzer, wenn man zugibt, die Schuld am Holocaust mitzutragen, beziehungsweise ein Geschichtsverfälscher, wenn man es bestreitet? Das ist eine der Fragen, mit der sich die Polen befassen müssen, seitdem in Warschau die nationalkonservative PiS-Partei regiert. Sie drängt sich auf durch ein Anfang 2018 verabschiedetes Gesetz, das hohe Strafen für die Verwendung der Bezeichnung "polnische Konzentrationslager", aber auch dafür vorsieht, Polen Mitschuld an der Judenvernichtung zu geben.
Genau um diese zwei Fragen kreist das Buch "Die Pfefferfälscher", in dem Monika Sznajderman, Verlegerin und Ehefrau des polnischen Autors Andrzej Stasiuk, vom Schicksal ihrer Familie erzählt. Genaugenommen, ihrer beiden Familien, denn sie ist halb Polin, halb Jüdin, und die Geschichten ihrer Vorfahren berühren einander nur insofern, als sie sich im selben Land und im selben Zeitraum abspielen - ansonsten verlaufen sie in der gleichen Parallelität, in der einst das Leben von Polen und Juden verlaufen ist.
Da ist einmal die Gutsbesitzerfamilie Lachert, der Sznajdermans Mutter entstammte. Sie gehörte dem Landadel an, der in der Region von Lublin ansässig war und dessen Alltag aus etwas Arbeit, karitativer Tätigkeit und sehr vielen Annehmlichkeiten bestand. Jagden, Tennis, Bridgepartien, Bälle, Picknicks, Pferderennen - all das hörte selbst dann nicht auf, als ringsherum längst der Krieg tobte. Auch Politik war ein Teil dieses Lebens. Die Familie war, mit einer Ausnahme, rechtskonservativ und sehr antisemitisch. Zygmunt Lachert etwa, Sznajdermans Großvater, war schon als Schüler Mitglied einer Schlägergruppe, um dann der faschistischen Nationalen Partei beizutreten, die "zur völligen Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben" aufrief.
Ausgerechnet dieser Familie stehen die Sznajdermans gegenüber, die jüdischen Vorfahren der Autorin väterlicherseits, von denen nur ihr Vater, Marek Sznajderman, die Judenvernichtung überlebte. Alle anderen - wenn man die Verwandten nicht mitzählt, die vor dem Krieg ausgewandert waren - wurden ermordet. Marek Sznajdermans Vater, der als Erster aus der Kleinstadt Radom nach Warschau zog und Arzt wurde, kam zusammen mit seinem jüngeren Bruder im Getto ums Leben. Seine Mutter Amelia wurde bei einem Pogrom im Osten Polens erschlagen. Marek Sznajderman selbst wurde aus Auschwitz befreit, über Einzelheiten wollte er aber später niemals sprechen. Er erlaubte der Tochter erst dann, sein Schweigen in eine Erzählung umzuwandeln, als er zunächst von Verwandten aus den Vereinigten Staate eine Sammlung von alten Familienfotos und dann ein amtliches Schreiben bekam, das ein immer noch ihm gehörendes Grundstück betraf. Diese beiden Zusendungen bewirkten, dass Monika Sznajderman beschloss, die Geschichte ihrer Familie zu rekonstruieren - für sich und für ihren Vater.
"Ich bin deine Erinnerung, Papa. Gewollt oder ungewollt", schreibt sie im ersten Kapitel ihres Buches, dem sie durchgehend diese Form der persönlichen Anrede gibt. Die Fotos, auf denen die Familie in einem Warschauer Vorwort zu sehen ist, stammen aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Die Geschichte muss aber früher, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, und in Radom beginnen. Das Problem ist nur, dass es vom dortigen jüdischen Leben keine Erinnerung gibt - als wäre es nur ein Traum oder eine Einbildung gewesen. Die Dürftigkeit des Materials merkt man diesem ersten Kapitel auch an. Monika Sznajderman tut zwar alles, um sie wettzumachen, indem sie ganze Passagen mit topographischen Details füllt oder aus unzähligen Quellen zitiert. Solche "Notmaßnahmen" sind dem Erzählfluss allerdings nicht unbedingt dienlich.
Viel flüssiger liest sich der polnische Teil des Buches, zu dem sie genug Stoff hatte, Briefe und Notizen mehrerer Verwandter eingeschlossen. Besonders aufschlussreich sind die Aufzeichnungen ihres Großvaters mütterlicherseits, dem während des Krieges der Ernst der Lage erst dann bewusst wird, als er bei seinen Fahrten nach Warschau die dortige Situation sieht: die ständigen Verhaftungen, Razzien und Deportationen. Allerdings hat Sznajderman auch den Eindruck, dass er, "wie übrigens die meisten Polen", die Verfolgung der Juden "kaum wahrnimmt". Gleichgültigkeit, die aus dem schon immer dagewesenen Gefühl der Fremdheit resultiert - so umschreibt sie das Verhältnis zwischen Polen und Juden. Für viele Polen hätten die Juden vor dem Krieg "bestenfalls als ein wertvoller Bestandteil ihrer persönlichen Welt, in den meisten Fällen jedoch als düsteres Objekt von Neid und Hass" oder "als wirtschaftliches Problem und als politische Frage", existiert. So erscheint ihr auch verständlich, dass, "die beiden Strömungen des Okkupationslebens - die jüdische und die polnische - überhaupt keine Gemeinsamkeiten" hatten.
Nur für sie selbst gibt es eine Gemeinsamkeit: Da sie nun die Geschichte ihrer Vorfahren kennt, schaut sie "durch eine doppelte Brille, und sie schauen mit mir". Sie - die Juden, die gejagt, gequält und gemordet wurden. Und sie - die Polen, die diesem Mord zuschauten, die sich darauf freuten, in einem Land ohne Juden zu leben, und die, statt den Verfolgten zu helfen, sie erpressten oder an die Deutschen verrieten.
Es besteht kein Zweifel, dass die Autorin, während sie ihrer Erzählung immer öfter die Wir-Form gibt, mit den einen mitleidet und sich für die anderen mitschuldig fühlt. Doch sie vergisst gleichzeitig nicht, dass zusammen mit der Welt ihrer jüdischen Vorfahren auch die ihrer polnischen Familie zerstört wurde: "Wir haben alles verloren, sowohl auf materiellem als auch auf geistigem Gebiet." Sie sei also "Zeugin eines doppelten Weltendes", lautet ihr Resümee. Auf eindringlichere Weise kann man die Tragik der polnisch-jüdischen Geschichte kaum zusammenfassen.
MARTA KIJOWSKA.
Monika Sznajderman: "Die Pfefferfälscher". Geschichte einer Familie.
Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Martin Pollack. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 280 S., geb., 28,- [Euro].
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Durch die Brille der Opfer und der gleichgültigen Zeugen: Monika Sznajderman rekonstruiert die Erlebnisse ihrer Familie
Ist man ein Nestbeschmutzer, wenn man zugibt, die Schuld am Holocaust mitzutragen, beziehungsweise ein Geschichtsverfälscher, wenn man es bestreitet? Das ist eine der Fragen, mit der sich die Polen befassen müssen, seitdem in Warschau die nationalkonservative PiS-Partei regiert. Sie drängt sich auf durch ein Anfang 2018 verabschiedetes Gesetz, das hohe Strafen für die Verwendung der Bezeichnung "polnische Konzentrationslager", aber auch dafür vorsieht, Polen Mitschuld an der Judenvernichtung zu geben.
Genau um diese zwei Fragen kreist das Buch "Die Pfefferfälscher", in dem Monika Sznajderman, Verlegerin und Ehefrau des polnischen Autors Andrzej Stasiuk, vom Schicksal ihrer Familie erzählt. Genaugenommen, ihrer beiden Familien, denn sie ist halb Polin, halb Jüdin, und die Geschichten ihrer Vorfahren berühren einander nur insofern, als sie sich im selben Land und im selben Zeitraum abspielen - ansonsten verlaufen sie in der gleichen Parallelität, in der einst das Leben von Polen und Juden verlaufen ist.
Da ist einmal die Gutsbesitzerfamilie Lachert, der Sznajdermans Mutter entstammte. Sie gehörte dem Landadel an, der in der Region von Lublin ansässig war und dessen Alltag aus etwas Arbeit, karitativer Tätigkeit und sehr vielen Annehmlichkeiten bestand. Jagden, Tennis, Bridgepartien, Bälle, Picknicks, Pferderennen - all das hörte selbst dann nicht auf, als ringsherum längst der Krieg tobte. Auch Politik war ein Teil dieses Lebens. Die Familie war, mit einer Ausnahme, rechtskonservativ und sehr antisemitisch. Zygmunt Lachert etwa, Sznajdermans Großvater, war schon als Schüler Mitglied einer Schlägergruppe, um dann der faschistischen Nationalen Partei beizutreten, die "zur völligen Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben" aufrief.
Ausgerechnet dieser Familie stehen die Sznajdermans gegenüber, die jüdischen Vorfahren der Autorin väterlicherseits, von denen nur ihr Vater, Marek Sznajderman, die Judenvernichtung überlebte. Alle anderen - wenn man die Verwandten nicht mitzählt, die vor dem Krieg ausgewandert waren - wurden ermordet. Marek Sznajdermans Vater, der als Erster aus der Kleinstadt Radom nach Warschau zog und Arzt wurde, kam zusammen mit seinem jüngeren Bruder im Getto ums Leben. Seine Mutter Amelia wurde bei einem Pogrom im Osten Polens erschlagen. Marek Sznajderman selbst wurde aus Auschwitz befreit, über Einzelheiten wollte er aber später niemals sprechen. Er erlaubte der Tochter erst dann, sein Schweigen in eine Erzählung umzuwandeln, als er zunächst von Verwandten aus den Vereinigten Staate eine Sammlung von alten Familienfotos und dann ein amtliches Schreiben bekam, das ein immer noch ihm gehörendes Grundstück betraf. Diese beiden Zusendungen bewirkten, dass Monika Sznajderman beschloss, die Geschichte ihrer Familie zu rekonstruieren - für sich und für ihren Vater.
"Ich bin deine Erinnerung, Papa. Gewollt oder ungewollt", schreibt sie im ersten Kapitel ihres Buches, dem sie durchgehend diese Form der persönlichen Anrede gibt. Die Fotos, auf denen die Familie in einem Warschauer Vorwort zu sehen ist, stammen aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Die Geschichte muss aber früher, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, und in Radom beginnen. Das Problem ist nur, dass es vom dortigen jüdischen Leben keine Erinnerung gibt - als wäre es nur ein Traum oder eine Einbildung gewesen. Die Dürftigkeit des Materials merkt man diesem ersten Kapitel auch an. Monika Sznajderman tut zwar alles, um sie wettzumachen, indem sie ganze Passagen mit topographischen Details füllt oder aus unzähligen Quellen zitiert. Solche "Notmaßnahmen" sind dem Erzählfluss allerdings nicht unbedingt dienlich.
Viel flüssiger liest sich der polnische Teil des Buches, zu dem sie genug Stoff hatte, Briefe und Notizen mehrerer Verwandter eingeschlossen. Besonders aufschlussreich sind die Aufzeichnungen ihres Großvaters mütterlicherseits, dem während des Krieges der Ernst der Lage erst dann bewusst wird, als er bei seinen Fahrten nach Warschau die dortige Situation sieht: die ständigen Verhaftungen, Razzien und Deportationen. Allerdings hat Sznajderman auch den Eindruck, dass er, "wie übrigens die meisten Polen", die Verfolgung der Juden "kaum wahrnimmt". Gleichgültigkeit, die aus dem schon immer dagewesenen Gefühl der Fremdheit resultiert - so umschreibt sie das Verhältnis zwischen Polen und Juden. Für viele Polen hätten die Juden vor dem Krieg "bestenfalls als ein wertvoller Bestandteil ihrer persönlichen Welt, in den meisten Fällen jedoch als düsteres Objekt von Neid und Hass" oder "als wirtschaftliches Problem und als politische Frage", existiert. So erscheint ihr auch verständlich, dass, "die beiden Strömungen des Okkupationslebens - die jüdische und die polnische - überhaupt keine Gemeinsamkeiten" hatten.
Nur für sie selbst gibt es eine Gemeinsamkeit: Da sie nun die Geschichte ihrer Vorfahren kennt, schaut sie "durch eine doppelte Brille, und sie schauen mit mir". Sie - die Juden, die gejagt, gequält und gemordet wurden. Und sie - die Polen, die diesem Mord zuschauten, die sich darauf freuten, in einem Land ohne Juden zu leben, und die, statt den Verfolgten zu helfen, sie erpressten oder an die Deutschen verrieten.
Es besteht kein Zweifel, dass die Autorin, während sie ihrer Erzählung immer öfter die Wir-Form gibt, mit den einen mitleidet und sich für die anderen mitschuldig fühlt. Doch sie vergisst gleichzeitig nicht, dass zusammen mit der Welt ihrer jüdischen Vorfahren auch die ihrer polnischen Familie zerstört wurde: "Wir haben alles verloren, sowohl auf materiellem als auch auf geistigem Gebiet." Sie sei also "Zeugin eines doppelten Weltendes", lautet ihr Resümee. Auf eindringlichere Weise kann man die Tragik der polnisch-jüdischen Geschichte kaum zusammenfassen.
MARTA KIJOWSKA.
Monika Sznajderman: "Die Pfefferfälscher". Geschichte einer Familie.
Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Martin Pollack. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 280 S., geb., 28,- [Euro].
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»Es ist eine sehr persönliche, so spannende wie traurige Geschichte.« Hans-Peter Kunisch Süddeutsche Zeitung 20180706