Dreißig Afrikaner, Frauen, Männer, Jugendliche, die aus verschiedenen Dörfern im Landesinneren Senegals kommen und noch nie das Meer gesehen haben, wollen aus dem afrikanischen Elend auf die Kanarischen Inseln und nach Europa fliehen. Sie verabschieden sich von ihren Familien und stehen dann nach einer langen Busfahrt ängstlich am Strand, beobachten das Meer und sehen zum ersten Mal auch das Schiff, eine Piroge, die dem Fischer Baye Laye gehört. Während der langen Überfahrt, auf der sie sich langsam kennenlernen, steigern sie sich bei zunächst gutem Wetter in unglaubliche Erwartungen, was ihre Zukunft in Europa betrifft. Doch es zieht ein fürchterlichen Sturm herauf, sie verlieren den Fischer, ihren Kapitän, und das Boot wird schwer beschädigt. Sie sind verzweifelt, aber da naht ein Schiff
Das Buch, 2008 bei Gallimard in Paris erschienen, ist in seiner schlichten, eindringlichen Erzählweise zu einem Klassiker der gegenwärtigen afrikanischen Literatur geworden. Auf kleinstem Raumentfaltet der Roman ein großes Drama, das von Millionen Menschen unterschiedlichster Herkunft, die um ihre Lebenschancen kämpfen.
Die Verfilmung ("La Pirogue") in der Regie von Moussa Touré wurden im Mai 2012 in Cannes uraufgeführt, kam im Oktober 2013 in die französischen Kinos und erhielt zahlreiche Preise, auch in Deutschland [Goldener Tanit, Filmfestival Karthago 2012, ARRI-Preis (Bester internationaler Film) Cannes, Filmfest München; Prix Lumière 2013, Preis der Evangelischen Filmarbeit April 2013)].
Das Buch, 2008 bei Gallimard in Paris erschienen, ist in seiner schlichten, eindringlichen Erzählweise zu einem Klassiker der gegenwärtigen afrikanischen Literatur geworden. Auf kleinstem Raumentfaltet der Roman ein großes Drama, das von Millionen Menschen unterschiedlichster Herkunft, die um ihre Lebenschancen kämpfen.
Die Verfilmung ("La Pirogue") in der Regie von Moussa Touré wurden im Mai 2012 in Cannes uraufgeführt, kam im Oktober 2013 in die französischen Kinos und erhielt zahlreiche Preise, auch in Deutschland [Goldener Tanit, Filmfestival Karthago 2012, ARRI-Preis (Bester internationaler Film) Cannes, Filmfest München; Prix Lumière 2013, Preis der Evangelischen Filmarbeit April 2013)].
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.11.2015Barça
oder
Tod
Unverändert aktuell:
Abasse Ndiones
Roman „Die Piroge“
aus dem Jahr 2008
VON ANTJE WEBER
Sie sind wie immer aufs Meer hinausgefahren, um zu fischen. Doch als sie diesmal nach drei Wochen an die senegalesische Küste zurückkehren, wieder einmal mit einem miserablen Fang, fassen die beiden Fischer Baye Laye und Kaaba einen folgenreichen Entschluss: „Es bleibt nur noch Mbëkë mi.“ Mbëkë mi, das bedeutet Kopfstoß oder Kampf gegen die Wellen; im übertragenen Sinne stehen diese Worte in der Sprache Wolof für die Überfahrt mit einer Piroge zu den Kanarischen Inseln. Im Klartext heißt das: Die Männer wollen wie so viele andere Menschen auch emigrieren und eine bessere Zukunft in Europa suchen. Den Kampf gegen die Wellen, der sie umbringen kann, nehmen sie schicksalsergeben in Kauf: „Barça walla Barsakh“, ist ihr Wahlspruch – Barcelona oder Tod!
Der senegalische Schriftsteller Abasse Ndione hat seinen Roman „Die Piroge“ bereits im Jahr 2008 geschrieben, und er hat seither an Aktualität wahrlich nichts eingebüßt. Erst im vergangenen Jahr ist dieser kleine große Roman, der zwischenzeitlich erfolgreich von Moussa Touré verfilmt wurde, im Transit-Verlag auf Deutsch erschienen. Er erzählt den mittlerweile ganz normalen Irrsinn einer lebensgefährlichen Bootsfahrt gen Europa einmal aus der Perspektive der Afrikaner. In einfacher Sprache und mit zwingender Logik beschreibt Ndione die vielfältigen Gründe für die Flucht: die bittere Armut der Bauern zum Beispiel, die durch Misswirtschaft des Staates und korrupte Geschäftsleute noch verstärkt wird; die allmähliche Vernichtung der Lebensgrundlage der Fischer, weil die europäischen Fangflotten die Meere leerfischen; überhaupt die mangelnde Rechtsstaatlichkeit, das marode Gesundheitssystem und die chronische Jugendarbeitslosigkeit eines hoch verschuldeten Entwicklungslandes. Ist es da ein Wunder, dass Familien zusammenlegen, um kräftigen jungen Männern für umgerechnet etwa 600 Euro die Überfahrt zu ermöglichen? Ist es verwerflich, dass sie darauf hoffen, dass deren spätere Überweisungen ihr Überleben sichern werden?
Das Problem an dieser Rechnung, ob im Jahr 2008 in Senegal oder im Jahr 2015 an vielen anderen Orten, ist allerdings, dass sie nicht immer aufgeht. Die Reise der beiden Fischer zum Beispiel, die in einer einfachen Holz-Piroge mit 40 weiteren Wagemutigen aufbrechen, steht zwar zunächst unter einem guten Stern: In zehn Tagen 1500 Kilometer zurückzulegen, das erscheint bei gutem Wetter wie ein schnell gewonnener Kampf. Bis ein Sturm kommt und die Wogen hochschlagen, bis die Wellen einen der Steuermänner über Bord reißen und sämtliche Nahrungsmittel und Wasserkanister mit, bis der Motor verreckt und dürstend, hungernd, ein Reisender nach dem anderen wahnsinnig wird oder wimmernd dahinsiecht.
Abasse Ndione weiß, wovon er schreibt: Der Sohn eines Fischers ist immer nah drangeblieben an den Nöten seiner Landsleute. 1946 wurde er in einem Dorf nahe Dakar geboren, er besuchte eine Koran- und eine französische Schule und arbeitete mehr als 30 Jahre lang als Krankenpfleger. Schon von früh an, so hat er einmal in einem Interview mit Le Monde erzählt, wollte er jedoch Schriftsteller werden: „Ein Marabut hat mir bestätigt, dass ich eines Tages ein sehr berühmter Autor sein würde.“
Die Prophezeiung des weisen Mannes ist eingetroffen: Auch wenn es acht Jahre dauerte, bis Ndione seinen ersten Roman 1984 bei einem Verlag in Senegal und später in Frankreich unterbringen konnte, ist sein Ruhm seither doch stetig gewachsen. Das hat auch mit der Unerschrockenheit zu tun, mit der er unangenehme oder verdrängte Themen aufgreift: Sein erster Roman „La vie en Spirale“ (Leben in einer Spirale) handelte vom Cannabis-Konsum und -Handel arbeitsloser Jugendlicher, sein zweiter Roman „Ramata“ von weiblicher Sexualität. Der dritte Roman „Mbëkë mi“ oder „Die Piroge“ reagierte auf die seit 2006 massiv angestiegenen Emigrationsversuche per Boot aus seiner Heimat; wie immer verfasste Ndione seinen Roman dabei zunächst in nächtlichen Schreibsitzungen per Hand auf Wolof, um ihn dann selbst ins Französische zu übertragen.
In München wird man einen politisch denkenden Schriftsteller erleben. Dass er für Versäumnisse in der Flüchtlingspolitik sehr deutliche Worte findet, hat seine Rede bei den diesjährigen Nibelungen-Festspielen in Worms gezeigt. Abasse Ndione weiß, wie hoch der Preis für jeden Einzelnen ist, der sein Leben einer Piroge oder einem Schlauchboot anvertraut. In seinem Buch werden die letzten der elend Dahintreibenden zwar vom Roten Kreuz gerettet. Der Film dagegen hört hier nicht auf: Er zeigt in einer weiteren Szene, wie die traumatisierten Überlebenden zwei Wochen später wieder in den Senegal abgeschoben werden. Den Kampf gegen die Wellen, sie haben ihn alle verloren.
„Die Piroge“, mit Abasse Ndione, Mittwoch, 2. Dezember, 19 Uhr, im Gasteig
In einfacher
Sprache und mit
zwingender Logik
beschreibt Ndione
die vielfältigen
Gründe für
die Flucht
Blickt von Afrika
nach Europa: Abasse Ndione.
Foto: Transit Verlag
In Pirogen, den traditionellen Fischerbooten, versuchen Menschen, vom Senegal zu den Kanarischen Inseln zu gelangen.
Foto: AFP
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oder
Tod
Unverändert aktuell:
Abasse Ndiones
Roman „Die Piroge“
aus dem Jahr 2008
VON ANTJE WEBER
Sie sind wie immer aufs Meer hinausgefahren, um zu fischen. Doch als sie diesmal nach drei Wochen an die senegalesische Küste zurückkehren, wieder einmal mit einem miserablen Fang, fassen die beiden Fischer Baye Laye und Kaaba einen folgenreichen Entschluss: „Es bleibt nur noch Mbëkë mi.“ Mbëkë mi, das bedeutet Kopfstoß oder Kampf gegen die Wellen; im übertragenen Sinne stehen diese Worte in der Sprache Wolof für die Überfahrt mit einer Piroge zu den Kanarischen Inseln. Im Klartext heißt das: Die Männer wollen wie so viele andere Menschen auch emigrieren und eine bessere Zukunft in Europa suchen. Den Kampf gegen die Wellen, der sie umbringen kann, nehmen sie schicksalsergeben in Kauf: „Barça walla Barsakh“, ist ihr Wahlspruch – Barcelona oder Tod!
Der senegalische Schriftsteller Abasse Ndione hat seinen Roman „Die Piroge“ bereits im Jahr 2008 geschrieben, und er hat seither an Aktualität wahrlich nichts eingebüßt. Erst im vergangenen Jahr ist dieser kleine große Roman, der zwischenzeitlich erfolgreich von Moussa Touré verfilmt wurde, im Transit-Verlag auf Deutsch erschienen. Er erzählt den mittlerweile ganz normalen Irrsinn einer lebensgefährlichen Bootsfahrt gen Europa einmal aus der Perspektive der Afrikaner. In einfacher Sprache und mit zwingender Logik beschreibt Ndione die vielfältigen Gründe für die Flucht: die bittere Armut der Bauern zum Beispiel, die durch Misswirtschaft des Staates und korrupte Geschäftsleute noch verstärkt wird; die allmähliche Vernichtung der Lebensgrundlage der Fischer, weil die europäischen Fangflotten die Meere leerfischen; überhaupt die mangelnde Rechtsstaatlichkeit, das marode Gesundheitssystem und die chronische Jugendarbeitslosigkeit eines hoch verschuldeten Entwicklungslandes. Ist es da ein Wunder, dass Familien zusammenlegen, um kräftigen jungen Männern für umgerechnet etwa 600 Euro die Überfahrt zu ermöglichen? Ist es verwerflich, dass sie darauf hoffen, dass deren spätere Überweisungen ihr Überleben sichern werden?
Das Problem an dieser Rechnung, ob im Jahr 2008 in Senegal oder im Jahr 2015 an vielen anderen Orten, ist allerdings, dass sie nicht immer aufgeht. Die Reise der beiden Fischer zum Beispiel, die in einer einfachen Holz-Piroge mit 40 weiteren Wagemutigen aufbrechen, steht zwar zunächst unter einem guten Stern: In zehn Tagen 1500 Kilometer zurückzulegen, das erscheint bei gutem Wetter wie ein schnell gewonnener Kampf. Bis ein Sturm kommt und die Wogen hochschlagen, bis die Wellen einen der Steuermänner über Bord reißen und sämtliche Nahrungsmittel und Wasserkanister mit, bis der Motor verreckt und dürstend, hungernd, ein Reisender nach dem anderen wahnsinnig wird oder wimmernd dahinsiecht.
Abasse Ndione weiß, wovon er schreibt: Der Sohn eines Fischers ist immer nah drangeblieben an den Nöten seiner Landsleute. 1946 wurde er in einem Dorf nahe Dakar geboren, er besuchte eine Koran- und eine französische Schule und arbeitete mehr als 30 Jahre lang als Krankenpfleger. Schon von früh an, so hat er einmal in einem Interview mit Le Monde erzählt, wollte er jedoch Schriftsteller werden: „Ein Marabut hat mir bestätigt, dass ich eines Tages ein sehr berühmter Autor sein würde.“
Die Prophezeiung des weisen Mannes ist eingetroffen: Auch wenn es acht Jahre dauerte, bis Ndione seinen ersten Roman 1984 bei einem Verlag in Senegal und später in Frankreich unterbringen konnte, ist sein Ruhm seither doch stetig gewachsen. Das hat auch mit der Unerschrockenheit zu tun, mit der er unangenehme oder verdrängte Themen aufgreift: Sein erster Roman „La vie en Spirale“ (Leben in einer Spirale) handelte vom Cannabis-Konsum und -Handel arbeitsloser Jugendlicher, sein zweiter Roman „Ramata“ von weiblicher Sexualität. Der dritte Roman „Mbëkë mi“ oder „Die Piroge“ reagierte auf die seit 2006 massiv angestiegenen Emigrationsversuche per Boot aus seiner Heimat; wie immer verfasste Ndione seinen Roman dabei zunächst in nächtlichen Schreibsitzungen per Hand auf Wolof, um ihn dann selbst ins Französische zu übertragen.
In München wird man einen politisch denkenden Schriftsteller erleben. Dass er für Versäumnisse in der Flüchtlingspolitik sehr deutliche Worte findet, hat seine Rede bei den diesjährigen Nibelungen-Festspielen in Worms gezeigt. Abasse Ndione weiß, wie hoch der Preis für jeden Einzelnen ist, der sein Leben einer Piroge oder einem Schlauchboot anvertraut. In seinem Buch werden die letzten der elend Dahintreibenden zwar vom Roten Kreuz gerettet. Der Film dagegen hört hier nicht auf: Er zeigt in einer weiteren Szene, wie die traumatisierten Überlebenden zwei Wochen später wieder in den Senegal abgeschoben werden. Den Kampf gegen die Wellen, sie haben ihn alle verloren.
„Die Piroge“, mit Abasse Ndione, Mittwoch, 2. Dezember, 19 Uhr, im Gasteig
In einfacher
Sprache und mit
zwingender Logik
beschreibt Ndione
die vielfältigen
Gründe für
die Flucht
Blickt von Afrika
nach Europa: Abasse Ndione.
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In Pirogen, den traditionellen Fischerbooten, versuchen Menschen, vom Senegal zu den Kanarischen Inseln zu gelangen.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit Abasse Nidones Roman "Die Piroge" hat Rezensent Ulrich Baron ein kluges Buch über senegalische Flüchtlinge gelesen. Bewundernd stellt der Kritiker fest, dass es dem Autor gelingt, nicht einfach von der Flucht vierzig junger Leute aus dem Senegal zu erzählen, sondern insbesondere in verschiedenen Passagen ihre Hoffnungen und Sehnsüchte zu schildern. Und so liest Baron gebannt, wie die Passagiere des Schiffes von Villen, Autos und einem besseren Leben träumen, neidisch auf alle jene sind, die es bereits geschafft haben und die Ungleichheit immer weiter vorantreiben. Einzig das Nachwort, das alle Hoffnung in eine Liberalisierung der europäischen Einwanderungspolitik setzt, erscheint dem Kritiker ein wenig "naiv".
© Perlentaucher Medien GmbH
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