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Produktdetails
  • Studien zur Antiken Stadt
  • Verlag: Pfeil
  • Seitenzahl: 176
  • Deutsch
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 606g
  • ISBN-13: 9783923871865
  • Artikelnr.: 21987289
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.1995

Für verfeinerte Bedürfnisse
Richard Neudecker untersucht die römischen Prachtlatrinen

Angehörige meiner Generation lernten Latrinen der verschiedensten Art kennen: die einfachen Formen im Jugendlager, die Birkengestelle der Wehrmacht im Osten, die zementierten unterirdischen Stätten im Gefangenenlager an der Wolga. Im Rahmen eines altertumswissenschaftlichen Studiums aber war dann von Latrinen nicht mehr die Rede; in den einschlägigen Handbüchern zur römischen Zivilisation wie in der speziellen archäologischen Fachliteratur wurde der ganze Bereich der "Fäkalforschung" weitgehend ausgeblendet.

Es blieb auch eine Ausnahme, wenn James Joyce im "Ulysses" einmal die "Kloakenbesessenheit" der Römer erwähnte. So dürfte es überraschen, daß die Kommission zur Erforschung des antiken Städtewesens der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im ersten Band der von Paul Zanker herausgegebenen neuen "Studien zur antiken Stadt" eine Münchner Habilitationsschrift über kaiserliche Prachtlatrinen publiziert.

Im Unterschied zu den einfachen Urinalia und Necessaria, den schlichten Bedürfnisstätten für die Masse der Bevölkerung, versteht Richard Neudecker unter "Prachtlatrinen" ganz allgemein "solche öffentlichen Bedürfnisanstalten, die während der römischen Kaiserzeit mit einem über praktische Notwendigkeiten hinausgehenden Aufwand ausgestaltet wurden". Das Verzeichnis der im Text besprochenen Stätten umfaßt immerhin 145 Nummern, darunter 61 Prachtlatrinen aus dem gesamten Mittelmeerraum. Ein besonders reichhaltiges Abbildungsmaterial, klare Skizzen und eine instruktive Tabelle dokumentieren eindrucksvoll die "architektonischen Gehäuse" wie deren Schmuck.

Neudecker unterscheidet zwischen verschiedenen Bautypen, dem besonders im Osten verbreiteten Peristyl-Typus, dem im Westen dominierenden Exedra-Typus, "Einreihern", geschlossenen Räumen auf rechteckigem oder trapezförmigem Grundriß, Stätten mit und ohne Vestibula. Zugleich differenziert er die wichtigsten Ausstattungselemente. Er beschreibt die relativ häufigen Fortuna-Darstellungen in diesen Anlagen, die ebenfalls nicht seltenen Abbildungen von Delphinen an den seitlichen Begrenzungen der Sitzbänke, die figürliche Flächenkunst mit Szenen aus Palästra und Gladiatorenbereich, die Mosaikböden, die zum Beispiel eine Nillandschaft zeigen, kurzum jene vielfältige und reiche künstlerische Ausstattung, die gelegentlich, wie etwa in Pozzuoli, "ein Baumonument der Luxusklasse" entstehen ließ.

Dem modernen Europäer, für den die Abgeschlossenheit der einzelnen Toilette selbstverständlich ist, erscheint es kaum faßbar, daß die Prachtlatrinen des zweiten Jahrhunderts nach Christus eine Vielzahl nicht getrennter Sitze aufwiesen. Im Durchschnitt verfügten sie über etwa 25 Öffnungen, doch sind auch Anlagen bekannt (Rom, Athen, Kos, Apamea), die bis zu 80 Sitze umfaßten und somit eine vielfältige Kommunikation erlaubten.

Auffallend ist ferner der Kontrast zwischen der bescheidenen Gestaltung der Fassaden und der Pracht der Innenausstattung. In der Verknüpfung von Hygiene und Schönheit sieht Neudecker "die Originalität der römischen Prachtlatrine". Ergänzt werden diese systematischen Analysen durch eine Reihe von Einzelstudien für Rom, Ostia, Timgad, Cuicul, Korinth und Ephesos.

Doch mit dieser Inventur begnügt sich der Autor nicht. Mindestens ebenso wichtig erscheint es ihm, "Korrelationen zwischen zeitlich-örtlichen Äußerungen der Latrinenkultur und den verschiedenen Formen des politisch-sozialen Lebens im Imperium zu erkennen". Dazu wertet er nun auch entlegene Stellen der antiken Literatur aus, Artemidors Traumbuch wie medizinische und philosophische Traktate. So streift Neudecker schon in der Eingangspartie das Verhalten auf der Latrine, die "Semiotik" der Fäkalie, die Bedeutung einer dezenten Entblößung.

Gestützt auf all dies, stellt er dann, im Anschluß an Michel Foucault, für das erste und zweite Jahrhundert nach Christus ein "neues Verhalten" fest, "ein Anwachsen der souci de soi", der Sorge auch um den eigenen Körper. Sie manifestiert sich zuerst literarisch, danach in der "Materialisierung in den Prachtlatrinen".

Im Zusammenhang mit den allgemeinen Erziehungsgrundsätzen der römischen Führungsschicht konstatiert Neudecker die "Ausweitung der Selbstbeherrschung auf alle Körperfunktionen". Paradebeispiel für die Verbindlichkeit dieser Haltung ist die Tatsache, daß Marc Aurel in den "Wegen zu sich selbst" seinen Vorgänger Antoninus Pius deswegen rühmt, weil dieser imstande war, "an derselben Stelle bis zum Abend zu verweilen, indem er wegen seiner einfachen Kost auch nicht zu anderer als der gewohnten Stunde die Exkremente auszuscheiden verlangte". Die Folgen des Rückgangs der offiziellen Wirkungsmöglichkeiten der römischen Oberschicht sieht Neudecker sehr realistisch: "Nunmehr nimmt die Diätetik intensivere und beunruhigendere Formen an, die Verdauung wird pathologisiert und verführt zur hypochondrischen Idolatrie des Körpers."

Selbstverständlich ist das Ganze primär ein Oberschichtenphänomen. "Die gutsituierte Kaufmannsschicht" bildet nach Neudecker das Stammpublikum der Prachtlatrinen, wie in einzelnen Fällen reservierte Sitze belegen. Dafür spricht auch die Lokalisierung dieser Anlagen in den Städten. Weniger überzeugend ist dagegen Neudeckers Versuch, die "Verhaltensstrukturen in den Latrinen" mit Hilfe sozialanthropologischer (Erving Goffmann) und ethnologischer (Mary Douglas) Theorien zu erläutern. Insgesamt gesehen aber handelt es sich hier um ein intelligentes und anregendes Experiment, um den Versuch, einen bislang vernachlässigten archäologischen Bereich auch mit den Methoden der Mentalitätsgeschichte zu erhellen. KARL CHRIST

Richard Neudecker: "Die Pracht der Latrine". Zum Wandel öffentlicher Bedürfnisanstalten in der kaiserzeitlichen Stadt. Studien zur antiken Stadt, Band 1. Verlag Dr. Friedrich Pfeil, München 1994. 176 S., 72 Abb., geb., 63,- DM.

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