Es sind die beiden großen Herausforderungen unserer Zeit: die Krise der liberalen Demokratie und der drohende ökologische Kollaps. Was, wenn sie mehr miteinander zu tun haben, als wir glauben? In seinem politischen Essay zeichnet Raphaël Glucksmann ein gestochen scharfes Porträt der westlichen Gesellschaft. Differenziert und unaufgeregt zeigt er: Wir haben verlernt, uns als Zivilgesellschaft mit einer kollektiven Aufgabe und einer gemeinsamen Zukunft zu begreifen. In Zeiten des Klimawandels und auseinanderdriftender Gesellschaften brauchen wir jedoch gerade ein Gespür dafür, was uns verbindet. Die Politik sind wir! ist ein konstruktives Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2019Mit Machiavelli, aber dem richtigen!
Raphaël Glucksmann, Spitzenkandidat der französischen Sozialisten bei der Europawahl, präsentiert seine Ideen
In seinem Buch, dessen deutsche Übersetzung den wenig glücklichen Titel "Die Politik sind wir!" trägt, macht der Journalist und mittlerweile auch Politiker Raphaël Glucksmann - Sohn des 2015 verstorbenen André Glucksmann, der zu den wirkmächtigen "neuen Philosophen" in Frankreich gehörte -, den Versuch, eine neue Synthese zwischen Demokratie und Liberalismus zu finden. Die ist für Glucksmann notwendig geworden, weil der Liberalismus mit dem ganz auf sich selbst bezogenen "homo oeconomicus" den Bürger als am Gemeinwohl orientierten Mitgestalter demokratischer Politik verdrängt habe.
Darauf bezieht sich der französische Titel "Die Kinder der Leere. Von der individualistischen Sackgasse zum bürger(schaft)lichen Erwachen". Beide Theoriestränge, der liberale als Garant individueller Freiheit wie der demokratische als Instrument kollektiver Selbstbestimmung, müssten zu ihrem Recht kommen. Denn "die Dynamik der freiheitlichen Demokratien entsteht aus dieser explosiven Begegnung des demokratischen und des liberalen Denkens . . . Wenn einer dieser Pole zu stark wird und nicht mehr ausgeglichen werden kann, ist entweder die Demokratie nicht mehr liberal oder der Liberalismus nicht mehr demokratisch - es kommt zur Krise."
Glucksmanns Analyse des Neoliberalismus (das ist für ihn der Irrweg, den etwa Hayek und Milton Friedman eingeschlagen haben) ist eine gut formulierte Zusammenfassung von vielem, was dazu in den letzten Jahren Kritisches geschrieben worden ist. Sein Gegenmodell ist keineswegs sozialistisch, auch wenn er die maßlosen Gehälter von Managern verurteilt und Freihandelsabkommen misstraut, weil sie seiner Meinung nach die Tendenz haben, in der Europäischen Union schon erreichte ökologische Standards zu untergraben. Schließlich kennt er die verheerende Bilanz des real existierenden Sozialismus, die sein Vater in einer Analyse des totalitären Charakters marxistischer Ideologie vorlegte.
Die Autoren, die Glucksmann inspirieren, sind vor allem Machiavelli (natürlich nicht der Fürstenberater des "Principe", sondern der patriotische Republikaner der "Discorsi") und antike Philosophen; Hannah Arendt wird zweimal erwähnt, aber ihre Theorie politischer Macht, die aus dem Zusammenhandeln der Bürger entstehe, prägt seine Argumente von Anfang bis Ende. Wo Machiavelli (und nach ihm Rousseau) eine Zivilreligion als Begründung und Stütze des bürgerschaftlichen Engagements fordert, findet Glucksmann, ganz Kind der französischen Laizität, in der "politischen Ökologie" die nicht mehr hintergehbare Grundlage des gemeinschaftlichen Überlebens und Zusammenlebens. Das soll der neue Kompass sein, der dem bürgerschaftlichen Handeln die Richtung vorgibt.
Für die angestrebte Synthese aus liberalem Individualismus und demokratischer Selbstbestimmung brauche es eine Ergänzung der repräsentativen Regierungsformen mit Elementen "partizipativer Demokratie"; also keinen Neubau, sondern eine Art Anbau an die bestehenden Systeme. Auch da betritt der Autor kein Neuland, er kann sich aus dem Fundus der amerikanischen Kommunitaristen bedienen; in Frankreich hat der Historiker Pierre Rosanvallon die Entwicklung der repräsentativen Demokratie beschrieben und ihre Anreicherung mit Elementen und Institutionen partizipativer Demokratie empfohlen.
In summa: mehr Beteiligung der Bürger an Planungs- und Entscheidungsprozessen. Das ist nicht mit schlichten Vorstellungen von direkter Demokratie ("mehr Volksabstimmungen") zu verwechseln, die für moderne Gesellschaften untauglich sind, noch weniger hat es mit dem souveränistischen Denken zu tun, das in Frankreich rechts wie links kursiert. Glucksmann schlägt zudem die Einführung eines Grundeinkommens für alle vor, aber auch einen obligatorischen Zivildienst, der vermitteln soll, dass Bürger nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben, und der den Gemeinsinn fördern könnte. Solche Vorschläge kursieren auch hierzulande, und vielleicht gibt es im Werkzeugkasten der partizipativen Demokratie tatsächlich Instrumente, die sich zum Einbau in die westlichen Repräsentativsysteme eignen - um diese zu stärken und den Populisten Wind aus den Segeln zu nehmen.
Glucksmann selbst hat sich in die politische Arena begeben. Obwohl er gar nicht Mitglied der Partei ist, haben ihn die Sozialisten als ihren Spitzenkandidaten für die bevorstehende Europawahl nominiert. Allerdings ist das ein Symptom von Verzweiflung: Bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen lagen die Ergebnisse der bis Mitte 2017 regierenden Sozialistischen Partei deutlich unter zehn Prozent. Wenn die von Glucksmann angeführte Liste besser abschnitte, wäre das ein Erfolg. Ob die in Marxisten, Sozialdemokraten und Sozialliberale gespaltene Partei deshalb seine Ideen ernst nähme, ist eine andere Frage.
GÜNTHER NONNENMACHER
Raphaël Glucksmann:
"Die Politik sind wir!" Gegen den Egoismus,
für einen neuen Gesellschaftsvertrag.
Aus dem Französischen von Stephanie Singh. Carl Hanser Verlag, München 2019. 191 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Raphaël Glucksmann, Spitzenkandidat der französischen Sozialisten bei der Europawahl, präsentiert seine Ideen
In seinem Buch, dessen deutsche Übersetzung den wenig glücklichen Titel "Die Politik sind wir!" trägt, macht der Journalist und mittlerweile auch Politiker Raphaël Glucksmann - Sohn des 2015 verstorbenen André Glucksmann, der zu den wirkmächtigen "neuen Philosophen" in Frankreich gehörte -, den Versuch, eine neue Synthese zwischen Demokratie und Liberalismus zu finden. Die ist für Glucksmann notwendig geworden, weil der Liberalismus mit dem ganz auf sich selbst bezogenen "homo oeconomicus" den Bürger als am Gemeinwohl orientierten Mitgestalter demokratischer Politik verdrängt habe.
Darauf bezieht sich der französische Titel "Die Kinder der Leere. Von der individualistischen Sackgasse zum bürger(schaft)lichen Erwachen". Beide Theoriestränge, der liberale als Garant individueller Freiheit wie der demokratische als Instrument kollektiver Selbstbestimmung, müssten zu ihrem Recht kommen. Denn "die Dynamik der freiheitlichen Demokratien entsteht aus dieser explosiven Begegnung des demokratischen und des liberalen Denkens . . . Wenn einer dieser Pole zu stark wird und nicht mehr ausgeglichen werden kann, ist entweder die Demokratie nicht mehr liberal oder der Liberalismus nicht mehr demokratisch - es kommt zur Krise."
Glucksmanns Analyse des Neoliberalismus (das ist für ihn der Irrweg, den etwa Hayek und Milton Friedman eingeschlagen haben) ist eine gut formulierte Zusammenfassung von vielem, was dazu in den letzten Jahren Kritisches geschrieben worden ist. Sein Gegenmodell ist keineswegs sozialistisch, auch wenn er die maßlosen Gehälter von Managern verurteilt und Freihandelsabkommen misstraut, weil sie seiner Meinung nach die Tendenz haben, in der Europäischen Union schon erreichte ökologische Standards zu untergraben. Schließlich kennt er die verheerende Bilanz des real existierenden Sozialismus, die sein Vater in einer Analyse des totalitären Charakters marxistischer Ideologie vorlegte.
Die Autoren, die Glucksmann inspirieren, sind vor allem Machiavelli (natürlich nicht der Fürstenberater des "Principe", sondern der patriotische Republikaner der "Discorsi") und antike Philosophen; Hannah Arendt wird zweimal erwähnt, aber ihre Theorie politischer Macht, die aus dem Zusammenhandeln der Bürger entstehe, prägt seine Argumente von Anfang bis Ende. Wo Machiavelli (und nach ihm Rousseau) eine Zivilreligion als Begründung und Stütze des bürgerschaftlichen Engagements fordert, findet Glucksmann, ganz Kind der französischen Laizität, in der "politischen Ökologie" die nicht mehr hintergehbare Grundlage des gemeinschaftlichen Überlebens und Zusammenlebens. Das soll der neue Kompass sein, der dem bürgerschaftlichen Handeln die Richtung vorgibt.
Für die angestrebte Synthese aus liberalem Individualismus und demokratischer Selbstbestimmung brauche es eine Ergänzung der repräsentativen Regierungsformen mit Elementen "partizipativer Demokratie"; also keinen Neubau, sondern eine Art Anbau an die bestehenden Systeme. Auch da betritt der Autor kein Neuland, er kann sich aus dem Fundus der amerikanischen Kommunitaristen bedienen; in Frankreich hat der Historiker Pierre Rosanvallon die Entwicklung der repräsentativen Demokratie beschrieben und ihre Anreicherung mit Elementen und Institutionen partizipativer Demokratie empfohlen.
In summa: mehr Beteiligung der Bürger an Planungs- und Entscheidungsprozessen. Das ist nicht mit schlichten Vorstellungen von direkter Demokratie ("mehr Volksabstimmungen") zu verwechseln, die für moderne Gesellschaften untauglich sind, noch weniger hat es mit dem souveränistischen Denken zu tun, das in Frankreich rechts wie links kursiert. Glucksmann schlägt zudem die Einführung eines Grundeinkommens für alle vor, aber auch einen obligatorischen Zivildienst, der vermitteln soll, dass Bürger nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben, und der den Gemeinsinn fördern könnte. Solche Vorschläge kursieren auch hierzulande, und vielleicht gibt es im Werkzeugkasten der partizipativen Demokratie tatsächlich Instrumente, die sich zum Einbau in die westlichen Repräsentativsysteme eignen - um diese zu stärken und den Populisten Wind aus den Segeln zu nehmen.
Glucksmann selbst hat sich in die politische Arena begeben. Obwohl er gar nicht Mitglied der Partei ist, haben ihn die Sozialisten als ihren Spitzenkandidaten für die bevorstehende Europawahl nominiert. Allerdings ist das ein Symptom von Verzweiflung: Bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen lagen die Ergebnisse der bis Mitte 2017 regierenden Sozialistischen Partei deutlich unter zehn Prozent. Wenn die von Glucksmann angeführte Liste besser abschnitte, wäre das ein Erfolg. Ob die in Marxisten, Sozialdemokraten und Sozialliberale gespaltene Partei deshalb seine Ideen ernst nähme, ist eine andere Frage.
GÜNTHER NONNENMACHER
Raphaël Glucksmann:
"Die Politik sind wir!" Gegen den Egoismus,
für einen neuen Gesellschaftsvertrag.
Aus dem Französischen von Stephanie Singh. Carl Hanser Verlag, München 2019. 191 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.08.2019Die leere Menge des „Wir“
Jenseits von intellektueller Überheblichkeit und moralischer Rechthaberei:
Raphaël Glucksmann versucht, den Gesellschaftsvertrag neu zu begründen
VON JOSEPH HANIMANN
Kinder der Leere“ hieß im französischen Original 2018 dieses Buch. „Kinder der Überfülle“ hätte der Autor es auch nennen können, zumindest für sich selbst. Unter den Sprösslingen des Mai 1968 sei er zweifellos einer der glücklichsten gewesen, schreibt der Sohn des 2015 verstorbenen Intellektuellen André Glucksmann. Die halbe Welt sei in seiner Kinderstube ein- und ausgegangen: afghanische Widerstandskämpfer und algerische Feministinnen, antimarxistische Dissidenten aus Osteuropa und marxistische Oppositionelle aus Lateinamerika. Damit dürfte zusammenhängen, dass der 1979 geborene Raphaël Glucksmann lange brauchte, um seinen eigenen Weg zu finden.
In den Dokumentarfilmen des Fünfundzwanzigjährigen über den Völkermord in Ruanda oder die Freiheitsbewegung in der Ukraine klangen 2004 die großen Themen des Vaters an: Massenmord, Menschenrechte. In Raphaël Glucksmanns mehrjähriger Tätigkeit als Berater des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili wirkten dann die mitteleuropäischen Ursprünge der Familie nach. Ein von André und Raphaël Glucksmann gemeinsam verfasstes Buch suchte 2008 dem damaligen Präsidenten Sarkozy den Sinn des Mai ’68 zu erklären, nachdem dieser das ideologische Erbe der Protestbewegung in Frankreich hatte liquidieren wollen. Es habe sich um eine Bewegung individuell-libertärer Auflehnung gegen jede Form von Unterdrückung gehandelt, lautete die etwas einseitige These.
Heute würde er das so nicht mehr schreiben, gesteht der Autor und bekennt sein tiefes Bedauern, mit seinem Vater nie kontrovers über das Vermächtnis seiner Generation diskutiert zu haben. Für die Söhne und Töchter sehe vieles anders aus als damals für die Eltern. Hätten diese sich von einer durch konservative oder revolutionäre Mythen und Dogmen gesättigten Sinnfülle lossagen müssen, sei seine eigene Generation in eine ideologische Leere geboren. Statt Fesseln zu sprengen, müsse sie neue Verbindungen knüpfen. „Unser Horizont bleibt die Emanzipation, aber wir geben dem Begriff einen anderen Sinn.“ Die Befreiung des Subjekts habe in die Sackgasse des Individualismus geführt, die Verheißungen des Liberalismus hätten die harte Realität des Neoliberalismus gebracht, der heute die Demokratie untergräbt.
Ja, in seinen jungen Jahren habe auch er an den Liberalismus geglaubt, gibt der Autor zu. Er habe lieber Kant als Hegel, lieber Montaigne als Marx, lieber Voltaire als Rousseau gelesen und statt auf prophetische Ganzheitsvisionen auf die liberale Trennung zwischen der wirtschaftlichen, politischen, religiösen, öffentlichen und privaten Sphäre gesetzt. In der intellektuellen Überheblichkeit der Liberalen und der moralischen Rechthaberei der Linken gegenüber jenen Bevölkerungsschichten, die von der Globalisierung und der individuellen Zersplitterung der Gesellschaft überfordert wurden, sieht Glucksmann das Versagen der Führungskräfte in den letzten Jahren.
„Wir sind gescheitert“, schreibt er zu Beginn seines Buchs. „Wir, die fortschrittlichen Intellektuellen, Vorkämpfer des Humanismus, Befürworter der offenen Gesellschaft, Verfechter der Menschenrechte und kosmopolitischen Bürger sind unfähig, die Welle des Nationalismus und Autoritarismus aufzuhalten.“ Dem trügerischen Ersatz-Wir der populistischen Meinungsführer hätten die intellektuellen und politischen Eliten nichts entgegengehalten als fragwürdige Postulate wie das des Multikulturalismus: ein Begriff, der die Zersetzung der Gesellschaft in Teil-Communities zusätzlich befördert und die öffentliche Diskussion mit zahlreichen Tabus vermint habe.
In einem anderen „Kind der Leere“ hätte Raphaël Glucksmann sich eigentlich wiedererkennen müssen. Der zwei Jahre ältere Emmanuel Macron habe mit seiner Abkehr von den alten Parteien und politischen Vorstellungen, seiner Verteidigung der offenen Gesellschaft, seinem Verzicht auf einfache Lösungen, seinem Bekenntnis zu Europa und seiner Belesenheit ein verlockendes Bild geboten, gibt der Autor zu. Dennoch habe er ihm von Anfang an misstraut. Macron wollte die in Frankreich blockierten Energien freisetzen, sein Land aus dem rebellischen Abseits holen und den Gegebenheiten der Welt anpassen, ist nach Ansicht Glucksmanns aber unfähig, die von der Globalisierung verunsicherten Bevölkerungsschichten anzusprechen.
„Ihr seid Zehntausende und ich sehe nur ein paar Gesichter“ – dieser vom jungen Präsidenten in der Wahlnacht vor zwei Jahren im Louvre an sein Publikum gerichtete Satz machte für Glucksmann Macrons Volksblindheit offensichtlich. Er spreche zu einer Vielzahl von „Ichs“, sei als Sprössling der individualistischen Revolution aber zu keiner anderen Vorstellung des „Wir“ fähig als jener, die spiegelbildlich aus der Eigeninszenierung seiner Macht und aus der Beschwörung historischer Mythen hervorgehe. Mit einer Ästhetisierung der Politik suche Macron den realen Machtverlust des Staatslenkers, der zusehends den Spielregeln der Märkte ausgesetzt ist, mehr zu überspielen als zu bekämpfen. Hinter seinem „enthusiastischen Konformismus“ werde paradoxerweise ein Mangel an politischer Ambition erkennbar.
Aus dieser kritischen Position heraus strebt Glucksmann ein linkes Gegenprogramm ökologischer Ausrichtung an. Das vorliegende Buch steckt dafür das Ideenfeld ab. Mit seinem Plädoyer für eine „tragische Ökologie“ beispielsweise will der Autor die Klima- und Umweltfrage aus der Perspektive abstrakter Hypothesen in den Horizont des „Tragischen“ überführen, in dem das Ende unserer Welt die höchstwahrscheinlich auf uns zukommende Lebensrealität ist.
Ob damit politisch neue Weg zu öffnen sind, bleibt zweifelhaft. Glucksmanns Versuch, mit der vergangenen Herbst gegründeten Vereinigung „Place publique“ die versprengte französische Linke zusammenzuführen, ist er vorerst gescheitert. Seine Liste für die Europawahl hat mit sechs Prozent knapp den Einzug ins Europaparlament geschafft. Als Ideenanreger wird mit diesem zwischen Schreibstube, Regierungskabinetten, Oppositionszirkeln, Plenarsälen und Fernsehstudios herumwirbelnden Intellektuellen aber zu rechnen sein. Die moderne Intellektuellenfigur hat mit ihm eine neue Stufe gesellschaftlicher Löslichkeit erreicht.
Raphaël Glucksmann: Die Politik sind wir! Gegen den Egoismus, für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. Carl Hanser Verlag, München 2019. 190 S., 18 Euro.
„Unser Horizont bleibt
die Emanzipation, aber wir geben
dem Begriff einen anderen Sinn.“
Seine Liste für die Europawahl
schaffte knapp den Einzug
ins Parlament
„Wir sind gescheitert“, schreibt Raphaël Glucksmann, „wir, die fortschrittlichen Intellektuellen …“.
Foto: AFP
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Jenseits von intellektueller Überheblichkeit und moralischer Rechthaberei:
Raphaël Glucksmann versucht, den Gesellschaftsvertrag neu zu begründen
VON JOSEPH HANIMANN
Kinder der Leere“ hieß im französischen Original 2018 dieses Buch. „Kinder der Überfülle“ hätte der Autor es auch nennen können, zumindest für sich selbst. Unter den Sprösslingen des Mai 1968 sei er zweifellos einer der glücklichsten gewesen, schreibt der Sohn des 2015 verstorbenen Intellektuellen André Glucksmann. Die halbe Welt sei in seiner Kinderstube ein- und ausgegangen: afghanische Widerstandskämpfer und algerische Feministinnen, antimarxistische Dissidenten aus Osteuropa und marxistische Oppositionelle aus Lateinamerika. Damit dürfte zusammenhängen, dass der 1979 geborene Raphaël Glucksmann lange brauchte, um seinen eigenen Weg zu finden.
In den Dokumentarfilmen des Fünfundzwanzigjährigen über den Völkermord in Ruanda oder die Freiheitsbewegung in der Ukraine klangen 2004 die großen Themen des Vaters an: Massenmord, Menschenrechte. In Raphaël Glucksmanns mehrjähriger Tätigkeit als Berater des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili wirkten dann die mitteleuropäischen Ursprünge der Familie nach. Ein von André und Raphaël Glucksmann gemeinsam verfasstes Buch suchte 2008 dem damaligen Präsidenten Sarkozy den Sinn des Mai ’68 zu erklären, nachdem dieser das ideologische Erbe der Protestbewegung in Frankreich hatte liquidieren wollen. Es habe sich um eine Bewegung individuell-libertärer Auflehnung gegen jede Form von Unterdrückung gehandelt, lautete die etwas einseitige These.
Heute würde er das so nicht mehr schreiben, gesteht der Autor und bekennt sein tiefes Bedauern, mit seinem Vater nie kontrovers über das Vermächtnis seiner Generation diskutiert zu haben. Für die Söhne und Töchter sehe vieles anders aus als damals für die Eltern. Hätten diese sich von einer durch konservative oder revolutionäre Mythen und Dogmen gesättigten Sinnfülle lossagen müssen, sei seine eigene Generation in eine ideologische Leere geboren. Statt Fesseln zu sprengen, müsse sie neue Verbindungen knüpfen. „Unser Horizont bleibt die Emanzipation, aber wir geben dem Begriff einen anderen Sinn.“ Die Befreiung des Subjekts habe in die Sackgasse des Individualismus geführt, die Verheißungen des Liberalismus hätten die harte Realität des Neoliberalismus gebracht, der heute die Demokratie untergräbt.
Ja, in seinen jungen Jahren habe auch er an den Liberalismus geglaubt, gibt der Autor zu. Er habe lieber Kant als Hegel, lieber Montaigne als Marx, lieber Voltaire als Rousseau gelesen und statt auf prophetische Ganzheitsvisionen auf die liberale Trennung zwischen der wirtschaftlichen, politischen, religiösen, öffentlichen und privaten Sphäre gesetzt. In der intellektuellen Überheblichkeit der Liberalen und der moralischen Rechthaberei der Linken gegenüber jenen Bevölkerungsschichten, die von der Globalisierung und der individuellen Zersplitterung der Gesellschaft überfordert wurden, sieht Glucksmann das Versagen der Führungskräfte in den letzten Jahren.
„Wir sind gescheitert“, schreibt er zu Beginn seines Buchs. „Wir, die fortschrittlichen Intellektuellen, Vorkämpfer des Humanismus, Befürworter der offenen Gesellschaft, Verfechter der Menschenrechte und kosmopolitischen Bürger sind unfähig, die Welle des Nationalismus und Autoritarismus aufzuhalten.“ Dem trügerischen Ersatz-Wir der populistischen Meinungsführer hätten die intellektuellen und politischen Eliten nichts entgegengehalten als fragwürdige Postulate wie das des Multikulturalismus: ein Begriff, der die Zersetzung der Gesellschaft in Teil-Communities zusätzlich befördert und die öffentliche Diskussion mit zahlreichen Tabus vermint habe.
In einem anderen „Kind der Leere“ hätte Raphaël Glucksmann sich eigentlich wiedererkennen müssen. Der zwei Jahre ältere Emmanuel Macron habe mit seiner Abkehr von den alten Parteien und politischen Vorstellungen, seiner Verteidigung der offenen Gesellschaft, seinem Verzicht auf einfache Lösungen, seinem Bekenntnis zu Europa und seiner Belesenheit ein verlockendes Bild geboten, gibt der Autor zu. Dennoch habe er ihm von Anfang an misstraut. Macron wollte die in Frankreich blockierten Energien freisetzen, sein Land aus dem rebellischen Abseits holen und den Gegebenheiten der Welt anpassen, ist nach Ansicht Glucksmanns aber unfähig, die von der Globalisierung verunsicherten Bevölkerungsschichten anzusprechen.
„Ihr seid Zehntausende und ich sehe nur ein paar Gesichter“ – dieser vom jungen Präsidenten in der Wahlnacht vor zwei Jahren im Louvre an sein Publikum gerichtete Satz machte für Glucksmann Macrons Volksblindheit offensichtlich. Er spreche zu einer Vielzahl von „Ichs“, sei als Sprössling der individualistischen Revolution aber zu keiner anderen Vorstellung des „Wir“ fähig als jener, die spiegelbildlich aus der Eigeninszenierung seiner Macht und aus der Beschwörung historischer Mythen hervorgehe. Mit einer Ästhetisierung der Politik suche Macron den realen Machtverlust des Staatslenkers, der zusehends den Spielregeln der Märkte ausgesetzt ist, mehr zu überspielen als zu bekämpfen. Hinter seinem „enthusiastischen Konformismus“ werde paradoxerweise ein Mangel an politischer Ambition erkennbar.
Aus dieser kritischen Position heraus strebt Glucksmann ein linkes Gegenprogramm ökologischer Ausrichtung an. Das vorliegende Buch steckt dafür das Ideenfeld ab. Mit seinem Plädoyer für eine „tragische Ökologie“ beispielsweise will der Autor die Klima- und Umweltfrage aus der Perspektive abstrakter Hypothesen in den Horizont des „Tragischen“ überführen, in dem das Ende unserer Welt die höchstwahrscheinlich auf uns zukommende Lebensrealität ist.
Ob damit politisch neue Weg zu öffnen sind, bleibt zweifelhaft. Glucksmanns Versuch, mit der vergangenen Herbst gegründeten Vereinigung „Place publique“ die versprengte französische Linke zusammenzuführen, ist er vorerst gescheitert. Seine Liste für die Europawahl hat mit sechs Prozent knapp den Einzug ins Europaparlament geschafft. Als Ideenanreger wird mit diesem zwischen Schreibstube, Regierungskabinetten, Oppositionszirkeln, Plenarsälen und Fernsehstudios herumwirbelnden Intellektuellen aber zu rechnen sein. Die moderne Intellektuellenfigur hat mit ihm eine neue Stufe gesellschaftlicher Löslichkeit erreicht.
Raphaël Glucksmann: Die Politik sind wir! Gegen den Egoismus, für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. Carl Hanser Verlag, München 2019. 190 S., 18 Euro.
„Unser Horizont bleibt
die Emanzipation, aber wir geben
dem Begriff einen anderen Sinn.“
Seine Liste für die Europawahl
schaffte knapp den Einzug
ins Parlament
„Wir sind gescheitert“, schreibt Raphaël Glucksmann, „wir, die fortschrittlichen Intellektuellen …“.
Foto: AFP
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Thomas Palzer rät mit Raphael Glucksmann zur Distanz zu uns selbst. Nur so könne der homo oeconomicus sich selbst befreien. Dass dergleichen nötig ist und wie es dazu kommen konnte, erläutert der Autor in seinem Essay laut Palzer mit Hilfe von Friedman und Hayek und den Kindern von 68. Auch wenn nicht alles neu ist in dieser Gegenwartsdiagnose, so luzide wie hier hat es Palzer selten in Worte gefasst bekommen.
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"Glucksmanns Analyse des Neoliberalismus ... ist eine gut formulierte Zusammenfassung von vielem, was dazu in den letzten Jahren Kritisches geschrieben worden ist." Günther Nonnenmacher, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.05.19
"Raphael Glucksmann ist mit seinem Essay ... eine zwar grundsätzlich bekannte, aber besonders luzide Diagnose der Gegenwart und ihrer Krisen gelungen." Thomas Palzer, Deutschlandfunk Kultur, 07.06.19
"Glucksmann strebt ein linkes Gegenprogramm ökologischer Ausrichtung an. Das vorliegende Buch steckt dafür das Ideenfeld ab." Joseph Hanimann, Süddeutsche Zeitung, 06.08.19
"Raphael Glucksmann ist mit seinem Essay ... eine zwar grundsätzlich bekannte, aber besonders luzide Diagnose der Gegenwart und ihrer Krisen gelungen." Thomas Palzer, Deutschlandfunk Kultur, 07.06.19
"Glucksmann strebt ein linkes Gegenprogramm ökologischer Ausrichtung an. Das vorliegende Buch steckt dafür das Ideenfeld ab." Joseph Hanimann, Süddeutsche Zeitung, 06.08.19