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Das Buch rekonstruiert den Prozeß der Protestentwicklung von der Formierung bis zum Zerfall der Mai-Bewegung mit den Methoden einer analytisch orientierten Geschichtswissenschaft, die Ideen-, Ereignis-, Sozial- und Strukturgeschichte integriert, Analyse und Narration kombiniert. Es entfaltet das Denken der Neuen Linken, skizziert die Trägergruppen der Bewegung, ihre Strategien, Aktionen, Koalitionen, und analysiert die Dynamik, welche die Mai-Bewegung durch unbeabsichtigte Handlungsfolgen in Konfrontation mit staatlichen Instanzen sowie unter dem Einfluß situativer Faktoren gewann. Die…mehr

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Produktbeschreibung
Das Buch rekonstruiert den Prozeß der Protestentwicklung von der Formierung bis zum Zerfall der Mai-Bewegung mit den Methoden einer analytisch orientierten Geschichtswissenschaft, die Ideen-, Ereignis-, Sozial- und Strukturgeschichte integriert, Analyse und Narration kombiniert. Es entfaltet das Denken der Neuen Linken, skizziert die Trägergruppen der Bewegung, ihre Strategien, Aktionen, Koalitionen, und analysiert die Dynamik, welche die Mai-Bewegung durch unbeabsichtigte Handlungsfolgen in Konfrontation mit staatlichen Instanzen sowie unter dem Einfluß situativer Faktoren gewann. Die Darstellung dramatischer Ereignisse (Nacht der Barrikaden, Besetzung des Odeon, Flucht de Gaulles nach Baden-Baden) verbindet sich mit der systematischen Analyse des Mobilisierungsprozesses der Neuen Linken, der einen »kritischen Moment« herbeiführte, in dem ein Umbruch denkbar und die Zukunft für eine andere Gesellschaft offen erschien.
Autorenporträt
Gilcher-Holtey, IngridIngrid Gilcher-Holtey lehrt Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt: »Die Phantasie an die Macht«. Mai 68 in Frankreich, 1995 (stw 1180).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995

Gegen Stalin und de Gaulle
Ingrid Gilcher-Holteys Chronik des Pariser Mai 1968 / Von Jürg Altwegg

Am 8. Januar des folgenreichen Jahres 1968 wurde in Nanterre das Schwimmbad der Universität eingeweiht. Im November zuvor war bereits ziemlich intensiv gestreikt worden. Die Behörden zogen es vor, den Studenten den Besuch des gaullistischen Ministers für Jugend und Sport, François Missoffe, gar nicht erst anzukündigen. Irgendwie aber bekamen die Studenten doch Wind von der Zeremonie. Ein Flugblatt lädt die Kommilitonen zur Gruppensexparty am Pool: "Ce soir, à 18 heures, partouze à la piscine."

Im Anschluß an die Eröffnung, die ebenso diskret wie ungestört über die Bühne ging, sieht sich die Delegation beim Verlassen des Gebäudes mit einer Gruppe von Studenten konfrontiert. Aus ihren Reihen kommt ein Rotschopf auf den Minister zu. Der Dekan packt ihn am Kragen und will ihn zurückführen. Doch unvermittelt steht Daniel Cohn-Bendit vor Missoffe und bittet ihn erst einmal um Feuer. Das Geplänkel steigert sich zum Streit um die sexuellen Probleme der Jugendlichen, über die das jüngste Weißbuch des Ministers keine Wort verliere. Mit einem Gesicht wie seinem seien sexuelle Probleme ja wohl unausweichlich, soll Missoffe dabei zum deutschen Juden Cohn-Bendit gesagt haben. Diese Version wird von fast allen Anwesenden bestätigt; der Minister selbst bestreitet sie. Verbürgt ist hingegen, daß er Cohn-Bendit zur Lustdämpfung das abregende Bad im kühlen Wasser empfahl.

Mit der verpatzten Gruppensexparty im Schwimmbad begann die nach ihrem Höhepunkt - im Mai - benannte Revolte der Pariser Studenten. Der Prolog vom 8. Januar hat sich in verschiedener Hinsicht als Schlüsselszene erwiesen. Der Zwischenfall mit dem Minister, dessen Tochter in Nanterre studierte und die den Vater von einem juristischen Nachspiel abhalten konnte, verschaffte dem exaltierten Deutschen und den vierzehn anderen Angehörigen einer anarchistischen Gruppe unverhoffte Publizität. Für Ingrid Gilcher-Holtey illustriert der Vorgang darüber hinaus auf exemplarische Weise eine neue spielerische Strategie des Protests, die auf die Situationisten zurückgeht. Gilcher-Holtey hat dem Aufstand der französischen Jugend jetzt eine ausführliche Darstellung gewidmet. Sie erscheint unter dem ebenso abgegriffenen wie phantasielosen Titel "Die Phantasie an die Macht" und aus unerfindlichen Gründen als kleingedruckte Originalausgabe im Taschenbuch. Die Achtundsechziger können sich inzwischen wohl auch ein gebundenes Buch leisten, und das studentische Publikum interessiert sich eh nicht mehr für die pubertären Exzesse ihrer Eltern vor bald dreißig Jahren.

Die Autorin, von der man nur gerade erfährt, daß sie Professorin in Bielefeld ist, hat eine immense Fleißarbeit geleistet. Entstanden ist die wohl umfassendste und genaueste Chronik des Mai 68, die sich zu neun Zehnteln spannend liest. Manchmal schreibt die Verfasserin etwas umständlich. Ihre Darstellung schöpft aus vielen Quellen. Ingrid Gilcher-Holtey hat Dutzende von Büchern bewältigt, ganze Jahrgänge von Zeitschriften und Zeitungen durchgeackert und mit vielen Protagonisten der Mai-Revolte Gespräche geführt. Ihr Buch besteht aus informativ-sachlichen Abhandlungen, analytischen Abschnitten, Gesprächsfetzen und Stellen, die sich wie Reportagen lesen.

Zu den Kronzeugen der Autorin gehört jener Mann, der nach der Schwimmbad-Episode in Nanterre dauernd im Mittelpunkt des Geschehens stand: Daniel Cohn-Bendit, genannt "Danny le Rouge". Er prägte mit seinem forschen Auftreten die Revolte. Im Gespräch mit der Historikerin profilierte sich der Rädelsführer der Pariser Pflasterstein-Revolution als frühreifes Wunderkind auch des politischen Theorieverständnisses: Schon als Siebzehnjähriger will Cohn-Bendit - er war damals Schüler in der Bundesrepublik - die Zeitschrift "Socialisme ou Barbarie" gelesen haben. Sein zehn Jahre älterer Bruder Gabriel habe ihm "ein Dutzend Bände zum Geburtstag geschenkt". Gabriel Cohn-Bendit, der zwischenzeitlich als Revisionist in die Schlagzeilen geriet, bekam ebenfalls den Besuch der Wissenschaftlerin: "Den ganzen marxistisch-leninistischen Unsinn, den habe ich durchgemacht, und so konnte Daniel gleich dort anfangen, wo ich aufgehört habe" - bei der absoluten Avantgarde der französischen Stalinismus- und Ideologiekritik. So geht das offenbar unter Brüdern.

Nach dem gleichen Schema - Debattierzirkel mit Publikationsorgan - wie "Socialisme ou Barbarie" (Cornelius Castoriadis, Claude Lefort) funktionierte "Arguments", das zweite Flaggschiff der antimarxistischen Aufklärung (Edgar Morin, Axelos, Mascolo, Duvignaud, Fougeyrollas; 1958 schloß sich ihnen Henri Lefebvre an). Gilcher-Holtey spricht zutreffend von "dissidenten Intellektuellen", die sich von der Kommunistischen Partei gelöst haben, auf die Sartre und die Mehrheit der politischen Schriftsteller wie Philosophen weiterhin fixiert blieben. Ihre Saat ging spät auf - zunächst im Mai 68, der zwar in seinem Kern ideologiekritisch war, letztlich aber erst zehn Jahre später, auf dem Höhepunkt des Antikommunismus. Seine (linken) Pioniere der fünfziger Jahre reiben sich noch immer die Augen angesichts der vielen Nachfolger, die sich heute auf ihr Wirken berufen. Die Auflagen ihrer Zeitschriften waren stets äußerst bescheiden geblieben.

Als schlagkräftige "Avantgarde der Avantgarde" präsentiert Gilcher-Holtey schließlich die Situationistische Internationale, die 1958 von Guy Debord begründet wurde. Debord war der erste Theoretiker der Konsum- und Kulturgesellschaft, der sich mit den Medien befaßte. Von ihm stammt der Begriff der "Kolonialisierung des Alltagslebens". Ein bedeutungsvolles Zeichen gegen die "Bürokratisierung der Kunst und der gesamten Kultur" sollte 1960 durch die Besetzung der Unesco gesetzt werden. Die Situationisten treiben die Subversion auf die Spitze, sie praktizieren sie auf der Spielwiese der Semiologie. Sie rechnen sich der radikalsten Tradition der Dadaisten wie der Surrealisten zu und fühlen sich als Marxisten wie Marx, als er sagte: "Ich bin kein Marxist." Die Künstler und Philosophen haben die Situation nur verschieden interpretiert, "es kommt jetzt darauf an, sie zu verändern". Nämlich "Situationen zu schaffen, in denen das Individuum sich spielerisch definieren kann": Spontane Aktionen gegen die Entfremdung.

Am Vorabend des Mai - im Jahre 1967 - faßte Guy Debord die Resultate zehnjähriger Denkarbeit über die Kulturrevolution in 221 Thesen zusammen, die unter dem Titel "La société du spectacle" erschienen und sich fast schon wie das Programm und die Prophezeiung der anstehenden Revolte lesen. Bei Debord und seinen Genossen hat auch Daniel Cohn-Bendit gelernt, wie man eine Situation zum eigenen Nutzen gestaltet. Seine wohlüberlegte Spontaneität überraschte und überforderte den Minister Missoffe, wie wenige Wochen später die spielerische Unverfrorenheit der jugendlichen Revoluzzer ohne Programm die gesamte Staatsmacht überrumpelte.

"Arguments", "Socialisme ou Barbarie", Situationisten: diese drei Zirkel verknüpft Ingrid Gilcher-Holtey zur kausalen Vorgeschichte des Mai: kenntnisreich, aber auch etwas konventionell. "Die Phantasie an die Macht" war eine Forderung der Aufständischen, eine ihrer berühmten Mauerinschriften. Sie illustriert den utopischen, irrationalen Charakter der Revolte, die die Autorin allzu streng und eng als soziale Bewegung zu erfassen sucht. Namen wie Roland Barthes, Lacan, Foucault, deren Denken der Transgression und der Subversion diese Kulturrevolution ebenfalls vorbereitete, kommen in ihrer Darstellung nicht vor. Der Mai war ein kollektiver gesellschaftlicher Ausdruck, dem sich vorübergehend weite Teile der Bevölkerung anschlossen und der geradezu hysterische Symptome hervorbrachte.

"Es ist 17.30 Uhr, als der erste Pflasterstein fliegt. Er trifft. Der Brigadier Christian Brunel bricht hinter der Windschutzscheibe seines Wagens mit einer offenen Kopfwunde zusammen." Geschleudert hat diesen ersten Stein ein junger Mann in Jeans und Rollkragenpullover. Der Polizist ist nicht sehr schwer verletzt - aber seine Kollegen, die um sein Leben fürchten, reagieren mit äußerster Gewalt. Präzise und prägnant beschreibt Gilcher-Holtey den Verlauf der Besetzungen, Auseinandersetzungen und Straßenschlachten, die zwar immensen Sachschaden anrichten, aber keine Menschenleben fordern.

Kaum hat man sich über einen Titel wie "Diskurse im Binnenmilieu" geärgert, brilliert die Autorin, die durchaus über erzählerische Qualitäten verfügt, mit einer spannenden Schilderung der "Nacht der Barrikaden", in der die Rolle des Rundfunks trefflich aufgezeigt wird. Während einer Besprechung in der Sorbonne weiß der Rektor der Universität nicht, daß er Cohn-Bendit vor sich hat. Er erfährt es am Telefon von Minister Peyrefitte, der sich in die Verhandlungen einschaltet: Ein Rotschopf mit etwas aufgedunsenem Gesicht! - Ja, doch, so einen haben wir hier. Alain Peyrefitte hatte die Nachricht, wie Millionen von Franzosen, am Radio gehört. Die Privatsender Europe 1 und RTL lieferten sich einen gigantischen Konkurrenzkampf, bei dem sie alle ihre Mittel mobilisierten und selbst in die Auseinandersetzung eingriffen. Der Mai war die Sternstunde des französischen Rundfunks: "Ohne die direkte Berichterstattung der zwei Radio-Stationen hätte der Konflikt weder seine dramatisch-theatralische noch seine nationale Bedeutung bekommen."

Nicht weniger spannend fällt ihre Beschreibung der weiteren Etappen dieser Revolte und vor allem von de Gaulles geheimnisvoller Reise am 28. Mai nach Baden-Baden aus: die maßgebliche Synthese aller bekannten Quellen. Das Ereignis wurde als Flucht eines depressiven und ratlosen Staatschefs wie auch als genialer taktischer Befreiungsschlag gedeutet. Die erste Version ist richtig und belegt - obwohl die Umstände des Abstechers zu General Massu nach Deutschland an die Anfänge seines Exils 1940 in London erinnern. Die Last des Kriegs schwebte über dem Mai, der als Aufstand der Söhne gegen die Vergangenheit der Väter erscheint und seine Energie aus der Wiederkehr des Verdrängten bezog. "Wir sind alle deutsche Juden", proklamierten die französischen Studenten aus Solidarität mit Cohn-Bendit, dem die Abschiebung drohte, und bezeichneten die Polizei als Nazis: "CRS = SS". "Cohn-Bendit nach Dachau" forderten als Antwort die Sprechchöre der großen Bürger-Demonstrationen zum Ende des Albtraums.

Für die Hypothese einer Reaktion auf die Vichy-Vergangenheit spricht neben den vielen symbolischen Begleiterscheinungen und der Tatsache, daß erst der Mai deren Aufarbeitung in Gang brachte, auch die merkwürdige Affinität zwischen Gaullisten und Kommunisten, auf die Gilcher-Holtey hinweist. Die innenpolitischen Gewinner des Zweiten Weltkrieges bildeten - über alle politischen Gegensätze hinweg - wieder eine heimliche Allianz. An ihr zerschlug sich letztlich der Aufstand, während die Macht buchstäblich auf der Straße lag, aber niemand da war, um sie aufzuheben. Mit der Ankündigung von Neuwahlen konnte de Gaulle die außer Kontrolle geratene Lage wieder in institutionelle Bahnen führen. Er gewann die Wahlen mit großem Vorsprung - wurde aber ein Jahr danach in die Wüste geschickt.

Ingrid Gilcher-Holtey entzieht sich am Schluß den mindestens zwölf Mai-Deutungen, die inzwischen zirkulieren. Alles Spekulieren ist ihr fremd. Doch die Beschränkung auf eine "soziale Bewegung" kann auch nicht der Weisheit (und Wahrheit) letzter Schluß sein. Als solche hat der Mai nicht die Phantasie, an die Macht gebracht, sondern nur deren politische Ohnmacht aufgezeigt. So endet der Band, der zum Klassiker der Mai-Geschichtsschreibung werden wird, um den uns auch die Franzosen beneiden müssen, mit einem Kapitel über "Das Dilemma der Neuen Linken". Als ob es darum ginge! Aus dieser Sicht ist die Revolte in der Tat gescheitert und hat in eine Sackgasse geführt. Wie sehr sie jedoch die französische Gesellschaft veränderte - wie immer man die Veränderungen beurteilen mag -, scheint der Historikerin kaum bewußt zu sein.

Nach fast fünfhundert Seiten verengt sich ihre Perspektive. Während sie zu Beginn die internationeln Verflechtungen des Studentenprotests der rebellischen sechziger Jahre im Auge hat und die Rezeption der französischen Vormai-Denkströmungen - von "Arguments" bis zur Situationistischen Internationale - in der Bundesrepublik, wo sie nicht nur der halbwüchsige Cohn-Bendit zur Kenntnis nahm, berücksichtigt, verschwindet diese Dimension am Schluß aus ihrem Horizont. Der Mai war ihr Thema, das sie meisterhaft bewältigt hat. Außer dem Fehlen eines Registers und zwei, drei kleinen Unstimmigkeiten (es ist mißverständlich, von einem "Ministerpräsidenten" zu sprechen) gibt es an ihrem Werk nichts zu kritisieren.

Doch der Mai hatte nicht nur eine intellektuelle Vorgeschichte, die von Gilcher-Holtey entsprechend gewürdigt wird, sondern vielerlei Nachwirkungen. Von ihm gingen politische Entwicklungen und kulturelle Prozesse aus, die möglicherweise erklären, warum die "gescheiterten" Aufständischen der terrorristischen Versuchung widerstanden. Die Wirkungsgeschichte der Pariser Situationisten, die ihre Bewegung 1969 auflösten, ging in Deutschland weiter, zumindest die Anfänge des Baader-Meinhof-Terrorismus - mit den Kaufhaus-Brandstiftungen - waren von ihrer Handschrift gezeichnet.

Ingrid Gilcher-Holtey: "Die Phantasie an die Macht". Mai 68 in Frankreich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 494 S., br., 32,80 DM.

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