Was wäre die Philosophie ohne die Religion? Sie ist sicherlich aus ihr entstanden, denn die Idee eines mit Vernunft regierten Kosmos wurde von der Religion vorgebildet, bevor sie zum stillschweigenden Leitfaden der philosophischen Wahrheitssuche wurde. Aus ihr leitete sich die Evidenz eines Endziels des Lebens ab, das die Philosophie auch übernahm, als sie selber eine Art Weisheit in Aussicht stellte.Die besten Philosophen haben immer anerkannt, dass die Weisheitslehre der Religion der Philosophie vorausging. Deshalb gingen ihre Denkansätze stets mit einer behutsamen Religionsphilosophie einher, die heute nur vergessen wird und deren Grundzüge Jean Grondin rekapituliert. Denn die Religion bietet seit alters her die stärksten, meist geglaubten und diskutierten Antworten auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Treibens, und sie tut es mit unendlich mehr Wirksamkeit als jede Philosophie. An diese der Religion innewohnende Philosophie und ihre sinnvolle Seinserfahrung, die zu denken gibt, will dieses Buch erinnern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2012Wie man die Welt sinnvoll erleben kann
Zwei verschiedene Wege zu einem gemeinsamen Ziel: Der kanadische Philosoph Jean Grondin sucht in "Die Philosophie der Religion" den gemeinsamen Nenner
Bedachtsam und umsichtig sei die Philosophie von Anfang an. Sein nicht allzu umfängliches Buch nennt Jean Grondin deshalb im Untertitel bescheiden "Eine Skizze". Der Titel "Die Philosophie der Religion" zeigt aber zugleich ein doppeltes, anspruchsvolles Anliegen an. Nicht nur, was die Philosophie über die Religion(en) zu sagen hat, soll hier also verhandelt werden, sondern ebenso der philosophische Kern der Religion selbst.
Der in Montreal lehrende kanadische Philosoph, hierzulande vor allem bekannt geworden mit einer Biographie Hans-Georg Gadamers, hat eine Einführung in die Religionsphilosophie verfasst, die sich in die aktuellen Bemühungen um eine philosophische Metaphysik einreiht, die das Eine, Allumfassende zu denken versucht. Gemäß der hermeneutischen Tradition gewinnt sie ihre Positionen in Auseinandersetzung mit der Geistesgeschichte. Das Bonmot Alfred North Whiteheads, wonach die Philosophiegeschichte nur Fußnoten zu Platon schreibe, zitiert Grondin nicht von ungefähr: Auch sein eigener Durchgang durch die (europäische) Philosophie und deren Verhältnis zur Religion, der den größten Teil des Buches bildet, liest sich entsprechend.
Was die Philosophie der Religion vor allem verdanke, bezeichnet Grondin in Anlehnung an Schelling als Besinnung auf ein "Unvordenkliches", das auch der Grund der Philosophie sei. Historisch begründet ist zudem das Hauptargument, das er gegen eine naturwissenschaftlich belegte zeitgenössische Kritik der Religion anführt. Eine nominalistische Sicht der Dinge, die nur die Existenz von Beobachtbarem akzeptiert und allgemeine Begriffe als bloße Wörter ansieht, sei uns derart selbstverständlich geworden, dass wir vergessen hätten, dass auch sie nur eine bestimmte, willkürlich auf Individualität und Kontingenz setzende Auffassung sei. Das ihr entsprechende funktionalistische Verständnis von Religion bedürfe der Ergänzung durch eine essentialistische Beschreibung, durch die sich ein Bild der Welt als sinnvoll geordneter Zusammenhang ergebe.
Religion und Philosophie sind demnach zwei verschiedene Wege zur (selben) Wahrheit. Wo die erste gläubig auf höchste Wesen vertraut, die metaphysisches Wissen erfahrbar machen, verlässt sich die zweite auf Denken und Vernunft. Als unvermittelbar miteinander begreifen diese Wege erst Spinoza und der englische Sensualismus. Als berechtigte Weise der Weltbetrachtung wird der religiöse Standpunkt zuweilen noch dort beurteilt, wo man es nicht erwartet hätte. Grondin merkt an, auch Karl Marx habe ihm sein utopisches Potential zugutegehalten. Schelling, Hegel, Schleiermacher und Kierkegaard verteidigen die religiöse Sicht auf Welt und Dinge und leiten über zu Heidegger. Besonders ihm rechnet Grondin es an, dass die Religion "aufhörte, ein Tabuthema der Philosophie zu sein", indem der Denker den "Ort einer neuen Ankunft des Seins und damit des Göttlichen zu erkunden" unternahm.
Allerdings vernachlässige Heidegger das Vermögen der menschlichen Vernunft, das Göttliche zu denken, auf das die religionsphilosophische Tradition immer baute, meint Grondin. Zudem habe er übersehen, welch machtvolles Gegengewicht zum Nominalismus das platonische Seinsverständnis bilde. Mit ihm lasse sich die Religion nämlich als eine Erfahrung verstehen, die "in der alltäglich gelebten Welt Manifestationen des göttlichen Wesens erkennt". Sollten so Glaube und Vernunft, welche die Neuzeit auch zum Leidwesen von Papst Benedikt XVI. trennte, wieder zusammenfinden? Die wertvollste Weisheit der Religion für die Gegenwart sei es vielleicht, so Grondin, die Welt immer schon als sinnvoll zu erleben. So erinnere sie auch die Philosophie "an ihre Grundvoraussetzungen, die des Sinns der Welt".
Was Grondin genau versteht unter diesem "Sinn", wird freilich nicht ganz klar. Wenn er meint, auch die Physik setze Sinnhaftigkeit voraus, wäre diese wohl als geordneter Zusammenhang zu verstehen, der eine Beschreibung seiner Regelhaftigkeit erlaubt. Bezogen auf die Religion, wäre sie aber eher als Bedeutsamkeit zu begreifen, als ein Verweisen auf anderes, auf übergeordnete Mächte, die auch dem Leben des Einzelnen eine Richtung geben. Solche Unentschiedenheit macht am Ende auch zweifelhaft, was hier eigentlich als Religion zu gelten habe, zumal angesichts der von Grondin erwähnten Vielzahl von weltweit mehr als zehntausend Formen, die diese Bezeichnung verdienen sollen. Der gemeinsame Nenner einer Kombination von Glaubensinhalt und ritueller Praxis wirkt da allein recht unspezifisch. Eine staunende, ehrfürchtige Grundhaltung gegenüber Welt und Natur, die viele Wissenschaftler teilen und die man als Ursprung der Philosophie begreifen mag, ist wohl doch noch etwas anderes.
Grondins Buch leistet, was man von Philosophie erwarten darf: Es gibt zu denken. Und wo man einwenden möchte, dass im Detail doch manche Feinzeichnung erforderlich wäre, erinnert man sich an den Untertitel: Es soll ja nur "eine Skizze" sein. Ums große Ganze geht es ihr, dem man eben nur im Großen und Ganzen zustimmen kann und soll. Das fällt ja oft leichter, wie auch die Gebildeten unter den Verächtern der Religion zugeben werden.
THOMAS GROSS
Jean Grondin: "Die Philosophie der Religion". Eine Skizze.
Aus dem Französischen von Verena Heisen. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2012. 153 S., br., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei verschiedene Wege zu einem gemeinsamen Ziel: Der kanadische Philosoph Jean Grondin sucht in "Die Philosophie der Religion" den gemeinsamen Nenner
Bedachtsam und umsichtig sei die Philosophie von Anfang an. Sein nicht allzu umfängliches Buch nennt Jean Grondin deshalb im Untertitel bescheiden "Eine Skizze". Der Titel "Die Philosophie der Religion" zeigt aber zugleich ein doppeltes, anspruchsvolles Anliegen an. Nicht nur, was die Philosophie über die Religion(en) zu sagen hat, soll hier also verhandelt werden, sondern ebenso der philosophische Kern der Religion selbst.
Der in Montreal lehrende kanadische Philosoph, hierzulande vor allem bekannt geworden mit einer Biographie Hans-Georg Gadamers, hat eine Einführung in die Religionsphilosophie verfasst, die sich in die aktuellen Bemühungen um eine philosophische Metaphysik einreiht, die das Eine, Allumfassende zu denken versucht. Gemäß der hermeneutischen Tradition gewinnt sie ihre Positionen in Auseinandersetzung mit der Geistesgeschichte. Das Bonmot Alfred North Whiteheads, wonach die Philosophiegeschichte nur Fußnoten zu Platon schreibe, zitiert Grondin nicht von ungefähr: Auch sein eigener Durchgang durch die (europäische) Philosophie und deren Verhältnis zur Religion, der den größten Teil des Buches bildet, liest sich entsprechend.
Was die Philosophie der Religion vor allem verdanke, bezeichnet Grondin in Anlehnung an Schelling als Besinnung auf ein "Unvordenkliches", das auch der Grund der Philosophie sei. Historisch begründet ist zudem das Hauptargument, das er gegen eine naturwissenschaftlich belegte zeitgenössische Kritik der Religion anführt. Eine nominalistische Sicht der Dinge, die nur die Existenz von Beobachtbarem akzeptiert und allgemeine Begriffe als bloße Wörter ansieht, sei uns derart selbstverständlich geworden, dass wir vergessen hätten, dass auch sie nur eine bestimmte, willkürlich auf Individualität und Kontingenz setzende Auffassung sei. Das ihr entsprechende funktionalistische Verständnis von Religion bedürfe der Ergänzung durch eine essentialistische Beschreibung, durch die sich ein Bild der Welt als sinnvoll geordneter Zusammenhang ergebe.
Religion und Philosophie sind demnach zwei verschiedene Wege zur (selben) Wahrheit. Wo die erste gläubig auf höchste Wesen vertraut, die metaphysisches Wissen erfahrbar machen, verlässt sich die zweite auf Denken und Vernunft. Als unvermittelbar miteinander begreifen diese Wege erst Spinoza und der englische Sensualismus. Als berechtigte Weise der Weltbetrachtung wird der religiöse Standpunkt zuweilen noch dort beurteilt, wo man es nicht erwartet hätte. Grondin merkt an, auch Karl Marx habe ihm sein utopisches Potential zugutegehalten. Schelling, Hegel, Schleiermacher und Kierkegaard verteidigen die religiöse Sicht auf Welt und Dinge und leiten über zu Heidegger. Besonders ihm rechnet Grondin es an, dass die Religion "aufhörte, ein Tabuthema der Philosophie zu sein", indem der Denker den "Ort einer neuen Ankunft des Seins und damit des Göttlichen zu erkunden" unternahm.
Allerdings vernachlässige Heidegger das Vermögen der menschlichen Vernunft, das Göttliche zu denken, auf das die religionsphilosophische Tradition immer baute, meint Grondin. Zudem habe er übersehen, welch machtvolles Gegengewicht zum Nominalismus das platonische Seinsverständnis bilde. Mit ihm lasse sich die Religion nämlich als eine Erfahrung verstehen, die "in der alltäglich gelebten Welt Manifestationen des göttlichen Wesens erkennt". Sollten so Glaube und Vernunft, welche die Neuzeit auch zum Leidwesen von Papst Benedikt XVI. trennte, wieder zusammenfinden? Die wertvollste Weisheit der Religion für die Gegenwart sei es vielleicht, so Grondin, die Welt immer schon als sinnvoll zu erleben. So erinnere sie auch die Philosophie "an ihre Grundvoraussetzungen, die des Sinns der Welt".
Was Grondin genau versteht unter diesem "Sinn", wird freilich nicht ganz klar. Wenn er meint, auch die Physik setze Sinnhaftigkeit voraus, wäre diese wohl als geordneter Zusammenhang zu verstehen, der eine Beschreibung seiner Regelhaftigkeit erlaubt. Bezogen auf die Religion, wäre sie aber eher als Bedeutsamkeit zu begreifen, als ein Verweisen auf anderes, auf übergeordnete Mächte, die auch dem Leben des Einzelnen eine Richtung geben. Solche Unentschiedenheit macht am Ende auch zweifelhaft, was hier eigentlich als Religion zu gelten habe, zumal angesichts der von Grondin erwähnten Vielzahl von weltweit mehr als zehntausend Formen, die diese Bezeichnung verdienen sollen. Der gemeinsame Nenner einer Kombination von Glaubensinhalt und ritueller Praxis wirkt da allein recht unspezifisch. Eine staunende, ehrfürchtige Grundhaltung gegenüber Welt und Natur, die viele Wissenschaftler teilen und die man als Ursprung der Philosophie begreifen mag, ist wohl doch noch etwas anderes.
Grondins Buch leistet, was man von Philosophie erwarten darf: Es gibt zu denken. Und wo man einwenden möchte, dass im Detail doch manche Feinzeichnung erforderlich wäre, erinnert man sich an den Untertitel: Es soll ja nur "eine Skizze" sein. Ums große Ganze geht es ihr, dem man eben nur im Großen und Ganzen zustimmen kann und soll. Das fällt ja oft leichter, wie auch die Gebildeten unter den Verächtern der Religion zugeben werden.
THOMAS GROSS
Jean Grondin: "Die Philosophie der Religion". Eine Skizze.
Aus dem Französischen von Verena Heisen. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2012. 153 S., br., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Thomas Gross ist dieses Buch des kanadischen Philosophen Jean Grondin Philosophie at its best. Weil es den Rezensenten zum Denken anregt über das Verhältnis von Philosophie und Religion. Dass der Autor auf manche von Gross vermisste Feinzeichnung verzichtet, kann der Rezensent ihm gar nicht vorwerfen. Schließlich trägt das Buch im Untertitel die Bezeichnung "Studie". Und dafür wieder scheint es Gross doch einiges zu leisten. Etwa indem es gut hermeneutisch entlang der Geistesgeschichte versucht, die beiden sich immer wieder kreuzenden Wege zur Wahrheit zu verfolgen. Fragen, wie: Was ist eigentlich dieser Sinn, dessen Vermittlung der Autor der Religion zutraut, und was genau kann als Religion gelten?, muss der Rezensent sich selbst beantworten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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