Mitte 1986 richtete Jürgen Habermas seine "Kampfansage" an die "Neokonservativen". Linke wie rechte Intellektuelle sammelten nun ihre Bataillone, der "Historikerstreit" brach los. Der Politikwissenschaftler Steffen Kailitz sichtet das Schlachtgelände unter dem Blickwinkel der Frage "Welche Strukturen und Elemente der politischen Deutungskultur spiegeln sich in dieser Kontroverse?". Der "Historikerstreit" eignet sich ideal für diesen Ansatz, weil er der für die Ausgestaltung der deutschen politischen Deutungskultur bedeutendste Konflikt ist. Von der "Einzigartigkeit nationalsozialistischer Verbrechen" bis zum "Verfassungspatriotismus" prägten die Streitenden entscheidende Muster zur Deutung deutscher Geschichte und Gegenwart.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2002Deuten und Deuteln
DER HISTORIKERSTREIT von 1985 bis 1988, an dem sich keineswegs die Mehrheit der deutschen Historiker, wohl aber die bekanntesten Zeithistoriker und dazu viele Publizisten beteiligten, wird von Steffen Kailitz überzeugend als der bisher umfangreichste und intensivste Deutungskonflikt in der Geschichte der Bundesrepublik analysiert. Er war nämlich vor allem eine politische Kontroverse, welche Jürgen Habermas, sekundiert von Karl-Heinz Janßen, initiiert hatte. Seitdem stritten linksliberale und sozialdemokratische Zeithistoriker, die um ihre Meinungsführerschaft fürchteten, gegen einige konservativere Kollegen, denen sie national-apologetische Tendenzen, ja eine Verharmlosung des Nationalsozialismus und eine Verschwörung zur Durchsetzung ihres Geschichtsbildes vorhielten. Den Hintergrund bildeten die Anfänge der CDU-FDP-Regierung seit 1982 sowie Helmut Kohls Plan eines Deutschen Historischen Museums in Bonn, aus dem das längst als unparteiliches Zentrum der Dokumentation und der Diskussion anerkannte "Haus der Geschichte" geworden ist. Kailitz skizziert einleitend seinen Bezugsrahmen, den der politischen Kultur und Deutungskultur, und zeichnet sodann detailliert und präzise nach, wie der Historikerstreit geführt und von seinen Urhebern, die sich offenbar als Souveräne zeitgeschichtlicher Wahrheit empfanden, polemisch aufgeladen wurde. Dabei wurden alle großen Fragen unserer kollektiven Selbstvergewisserung aufgerufen: auf der politischen Ebene die deutsche Einheit und die Berechtigung von Patriotismus, die Westbindung und das Totalitarismusproblem, auf der historischen die Sonderwegsthese, die Historisierung des Nationalsozialismus, die Einzigartigkeit des Genozids an den Juden und die gegenseitigen Beeinflussungen von Stalinismus und Nationalsozialismus. Zu Kailitz' nüchternem Fazit gehört, daß der ganze Streit keine wissenschaftlichen Früchte trug, aber mit einer zuvor nie so manifest gewordenen Deutlichkeit erwies, daß der Diskurs über den Nationalsozialismus die politische Deutungskultur in der Bundesrepublik bestimmt. Insofern wirkt er weiter, obgleich manche der Thesen seiner Urheber, so wegen der deutschen Einheit und wegen des Totalitarismus, seit 1989/90 obsolet geworden sind. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis ermöglicht den Rekurs auf alle damaligen Positionen. Leider fehlt ein Register, welches dazu noch nützlicher gewesen wäre. (Steffen Kailitz: Die politische Deutungskultur im Spiegel des "Historikerstreits". What's right? What's left? Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001. 334 Seiten, 34,- Euro.)
RUDOLF LILL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
DER HISTORIKERSTREIT von 1985 bis 1988, an dem sich keineswegs die Mehrheit der deutschen Historiker, wohl aber die bekanntesten Zeithistoriker und dazu viele Publizisten beteiligten, wird von Steffen Kailitz überzeugend als der bisher umfangreichste und intensivste Deutungskonflikt in der Geschichte der Bundesrepublik analysiert. Er war nämlich vor allem eine politische Kontroverse, welche Jürgen Habermas, sekundiert von Karl-Heinz Janßen, initiiert hatte. Seitdem stritten linksliberale und sozialdemokratische Zeithistoriker, die um ihre Meinungsführerschaft fürchteten, gegen einige konservativere Kollegen, denen sie national-apologetische Tendenzen, ja eine Verharmlosung des Nationalsozialismus und eine Verschwörung zur Durchsetzung ihres Geschichtsbildes vorhielten. Den Hintergrund bildeten die Anfänge der CDU-FDP-Regierung seit 1982 sowie Helmut Kohls Plan eines Deutschen Historischen Museums in Bonn, aus dem das längst als unparteiliches Zentrum der Dokumentation und der Diskussion anerkannte "Haus der Geschichte" geworden ist. Kailitz skizziert einleitend seinen Bezugsrahmen, den der politischen Kultur und Deutungskultur, und zeichnet sodann detailliert und präzise nach, wie der Historikerstreit geführt und von seinen Urhebern, die sich offenbar als Souveräne zeitgeschichtlicher Wahrheit empfanden, polemisch aufgeladen wurde. Dabei wurden alle großen Fragen unserer kollektiven Selbstvergewisserung aufgerufen: auf der politischen Ebene die deutsche Einheit und die Berechtigung von Patriotismus, die Westbindung und das Totalitarismusproblem, auf der historischen die Sonderwegsthese, die Historisierung des Nationalsozialismus, die Einzigartigkeit des Genozids an den Juden und die gegenseitigen Beeinflussungen von Stalinismus und Nationalsozialismus. Zu Kailitz' nüchternem Fazit gehört, daß der ganze Streit keine wissenschaftlichen Früchte trug, aber mit einer zuvor nie so manifest gewordenen Deutlichkeit erwies, daß der Diskurs über den Nationalsozialismus die politische Deutungskultur in der Bundesrepublik bestimmt. Insofern wirkt er weiter, obgleich manche der Thesen seiner Urheber, so wegen der deutschen Einheit und wegen des Totalitarismus, seit 1989/90 obsolet geworden sind. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis ermöglicht den Rekurs auf alle damaligen Positionen. Leider fehlt ein Register, welches dazu noch nützlicher gewesen wäre. (Steffen Kailitz: Die politische Deutungskultur im Spiegel des "Historikerstreits". What's right? What's left? Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001. 334 Seiten, 34,- Euro.)
RUDOLF LILL
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Überzeugend wird hier für Rezensent Rudolf Lill der Historikerstreit als der "bisher umfangreichste und intensivste Deutungskonflikt" der Bundesrepublik analysiert. Einleitend skizziere Autor Steffen Kailitz den Bezugsrahmen und zeichne dann "detailliert und präzise" nach, wie der Streit geführt worden sei. Es ging dabei kurz gesagt um das Selbstverständnis der Bundesrepublik. Leidenschaftslos befinde Kailitz, dass der Streit zwar keine wissenschaftlichen Früchte getragen habe, aber mit einer "zuvor nie manifest gewordenen Deutlichkeit" erwiesen habe, dass die politische Deutungskultur in der Bundesrepublik vom Diskurs über den Nationalsozialismus bestimmt werde, so der Rezensent. Er lobt schlussendlich noch das "umfangreiche" Literaturverzeichnis, vermisst aber ein Register.
© Perlentaucher Medien GmbH
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