Die Piraten des Nordens fuhren zur See, um zu handeln. Natürlich plünderten sie auch manches Mal, stahlen, brandschatzten und betrogen nach Strich und Faden. Sie verfolgten ein klares Ziel, und das hieß Wohlstand; ihr Mittel war schlicht Pragmatismus. Wer ihnen Mangel an Kultur vorwirft, macht es sich zu einfach. Die Kunstwerke, Feste und vor allem die sozialen Formen, mit denen die Wikinger ihre Ansichten über die Welt, das Leben und den Menschen zum Ausdruck brachten, zeigen das genaue Gegenteil.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.1997Auf jagendem Kiel das Nordmeer durchpflügen
Régis Boyer begleitet die Wikinger auf Geschäftsreise und läßt sich den Wind der Globalisierung gehörig um die Nase wehen
Ein bekannter Wucherer, so berichtet die Isländersaga, floh einst vor seinen Feinden. Einer seiner Schuldner stellte ihn, versetzte ihm einen Schlag in den Rücken und fragte ihn, wieviel Zinsen er von jetzt an verlange. "Halda lagi", antwortete der Wucherer: "Der Preis bleibt gleich." Leben und Sterben als Wikinger, das bedeutete Busineß von der Wiege bis zur Bahre. Nicht Ruhm, sondern Reichtum war ihr Ziel, wenn sie das Rechtecksegel setzten und ihr Langboot, den knörr, auf die Meere hinaussteuerten. "Hann var í viking á sumrum og fékk sér fjár" - "Es fand im Sommer ein Wikingerzug statt und brachte viel Silber ein", lautet ein Leitmotiv der Sagas.
Schon in seinem erfolgreichen Buch "Die Wikinger" hat Régis Boyer, Direktor des Instituts für skandinavische Sprachen, Literatur und Kultur an der Pariser Sorbonne, am Mythos vom normannischen Knäckebrot-Rambo gerüttelt. Nun bestätigt er seine Thesen aufs Neue: Boyers Normannen sind rauhe, jedoch schlaue Gesellen. Vermögen galt im Land der Edda mehr als Mut, List mehr als Kraft. Nein, die Wikinger schlugen keine großen Seeschlachten. Ihre militärischen Fähigkeiten waren wohl eher dürftig, ihre erfolgreichste Strategie war der Überfall (strandhögg), ein kurzer Krieg mit wenig Personalaufwand und sicherem Gewinn. Selbst die Normannen wollten keine neuen Länder erwerben. Zwar erpreßten sie von schwachen Königen Schutzgeld, bis das Abendland wirtschaftlich am Boden lag, aber als "Kolonialherren" paßten sie sich rasch den gegebenen Sitten an, sie ließen sich sogar taufen. Und nie, nie, nie hat ein Wikinger einen Helm mit Hörnern getragen.
Bereits der Eindruck auf die Zeitgenossen war umwerfend: "Ich habe noch nie so vollendet schöne Körper wie die ihren gesehen. Ihre Größe läßt an Palmen denken; sie sind blond und haben eine goldbraune Haut", schrieb der arabische Diplomat Ibn Fadhlan begeistert. Er hatte gut reden: Mit dem Orient pflegten die Normannen beste Handelsbeziehungen. Aber das christliche Abendland stand unter Schock, seit die Wikinger 793 die englische Abtei Lindisfarne überfallen hatten. Die Normannen, schreibt Boyer, seien völlig zu Unrecht verrufen gewesen: Schließlich waren die ersten wüsten fünfzig Jahre, als eine Stadt nach der anderen in Flammen aufging, nur ein Nebeneffekt normannischer Marktforschung, bei der sich die Wikinger einen Überblick über Handelsplätze, Raststätten und schiffbare Wege verschafften.
Gegen Ende des neunten Jahrhunderts regierten sie ein Geschäftsimperium, das in der Wirtschaftsgeschichte seinesgleichen sucht. Die Normannen reisten von Byzanz bis Grönland, von der spanischen Küste bis zum Weißen Meer. Im schlesischen Haithabu bauten sie ein gigantisches Kontor auf, das ihr wichtigstes Handelsgut umschlug: Sklaven. Besonders lukrativ in dieser Hinsicht war der Handel mit Rußland. Obwohl es von der Sowjetunion stets geleugnet wurde, gilt es als sicher, daß die Waräger die Kiewer Rus' gegründet haben, die Keimzelle des modernen Rußlands.
Boyer konzentriert sich auf den normannischen Alltag. Mit spürbarer Freude am kaufmännischen und nautischen Geschick seiner Helden - immerhin kamen die Normannen, wenn auch ohne Absicht, bis an die Küste Nordamerikas - gewährt er Einblicke in die Welt auf See. Sie navigierten ohne Kompaß, und ihre Leidensfähigkeit war sprichwörtlich: Blieb der Wind aus, wurde Tag und Nacht gerudert; versiegte der Fluß, schleppten vierzig Mann den knörr zum nächsten Wasser. Nur die Wohlhabenden, meist in gildi, halb-kaufmännischen, halb-religiösen Gilden, zusammengeschlossen, konnten sich das finanzielle Risiko der langen Schiffsexpeditionen leisten. Ihre Mahlzeiten nahmen die Seeleute zu zweit ein, weil der Platz begrenzt war. Auf dem Speiseplan standen getrockneter Fisch, Algen und Salzbutter. Hygiene war Zufall: "Sie sind die schmutzigsten unter den Geschöpfen Gottes, sie säubern sich nicht von den Schmutzspuren ihrer Exkremente und des Urins; sie waschen sich nicht nach dem Beischlaf. Sie sind wie streunende Esel", schrieb Ibn Fadhlan angeekelt.
Das Leben im Dorf war nur wenig raffinierter. Die Wikinger hausten in engen Hütten, aßen Grütze, Ketchup und Knäckebrot und - darin bestätigen sie das Klischee - soffen wie die Löcher. Auf den seltenen Festen schütteten sie das Starkbieröl oder den Honigwein Met (mjödr) aus fußlosen Pokalen und Trinkhörnern um die Wette in sich hinein, und ein Held konnte nur werden, wer nicht gleich alles wieder von sich gab.
Kontemplation gehörte nicht zu den normannischen Gepflogenheiten. Gebete, Meditation, "Religion", so wie wir sie verstehen, waren der pragmatischen Wikingerseele fremd. Der freie Normanne, der bóndi, brauchte keinen Priester und keinen Tempel, um die Götter zu preisen. Er konnte Odin - nach einem kurzen Umbau - in seiner eigenen Hütte ehren oder auf freiem Feld. Die Wikinger liebten Odin, denn er war keineswegs der donnernde Kriegsgott Richard Wagners. In Odin sahen sie sich selbst: nicht schön, aber verschlagen, trinkfest und erfolgreich.
Sehr anschaulich zeigt Boyer die intime Beziehung von Kult und Recht. Die Riten waren die sakrale Basis des komplexen Rechtssystems. Wollte ein Vater in Norwegen etwa sein illegitimes Kind in die Familie einführen, mußte er ein dreijähriges Rind schlachten und aus dem Leder des rechten Hufs einen Schuh herstellen. Dann feierte er ein Fest, stellte den Schuh in die Mitte, und dieser wurde erst ihm und dann dem Kind aufgesteckt.
Nichts war den Wikingern so heilig wie die Gesetze. Deren Verletzung zog endlose Streitereien - die kühnen Seefahrer prozessierten leidenschaftlich und ausdauernd - oder persönliche Katastrophen nach sich. Besonders die Frauen, darin echte Töchter Gudruns, drängten ihre Männer, eine Beleidigung zu sühnen. Daß auf dem Thing dröhnendes Lachen erklang, wenn ein Wikinger sich für die Blutrache entschieden hatte, gehört nicht zu den sympathischsten Zügen der Normannen. Daß dabei aber auch viel Eitelkeit im Spiel war, zeigt ein Normanne, der nach dem Entschluß zur Blutrache bemerkte: "Wie soll denn sonst aus mir eine Saga werden?" SONJA ZEKRI
Régis Boyer: "Die Piraten des Nordens". Leben und Sterben als Wikinger. Aus dem Französischen übersetzt von Renate Warttmann. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1997. 358 S., geb., 38,- DM.
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Régis Boyer begleitet die Wikinger auf Geschäftsreise und läßt sich den Wind der Globalisierung gehörig um die Nase wehen
Ein bekannter Wucherer, so berichtet die Isländersaga, floh einst vor seinen Feinden. Einer seiner Schuldner stellte ihn, versetzte ihm einen Schlag in den Rücken und fragte ihn, wieviel Zinsen er von jetzt an verlange. "Halda lagi", antwortete der Wucherer: "Der Preis bleibt gleich." Leben und Sterben als Wikinger, das bedeutete Busineß von der Wiege bis zur Bahre. Nicht Ruhm, sondern Reichtum war ihr Ziel, wenn sie das Rechtecksegel setzten und ihr Langboot, den knörr, auf die Meere hinaussteuerten. "Hann var í viking á sumrum og fékk sér fjár" - "Es fand im Sommer ein Wikingerzug statt und brachte viel Silber ein", lautet ein Leitmotiv der Sagas.
Schon in seinem erfolgreichen Buch "Die Wikinger" hat Régis Boyer, Direktor des Instituts für skandinavische Sprachen, Literatur und Kultur an der Pariser Sorbonne, am Mythos vom normannischen Knäckebrot-Rambo gerüttelt. Nun bestätigt er seine Thesen aufs Neue: Boyers Normannen sind rauhe, jedoch schlaue Gesellen. Vermögen galt im Land der Edda mehr als Mut, List mehr als Kraft. Nein, die Wikinger schlugen keine großen Seeschlachten. Ihre militärischen Fähigkeiten waren wohl eher dürftig, ihre erfolgreichste Strategie war der Überfall (strandhögg), ein kurzer Krieg mit wenig Personalaufwand und sicherem Gewinn. Selbst die Normannen wollten keine neuen Länder erwerben. Zwar erpreßten sie von schwachen Königen Schutzgeld, bis das Abendland wirtschaftlich am Boden lag, aber als "Kolonialherren" paßten sie sich rasch den gegebenen Sitten an, sie ließen sich sogar taufen. Und nie, nie, nie hat ein Wikinger einen Helm mit Hörnern getragen.
Bereits der Eindruck auf die Zeitgenossen war umwerfend: "Ich habe noch nie so vollendet schöne Körper wie die ihren gesehen. Ihre Größe läßt an Palmen denken; sie sind blond und haben eine goldbraune Haut", schrieb der arabische Diplomat Ibn Fadhlan begeistert. Er hatte gut reden: Mit dem Orient pflegten die Normannen beste Handelsbeziehungen. Aber das christliche Abendland stand unter Schock, seit die Wikinger 793 die englische Abtei Lindisfarne überfallen hatten. Die Normannen, schreibt Boyer, seien völlig zu Unrecht verrufen gewesen: Schließlich waren die ersten wüsten fünfzig Jahre, als eine Stadt nach der anderen in Flammen aufging, nur ein Nebeneffekt normannischer Marktforschung, bei der sich die Wikinger einen Überblick über Handelsplätze, Raststätten und schiffbare Wege verschafften.
Gegen Ende des neunten Jahrhunderts regierten sie ein Geschäftsimperium, das in der Wirtschaftsgeschichte seinesgleichen sucht. Die Normannen reisten von Byzanz bis Grönland, von der spanischen Küste bis zum Weißen Meer. Im schlesischen Haithabu bauten sie ein gigantisches Kontor auf, das ihr wichtigstes Handelsgut umschlug: Sklaven. Besonders lukrativ in dieser Hinsicht war der Handel mit Rußland. Obwohl es von der Sowjetunion stets geleugnet wurde, gilt es als sicher, daß die Waräger die Kiewer Rus' gegründet haben, die Keimzelle des modernen Rußlands.
Boyer konzentriert sich auf den normannischen Alltag. Mit spürbarer Freude am kaufmännischen und nautischen Geschick seiner Helden - immerhin kamen die Normannen, wenn auch ohne Absicht, bis an die Küste Nordamerikas - gewährt er Einblicke in die Welt auf See. Sie navigierten ohne Kompaß, und ihre Leidensfähigkeit war sprichwörtlich: Blieb der Wind aus, wurde Tag und Nacht gerudert; versiegte der Fluß, schleppten vierzig Mann den knörr zum nächsten Wasser. Nur die Wohlhabenden, meist in gildi, halb-kaufmännischen, halb-religiösen Gilden, zusammengeschlossen, konnten sich das finanzielle Risiko der langen Schiffsexpeditionen leisten. Ihre Mahlzeiten nahmen die Seeleute zu zweit ein, weil der Platz begrenzt war. Auf dem Speiseplan standen getrockneter Fisch, Algen und Salzbutter. Hygiene war Zufall: "Sie sind die schmutzigsten unter den Geschöpfen Gottes, sie säubern sich nicht von den Schmutzspuren ihrer Exkremente und des Urins; sie waschen sich nicht nach dem Beischlaf. Sie sind wie streunende Esel", schrieb Ibn Fadhlan angeekelt.
Das Leben im Dorf war nur wenig raffinierter. Die Wikinger hausten in engen Hütten, aßen Grütze, Ketchup und Knäckebrot und - darin bestätigen sie das Klischee - soffen wie die Löcher. Auf den seltenen Festen schütteten sie das Starkbieröl oder den Honigwein Met (mjödr) aus fußlosen Pokalen und Trinkhörnern um die Wette in sich hinein, und ein Held konnte nur werden, wer nicht gleich alles wieder von sich gab.
Kontemplation gehörte nicht zu den normannischen Gepflogenheiten. Gebete, Meditation, "Religion", so wie wir sie verstehen, waren der pragmatischen Wikingerseele fremd. Der freie Normanne, der bóndi, brauchte keinen Priester und keinen Tempel, um die Götter zu preisen. Er konnte Odin - nach einem kurzen Umbau - in seiner eigenen Hütte ehren oder auf freiem Feld. Die Wikinger liebten Odin, denn er war keineswegs der donnernde Kriegsgott Richard Wagners. In Odin sahen sie sich selbst: nicht schön, aber verschlagen, trinkfest und erfolgreich.
Sehr anschaulich zeigt Boyer die intime Beziehung von Kult und Recht. Die Riten waren die sakrale Basis des komplexen Rechtssystems. Wollte ein Vater in Norwegen etwa sein illegitimes Kind in die Familie einführen, mußte er ein dreijähriges Rind schlachten und aus dem Leder des rechten Hufs einen Schuh herstellen. Dann feierte er ein Fest, stellte den Schuh in die Mitte, und dieser wurde erst ihm und dann dem Kind aufgesteckt.
Nichts war den Wikingern so heilig wie die Gesetze. Deren Verletzung zog endlose Streitereien - die kühnen Seefahrer prozessierten leidenschaftlich und ausdauernd - oder persönliche Katastrophen nach sich. Besonders die Frauen, darin echte Töchter Gudruns, drängten ihre Männer, eine Beleidigung zu sühnen. Daß auf dem Thing dröhnendes Lachen erklang, wenn ein Wikinger sich für die Blutrache entschieden hatte, gehört nicht zu den sympathischsten Zügen der Normannen. Daß dabei aber auch viel Eitelkeit im Spiel war, zeigt ein Normanne, der nach dem Entschluß zur Blutrache bemerkte: "Wie soll denn sonst aus mir eine Saga werden?" SONJA ZEKRI
Régis Boyer: "Die Piraten des Nordens". Leben und Sterben als Wikinger. Aus dem Französischen übersetzt von Renate Warttmann. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1997. 358 S., geb., 38,- DM.
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