Liberale Völkerrechtskonzeptionen hatten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Konjunktur. Kantisch inspirierte Erwartungen auf eine liberale internationale Friedensordnung sowie ein erreichtes »Ende der Geschichte« (Fukuyama), i.e. ein ideologischer Sieg der westlichen Werte der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit - ein Ende der ideologischen (Klassen-)Kämpfe - sind jedoch im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine bis auf Weiteres begraben worden. Auch wenn es spätestens seit dem Truppenabzug aus Afghanistan sowie im Hinblick auf den machtpolitischen Aufstieg Chinas wenig überzeugt, weiter unbeirrt von einem Siegeszug liberalen Denkens zu sprechen, so impliziert dies indes mitnichten die Schlussfolgerung, dass der Westen seinen Anspruch auf eine liberale Weltordnung aufgegeben hat (»the great battle for freedom: a battle between democracy and autocracy«). Der Forschungsansatz, inwieweit die Menschenrechte in einer ideologiekritischen Perspektive als Voraussetzung des Friedens gelten können, hat weiter an Berechtigung gewonnen. Eine zunehmend anthropozentrisch angereicherte internationale Rechtsordnung, die Eschatologie des Kantischen Friedensbegriffs sowie die Ambivalenz des Liberalismus, dessen Universalismusgedanke schon immer auch eine imperialistische Schlag- und Schattenseite sowie den Keim gewaltsamer Durchsetzung liberaler Ideen inkorporiert hat, sind hinsichtlich des prekären Verhältnisses von Menschenrechten und Frieden zur Disposition zu stellen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Viel Wissenswertes über die Menschenrechtsproblematik hat Joachim Dolezik in diesem Buch zusammengetragen, so Rezensent Alexander Gallus. Es handelt sich, stellt Gallus klar, um Doleziks Dissertation und dementsprechend fußnotenlastig fällt das Buch auch aus. Der Autor ist weniger an Einzelfallstudien interessiert, erläutert der Rezensent, als an einer Ideengeschichte der Menschenrechte, die er zwischen universalistischen - ausgehend von Kant - und interessenspartikularistischen - ausgehend von Hobbes - Positionen aufspannt. Viel Raum gibt Dolezik Gallus zufolge den diversen Kritikern der universalistischen Position, auch die Rolle des Kapitalismus, der sich ethischen Forderungen entzieht, wird ausgearbeitet. Stellenweise geht Gallus Doleziks Abrechnung mit dem Menschenrechtsidealismus zu weit, auch die zentrale Rolle, die der Autor in seiner Argumentation Carl Schmitt einräumt, hält er für zumindest diskussionswürdig. Insgesamt dennoch ein wichtiges Buch, meint der Historiker Gallus, gerade auch für diejenigen, die die weltweite Geltung der Menschenrechte auch in Zukunft verteidigen wollen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.2024Blick hinter die moralische Fassade
In einer idealen Welt könnte es so schön sein. Nicht nur innerstaatlich, sondern auch auf internationaler Ebene würden die Menschenrechte beachtet und geschützt. Verstöße würden durch nationale und überstaatlich vereinbarte Gesetze konsequent geahndet. Das Völkerrecht und der Menschenrechtsschutz gingen Hand in Hand. In der Konsequenz führte dies zu mehr Frieden und einer gerechteren globalen Ordnung.
Wie wenig dieses Wunschbild der Wirklichkeit entspricht, offenbaren mit brutaler Deutlichkeit die kriegerischen Auseinandersetzungen, so unterschiedlich gelagert deren Ausgangsbedingungen sind, zum Beispiel in der Ukraine und im Gazastreifen. Häufiger als in den ersten Jahrzehnten nach Beendigung des Kalten Krieges wird wieder über besonders schwere Menschenrechtsverletzungen wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord gestritten. Beide aktuellen Konflikte touchiert Joachim Dolezik zwar kurz, ohne aber eine vertiefte Betrachtung anzustreben. Das tut er auch im Falle anderer, weiter zurückliegender und besser ergründbarer Krisen und Kriege nicht wesentlich intensiver, geht es ihm doch weder um eine genealogisch genaue noch um eine rechtshistorische Darstellung, sondern vielmehr um eine grundsätzliche normativ-konzeptionelle und rechtsphilosophische Erörterung des prekären Verhältnisses von Menschen- und Völkerrecht sowie einer liberalen Friedensordnung zwischen idealem Anspruch und realer Ausprägung.
Für eine Dissertation - es ist Doleziks zweite nach einer juristischen über "Narrative zum Gerechten Krieg im Völkerrecht", auf die er häufig verweist - hat er sich mithin nicht gerade ein kleines Thema gewählt, dem er so belesen wie gründlich zu begegnen sucht. Der spürbare Drang, verarbeitete Quellen und Literatur so vollständig wie möglich erkennbar werden zu lassen, machen die Lektüre nicht immer zu einer erquicklichen Übung, zumal Dolezik in die eigenen Sätze regelmäßig Paraphrasen und Zitate einbindet. Entsprechend ausladend ist der Fußnotenteil, der selbst noch in der Schlussbetrachtung passagenweise bis zu vier Fünftel der Seite ausmacht.
Das gibt allerdings keinen Anlass für Polemik oder Häme, schließlich handelt es sich um eine gewichtige akademische Qualifikationsschrift und kein auf Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse bedachtes Sachbuch. Die detailgenaue Registratur und Einordnung der verschiedenen Facetten und Thesen der Forschung stellt für sich genommen eine große Leistung dar. Darüber hinaus zieht Dolezik auch selbst Schlussfolgerungen, wenngleich sich nicht immer leicht auseinanderhalten lässt, was Referat und was eigene Bewertung ist.
Neben ideengeschichtlichen Grabungen zum Menschenrechtsverständnis und zum Friedensbegriff mit verschiedenen Traditionssträngen - so neben einer universalistischen "kantischen" Strömung, die auf eine Weltfriedensordnung republikanischer Staaten zielt, eine "realistische" hobbesianische im Zeichen von Macht und Interessen sowie eine gleichsam dazwischen angesiedelte, auf Staatenkooperation und Rechtsbindung setzende "grotianische" Schule - zeichnet Dolezik mit großer Akkuratesse das normative Spannungsverhältnis zwischen Friedenssicherung und Menschenrechtsschutz in der aktuellen Debatte nach, an der sich außer Juristen unter anderen Politologen, Philosophen und Historiker beteiligt haben. Allein aus der Vielzahl der Blickwinkel ergibt sich der Abschied von einer essenzialistischen Auffassung des Völkerrechts wie von unumstrittenen universellen Menschenrechtsstandards.
Mit Übersicht und Detailgenauigkeit bringt der Autor kosmopolitische gegen partikularistische Denkansätze in Stellung, würdigt Argumente der "Critical international human rights"-Schule ebenso wie von postkolonialen, feministischen, aber auch pragmatischen Kritikern gegenüber den Leitperspektiven, wie sie Verfechter einer westlich-liberalen Weltordnung vorgeben. Dolezik arbeitet überzeugend heraus, als wie überlagert bisweilen hehre völker- und menschenrechtliche Ansprüche von andersartigen ideologischen, politischen, ökonomischen und kulturell-hegemonialen Ingredienzen waren und weiterhin sind. Er hebt nicht zuletzt Interessen eines globalisierten Kapitalismus hervor, der sich (national-)staatlicher Kontrolle wie ethisch-moralischen Reglements entzieht. Weniger düster würde das Bild vermutlich ausfallen, wenn man den jüngeren Haltungswandel mancher weltweit agierenden Unternehmen gegenüber sozialen Herausforderungen, Klimawandel und Menschenrechten in Betracht zöge.
Gleichwohl ist Doleziks ideologiekritische Inventur liberaler Völkerrechtskonzeptionen und der daran gekoppelten Menschenrechtsthematik zu begrüßen. Häufig wurde an sie eine Fortschritts- und Zivilisierungserzählung gebunden, die zu einer "Blindschaltung" (so ein Lieblingswort des Autors) tatsächlicher Motive hinter einer moralisch verbrämten Fassade geführt hätte. Ob die Rede von "Humanitätseschatologie" oder "Menschenrechtsfundamentalismus" nicht übers Ziel hinausschießt, sei dahingestellt. An dem Umstand, dass Carl Schmitt, aus dessen Werkzeugkoffer der Liberalismus- und Imperialismuskritik sich Dolezik gern bedient, als gar nicht so heimlicher Held der Studie auftritt, dürften sich die Geister ebenfalls scheiden.
So genau Dolezik Ambivalenzen des Liberalismus und mit ihnen verbundene Bigotterien beleuchtet, hätte man gern noch etwas mehr über außerhalb westlich-europäisch-atlantischer Argumentationslinien liegende Begründungszusammenhänge erfahren, ob über Menschenrechtsdeklarationen in Afrika wie der islamischen Welt oder das Erbe des "sozialistischen Völkerrechts" aus Zeiten des Ost-West-Konflikts. So viel Wasser Dolezik in den Wein eines perfekten internationalen Menschenrechtsregimes als Friedensgrundlage geschüttet hat, ist dadurch doch nicht an dem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs formulierten Paradigma zu zweifeln: Ungeachtet der Überdehnung von individuellen Schutz- hin zu positiven Gestaltungsansprüchen, Spannungen zwischen Theorie und Praxis, Macht und Recht, Symbol- und Realpolitik führt kein Weg hinter den internationalen Geltungsanspruch der Menschenrechtsidee zurück. Es gilt, weiter hartnäckig an deren Implementierung zu arbeiten. Aller Kritik zum Trotz dürfte die Protagonistenrolle dabei nach wie vor dem liberalen Westen zufallen. ALEXANDER GALLUS
Joachim Dolezik: Die prekäre Verbindung von Menschenrechten und Frieden. Zur Ambivalenz des Liberalismus und der Ordnungsmuster des Völkerrechts.
Duncker & Humblot, Berlin 2024. 320 S., 89,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
In einer idealen Welt könnte es so schön sein. Nicht nur innerstaatlich, sondern auch auf internationaler Ebene würden die Menschenrechte beachtet und geschützt. Verstöße würden durch nationale und überstaatlich vereinbarte Gesetze konsequent geahndet. Das Völkerrecht und der Menschenrechtsschutz gingen Hand in Hand. In der Konsequenz führte dies zu mehr Frieden und einer gerechteren globalen Ordnung.
Wie wenig dieses Wunschbild der Wirklichkeit entspricht, offenbaren mit brutaler Deutlichkeit die kriegerischen Auseinandersetzungen, so unterschiedlich gelagert deren Ausgangsbedingungen sind, zum Beispiel in der Ukraine und im Gazastreifen. Häufiger als in den ersten Jahrzehnten nach Beendigung des Kalten Krieges wird wieder über besonders schwere Menschenrechtsverletzungen wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord gestritten. Beide aktuellen Konflikte touchiert Joachim Dolezik zwar kurz, ohne aber eine vertiefte Betrachtung anzustreben. Das tut er auch im Falle anderer, weiter zurückliegender und besser ergründbarer Krisen und Kriege nicht wesentlich intensiver, geht es ihm doch weder um eine genealogisch genaue noch um eine rechtshistorische Darstellung, sondern vielmehr um eine grundsätzliche normativ-konzeptionelle und rechtsphilosophische Erörterung des prekären Verhältnisses von Menschen- und Völkerrecht sowie einer liberalen Friedensordnung zwischen idealem Anspruch und realer Ausprägung.
Für eine Dissertation - es ist Doleziks zweite nach einer juristischen über "Narrative zum Gerechten Krieg im Völkerrecht", auf die er häufig verweist - hat er sich mithin nicht gerade ein kleines Thema gewählt, dem er so belesen wie gründlich zu begegnen sucht. Der spürbare Drang, verarbeitete Quellen und Literatur so vollständig wie möglich erkennbar werden zu lassen, machen die Lektüre nicht immer zu einer erquicklichen Übung, zumal Dolezik in die eigenen Sätze regelmäßig Paraphrasen und Zitate einbindet. Entsprechend ausladend ist der Fußnotenteil, der selbst noch in der Schlussbetrachtung passagenweise bis zu vier Fünftel der Seite ausmacht.
Das gibt allerdings keinen Anlass für Polemik oder Häme, schließlich handelt es sich um eine gewichtige akademische Qualifikationsschrift und kein auf Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse bedachtes Sachbuch. Die detailgenaue Registratur und Einordnung der verschiedenen Facetten und Thesen der Forschung stellt für sich genommen eine große Leistung dar. Darüber hinaus zieht Dolezik auch selbst Schlussfolgerungen, wenngleich sich nicht immer leicht auseinanderhalten lässt, was Referat und was eigene Bewertung ist.
Neben ideengeschichtlichen Grabungen zum Menschenrechtsverständnis und zum Friedensbegriff mit verschiedenen Traditionssträngen - so neben einer universalistischen "kantischen" Strömung, die auf eine Weltfriedensordnung republikanischer Staaten zielt, eine "realistische" hobbesianische im Zeichen von Macht und Interessen sowie eine gleichsam dazwischen angesiedelte, auf Staatenkooperation und Rechtsbindung setzende "grotianische" Schule - zeichnet Dolezik mit großer Akkuratesse das normative Spannungsverhältnis zwischen Friedenssicherung und Menschenrechtsschutz in der aktuellen Debatte nach, an der sich außer Juristen unter anderen Politologen, Philosophen und Historiker beteiligt haben. Allein aus der Vielzahl der Blickwinkel ergibt sich der Abschied von einer essenzialistischen Auffassung des Völkerrechts wie von unumstrittenen universellen Menschenrechtsstandards.
Mit Übersicht und Detailgenauigkeit bringt der Autor kosmopolitische gegen partikularistische Denkansätze in Stellung, würdigt Argumente der "Critical international human rights"-Schule ebenso wie von postkolonialen, feministischen, aber auch pragmatischen Kritikern gegenüber den Leitperspektiven, wie sie Verfechter einer westlich-liberalen Weltordnung vorgeben. Dolezik arbeitet überzeugend heraus, als wie überlagert bisweilen hehre völker- und menschenrechtliche Ansprüche von andersartigen ideologischen, politischen, ökonomischen und kulturell-hegemonialen Ingredienzen waren und weiterhin sind. Er hebt nicht zuletzt Interessen eines globalisierten Kapitalismus hervor, der sich (national-)staatlicher Kontrolle wie ethisch-moralischen Reglements entzieht. Weniger düster würde das Bild vermutlich ausfallen, wenn man den jüngeren Haltungswandel mancher weltweit agierenden Unternehmen gegenüber sozialen Herausforderungen, Klimawandel und Menschenrechten in Betracht zöge.
Gleichwohl ist Doleziks ideologiekritische Inventur liberaler Völkerrechtskonzeptionen und der daran gekoppelten Menschenrechtsthematik zu begrüßen. Häufig wurde an sie eine Fortschritts- und Zivilisierungserzählung gebunden, die zu einer "Blindschaltung" (so ein Lieblingswort des Autors) tatsächlicher Motive hinter einer moralisch verbrämten Fassade geführt hätte. Ob die Rede von "Humanitätseschatologie" oder "Menschenrechtsfundamentalismus" nicht übers Ziel hinausschießt, sei dahingestellt. An dem Umstand, dass Carl Schmitt, aus dessen Werkzeugkoffer der Liberalismus- und Imperialismuskritik sich Dolezik gern bedient, als gar nicht so heimlicher Held der Studie auftritt, dürften sich die Geister ebenfalls scheiden.
So genau Dolezik Ambivalenzen des Liberalismus und mit ihnen verbundene Bigotterien beleuchtet, hätte man gern noch etwas mehr über außerhalb westlich-europäisch-atlantischer Argumentationslinien liegende Begründungszusammenhänge erfahren, ob über Menschenrechtsdeklarationen in Afrika wie der islamischen Welt oder das Erbe des "sozialistischen Völkerrechts" aus Zeiten des Ost-West-Konflikts. So viel Wasser Dolezik in den Wein eines perfekten internationalen Menschenrechtsregimes als Friedensgrundlage geschüttet hat, ist dadurch doch nicht an dem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs formulierten Paradigma zu zweifeln: Ungeachtet der Überdehnung von individuellen Schutz- hin zu positiven Gestaltungsansprüchen, Spannungen zwischen Theorie und Praxis, Macht und Recht, Symbol- und Realpolitik führt kein Weg hinter den internationalen Geltungsanspruch der Menschenrechtsidee zurück. Es gilt, weiter hartnäckig an deren Implementierung zu arbeiten. Aller Kritik zum Trotz dürfte die Protagonistenrolle dabei nach wie vor dem liberalen Westen zufallen. ALEXANDER GALLUS
Joachim Dolezik: Die prekäre Verbindung von Menschenrechten und Frieden. Zur Ambivalenz des Liberalismus und der Ordnungsmuster des Völkerrechts.
Duncker & Humblot, Berlin 2024. 320 S., 89,90 Euro.
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