"Möge jede Mutter ihrer Tochter die Lektüre dieses Buches gebieten!" - Diese Forderung wird von de Sades beiden prominentesten Interpreten Geoffrey Gorer und Gilbert Lely recht gegensätzlich beurteilt. Im Zentrum des Werkes steht ein politisches Manifest, das unter dem Titel "Franzosen, eine weitere Anstrengung, wenn ihr wirkliche Republikaner werden wollt!" entschieden weitergehende Freiheiten einfordert, als auch die Revolution zu geben bereit sein konnte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2014Auf Prüderie steht die Höchststrafe
Angezogene Sprecher lesen den Dirty-Talk des Jahres 1795 vom Blatt: De Sades "Philosophie im Boudoir" als edel ausgestattetes Hörbuch.
Von Wolfgang Schneider
Hätte man das von Ulrich Noethen erwartet? Dieser Vorleser großer, weltbewegender Realisten wie Tolstoi oder Fallada, dieser Meister der wohltemperierten Intonation, plädiert nun mit geradezu unheimlicher Nachdrücklichkeit für den Exzess! Es ist der Libertin Dolmancé, dem Noethen die markante Stimme verleiht, Hauptfigur und Zeremonienmeister in "Die Philosophie im Boudoir", einem schmalen Hauptwerk des Marquis de Sade, verfasst zu einer Zeit, als der von der Haft schon so verfettet war, dass er sein Hemd kaum noch allein anziehen konnte und zur beschriebenen Sexualakrobatik nicht mehr in der Lage gewesen sein dürfte. Umso entfesselter die literarische Phantasie.
Die fünfzehnjährige Eugénie ist ein "entzückendes Geschöpf", eine "kaum erblühte Rose" - und "diese Naivität erregt mich schrecklich", bekennt Dolmancé. Gemeinsam mit der freigeistigen Madame de Saint-Ange (später beteiligen sich auch deren Bruder sowie der Gärtner an der Orgie) kümmert er sich um die Sexualerziehung des Mädchens, geben ihr einen Schnellkurs in Libertinage. Für die Rolle der Eugénie hat man lieber keine Fünfzehnjährige ausgewählt, sondern die zehn Jahre ältere Lilith Stangenberg, die auf den Spuren Birgit Minichmayrs einen recht rauchigen Ton produziert, der das jähe Umschlagen von kindlicher Naivität in frühe Abgefeimtheit glaubhaft erscheinen lässt.
Wie hier unter inspiriertem Gespräch alle denkbaren Sexualpraktiken durchexerziert werden, gern auch in inzestuösen Konstellationen, das braucht sich vor keiner Bück- oder Downloadware des Pornozeitalters zu verstecken. Auf Prüderie und Verweigerung steht beim Marquis die Höchststrafe. Feministinnen haben immerhin gerühmt, dass er Frauen die volle sexuelle Gleichberechtigung zugesteht.
Die Geschlechtsorgane werden von den "lasterhaften Lehrmeistern" erläutert wie smarte Produkte - perfekt ersonnen von keinem Schöpfer, weil es den ja nicht gibt. Aber der Klang jener aufklärerischen Theologie, die in der Lobpreisung der Natur immer den göttlichen Ingenieur dahinter meinte, wird höhnisch gespiegelt in der Begutachtung der wonnigen Fleischkugeln und Körperöffnungen.
Zwischen den "Entladungen" werden Eugénie die Grundzüge libertiner Moralphilosophie vermittelt. Das ist für den Hörer auf Dauer spannender. Exzess ist entfesselte Natur, und "Natur" wird von de Sade als das Gegenteil der christlichen Moralpredigten gedacht: skrupellose Befriedigung, Grausamkeit, Recht des Stärkeren. Er konnte noch nichts wissen von der Verhaltensbiologie des Gemeinsinns und den evolutionären Theorien der Moral. Sein Begriff der Natur ist das Phantasma eines Zivilisationsgeschädigten.
Auch der zeitgenössische Pantheismus, nach dem Gott und Natur eins seien, wird pointiert abgefertigt: "Die Uhr wird nie der Uhrmacher sein. . ." Wenn es aber keinen Gott gibt, worin besteht dann der Reiz der unermüdlichen Blasphemien, mit denen Dolmancé seine Orgasmen pfeffert? Natürlich ist er sich dieses Widerspruchs bewusst; er betreibt die Gottesflüche aus alter Gewohnheit, weil sie Kreislauf und Unterleib anregen: Fluche jederzeit so, als wäre Gott zumindest eine regulative Idee der libertinen Vernunft.
Moral ist mit Dummheit, Laster mit Intelligenz verbunden. Deshalb unterscheidet Dolmancé die Grausamkeit aus bloßer Gedankenlosigkeit ("tierische Brutalität") von der sublimen Spielart, die "Frucht außerordentlicher Empfindsamkeit" sei. Mit einem vulgären Schinder und Schergen, dessen Taten und willige Vollstreckungen seine begrenzte Phantasie des Bösen übertreffen, will der raffinierte Libertin nicht verwechselt werden.
Frivole Untertöne sind in der "szenischen Lesung" unter der Regie Michael Farins das Äußerste. Dass Dagmar Manzel in der Rolle der Madame de Saint-Ange Hörtheater ersten Ranges abliefert, ist eine Leistung. Überhaupt hat man keine Gemengelage nackter Körper im Zustand rauschhafter Erregung vor Augen, sondern ein Ensemble wohlangezogener Sprecher, die in aseptischer Studioatmosphäre den Dirty-Talk des Jahres 1795 vom Blatt lesen. Das ist nicht zuletzt auch ziemlich komisch, weil in der Ausschweifung jederzeit die sprachlichen Formen aristokratischer Höflichkeit gewahrt werden. Zugleich ist vieles von dem, was zu Sades Zeiten exklusive Ausschweifung war, heute eine Jedermannsverruchtheit, ein paar Mausklicks entfernt. Auch deshalb wirken seine Choreographien des Lasters wie Parodien der Pornographie.
Kühne Gedanken und fixe Ideen wechseln schwindelerregend. Dolmancés Philosophie der Grausamkeit erscheint in Noethens involvierter, aber in keinem Moment überspannter Lesart erschreckend plausibel. Hier werden die Ideen der Aufklärung in eine Gefahrenzone getrieben. Das "unlösliche Bündnis von Vernunft und Untat" habe kein anderer so laut herausgeschrien wie Sade, rühmten Horkheimer und Adorno. "Der stärkste Schmerz der anderen ist für uns ganz und gar nichtig; der leichteste Kitzel des Vergnügens aber, den wir selbst empfinden, berührt uns sehr", doziert Dolmancé - es scheint eine diabolische Sentenz, ist zugleich aber doch eine schlichte Wahrheit der Empfindung.
Ein eklatanter Mangel an Einfühlung oder Spiegelneuronen ist jedoch im Spiel, wenn Dolmancé diese Wahrheit zu einem Imperativ umformuliert: "Daher sollten wir jeden leichten Kitzel aus vollstem Herzen genießen, unbekümmert um selbst die ungeheuersten Schmerzen der anderen, die uns nicht betreffen." Die moralische Gleichgültigkeit der Natur ist der Kerngedanke. Ob das Menschengeschlecht weiter existiert oder nicht, sei der Natur einerlei. Deshalb gibt es auch kein vernünftiges Argument gegen den Mord, erstattet man durch ihn der Natur doch nur Material für neue, frische Schöpfungen zurück.
De Sade hat die Fenster schlecht gelüfteter Salons aufgerissen - doch statt frischer Luft strömte der Gestank des Schlachthauses hinein. Die "Philosophie im Boudoir" bietet die Quintessenz seiner Gedanken und Obsessionen und verzichtet auf Verstümmelungsorgien, Hinrichtungsmaschinen und andere Spezialitäten, wie man sie sonst in seinen überlangen Werken findet, etwa den zehn Bänden der "Juliette". Dieses edel ausgestattete Hörbuch, das den Essay "Soll man de Sade verbrennen?" von Simone de Beauvoir im Booklet enthält, ist - nun ja - sehr anregend.
Marquis de Sade: "Die Philosophie im Boudoir".
Inszenierte Lesung mit Ulrich Noethen, Dagmar Manzel. Der Hörverlag, München 2014. 3 CDs, zus. 201 Min., 29,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Angezogene Sprecher lesen den Dirty-Talk des Jahres 1795 vom Blatt: De Sades "Philosophie im Boudoir" als edel ausgestattetes Hörbuch.
Von Wolfgang Schneider
Hätte man das von Ulrich Noethen erwartet? Dieser Vorleser großer, weltbewegender Realisten wie Tolstoi oder Fallada, dieser Meister der wohltemperierten Intonation, plädiert nun mit geradezu unheimlicher Nachdrücklichkeit für den Exzess! Es ist der Libertin Dolmancé, dem Noethen die markante Stimme verleiht, Hauptfigur und Zeremonienmeister in "Die Philosophie im Boudoir", einem schmalen Hauptwerk des Marquis de Sade, verfasst zu einer Zeit, als der von der Haft schon so verfettet war, dass er sein Hemd kaum noch allein anziehen konnte und zur beschriebenen Sexualakrobatik nicht mehr in der Lage gewesen sein dürfte. Umso entfesselter die literarische Phantasie.
Die fünfzehnjährige Eugénie ist ein "entzückendes Geschöpf", eine "kaum erblühte Rose" - und "diese Naivität erregt mich schrecklich", bekennt Dolmancé. Gemeinsam mit der freigeistigen Madame de Saint-Ange (später beteiligen sich auch deren Bruder sowie der Gärtner an der Orgie) kümmert er sich um die Sexualerziehung des Mädchens, geben ihr einen Schnellkurs in Libertinage. Für die Rolle der Eugénie hat man lieber keine Fünfzehnjährige ausgewählt, sondern die zehn Jahre ältere Lilith Stangenberg, die auf den Spuren Birgit Minichmayrs einen recht rauchigen Ton produziert, der das jähe Umschlagen von kindlicher Naivität in frühe Abgefeimtheit glaubhaft erscheinen lässt.
Wie hier unter inspiriertem Gespräch alle denkbaren Sexualpraktiken durchexerziert werden, gern auch in inzestuösen Konstellationen, das braucht sich vor keiner Bück- oder Downloadware des Pornozeitalters zu verstecken. Auf Prüderie und Verweigerung steht beim Marquis die Höchststrafe. Feministinnen haben immerhin gerühmt, dass er Frauen die volle sexuelle Gleichberechtigung zugesteht.
Die Geschlechtsorgane werden von den "lasterhaften Lehrmeistern" erläutert wie smarte Produkte - perfekt ersonnen von keinem Schöpfer, weil es den ja nicht gibt. Aber der Klang jener aufklärerischen Theologie, die in der Lobpreisung der Natur immer den göttlichen Ingenieur dahinter meinte, wird höhnisch gespiegelt in der Begutachtung der wonnigen Fleischkugeln und Körperöffnungen.
Zwischen den "Entladungen" werden Eugénie die Grundzüge libertiner Moralphilosophie vermittelt. Das ist für den Hörer auf Dauer spannender. Exzess ist entfesselte Natur, und "Natur" wird von de Sade als das Gegenteil der christlichen Moralpredigten gedacht: skrupellose Befriedigung, Grausamkeit, Recht des Stärkeren. Er konnte noch nichts wissen von der Verhaltensbiologie des Gemeinsinns und den evolutionären Theorien der Moral. Sein Begriff der Natur ist das Phantasma eines Zivilisationsgeschädigten.
Auch der zeitgenössische Pantheismus, nach dem Gott und Natur eins seien, wird pointiert abgefertigt: "Die Uhr wird nie der Uhrmacher sein. . ." Wenn es aber keinen Gott gibt, worin besteht dann der Reiz der unermüdlichen Blasphemien, mit denen Dolmancé seine Orgasmen pfeffert? Natürlich ist er sich dieses Widerspruchs bewusst; er betreibt die Gottesflüche aus alter Gewohnheit, weil sie Kreislauf und Unterleib anregen: Fluche jederzeit so, als wäre Gott zumindest eine regulative Idee der libertinen Vernunft.
Moral ist mit Dummheit, Laster mit Intelligenz verbunden. Deshalb unterscheidet Dolmancé die Grausamkeit aus bloßer Gedankenlosigkeit ("tierische Brutalität") von der sublimen Spielart, die "Frucht außerordentlicher Empfindsamkeit" sei. Mit einem vulgären Schinder und Schergen, dessen Taten und willige Vollstreckungen seine begrenzte Phantasie des Bösen übertreffen, will der raffinierte Libertin nicht verwechselt werden.
Frivole Untertöne sind in der "szenischen Lesung" unter der Regie Michael Farins das Äußerste. Dass Dagmar Manzel in der Rolle der Madame de Saint-Ange Hörtheater ersten Ranges abliefert, ist eine Leistung. Überhaupt hat man keine Gemengelage nackter Körper im Zustand rauschhafter Erregung vor Augen, sondern ein Ensemble wohlangezogener Sprecher, die in aseptischer Studioatmosphäre den Dirty-Talk des Jahres 1795 vom Blatt lesen. Das ist nicht zuletzt auch ziemlich komisch, weil in der Ausschweifung jederzeit die sprachlichen Formen aristokratischer Höflichkeit gewahrt werden. Zugleich ist vieles von dem, was zu Sades Zeiten exklusive Ausschweifung war, heute eine Jedermannsverruchtheit, ein paar Mausklicks entfernt. Auch deshalb wirken seine Choreographien des Lasters wie Parodien der Pornographie.
Kühne Gedanken und fixe Ideen wechseln schwindelerregend. Dolmancés Philosophie der Grausamkeit erscheint in Noethens involvierter, aber in keinem Moment überspannter Lesart erschreckend plausibel. Hier werden die Ideen der Aufklärung in eine Gefahrenzone getrieben. Das "unlösliche Bündnis von Vernunft und Untat" habe kein anderer so laut herausgeschrien wie Sade, rühmten Horkheimer und Adorno. "Der stärkste Schmerz der anderen ist für uns ganz und gar nichtig; der leichteste Kitzel des Vergnügens aber, den wir selbst empfinden, berührt uns sehr", doziert Dolmancé - es scheint eine diabolische Sentenz, ist zugleich aber doch eine schlichte Wahrheit der Empfindung.
Ein eklatanter Mangel an Einfühlung oder Spiegelneuronen ist jedoch im Spiel, wenn Dolmancé diese Wahrheit zu einem Imperativ umformuliert: "Daher sollten wir jeden leichten Kitzel aus vollstem Herzen genießen, unbekümmert um selbst die ungeheuersten Schmerzen der anderen, die uns nicht betreffen." Die moralische Gleichgültigkeit der Natur ist der Kerngedanke. Ob das Menschengeschlecht weiter existiert oder nicht, sei der Natur einerlei. Deshalb gibt es auch kein vernünftiges Argument gegen den Mord, erstattet man durch ihn der Natur doch nur Material für neue, frische Schöpfungen zurück.
De Sade hat die Fenster schlecht gelüfteter Salons aufgerissen - doch statt frischer Luft strömte der Gestank des Schlachthauses hinein. Die "Philosophie im Boudoir" bietet die Quintessenz seiner Gedanken und Obsessionen und verzichtet auf Verstümmelungsorgien, Hinrichtungsmaschinen und andere Spezialitäten, wie man sie sonst in seinen überlangen Werken findet, etwa den zehn Bänden der "Juliette". Dieses edel ausgestattete Hörbuch, das den Essay "Soll man de Sade verbrennen?" von Simone de Beauvoir im Booklet enthält, ist - nun ja - sehr anregend.
Marquis de Sade: "Die Philosophie im Boudoir".
Inszenierte Lesung mit Ulrich Noethen, Dagmar Manzel. Der Hörverlag, München 2014. 3 CDs, zus. 201 Min., 29,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main