Die Geschiche eines Mannes, dem es gelingt, wie Gott zu sein und toter Materie Leben einzuhauchen. Viktor Werker, ein weltberühmter Chemiker, dem das Leben aus der Retorte gelang, scheitert im Leben und in der Liebe: Seine Freundin Gretta bringt ein totes Mädchen zur Welt und verläßt ihn, weil sie sich im Stich gelassen fühlt. Und dann erhält er Morddrohungen . Geheimnisvoll, spannend, raffiniert und unterhaltsam: Eine Geschichte von Leben und Tod, von Liebe und Verrat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.1999Der Golem in der Schlinge
Du sollst kein neues Leben schaffen, wohl aber einen glänzenden Roman: Harry Mulischs "Die Prozedur" · Von Harald Hartung
Mit dem Roman "Die Entdeckung des Himmels" (1993) ist Harry Mulischs Stern groß und prächtig am literarischen Firmament aufgegangen. Groß und prächtig war auch die Konzeption des Achthundert-Seiten-Romans, in dem es gewissermaßen alles doppelt gab: zwei Engel für die himmlische Reflexion, zwei Freunde für die Bildung und für zwei Wissenschaften, Sprachwissenschaft und Astronomie, die sich ins Enzyklopädische verbreiteten. Aber es gab den einen Animateur, der sein Füllhorn an intellektueller Belustigung und weltläufigem Entertainment über diese Welt ausgoß. Bescheiden ließ er im Roman einen niederländischen Schriftsteller sagen: "Ich phantasiere nie, ich erinnere mich an Dinge, die nie geschehen sind."
Mulisch ist ein Autor, der seine stupende Intelligenz verbergen muß. Das gelingt selbst ihm nicht völlig. In seinem neuesten Roman lautet das poetologische Understatement: "Der Roman ist eine Maschine, die sich selber baut, und der Leser muß dann halt sehen, wie er damit klarkommt." Nur ist es keine einfache Prozedur, die Romanmaschine zu diesem Selbstbau zu bewegen. Und - seien wir ehrlich - der Ehrgeiz eines guten Romanciers geht über die Maschine und den l'homme machine hinaus. Er möchte Leben schaffen. Leben aus Wörtern, aus Formeln. Eine quasi alchimistische "Prozedur" - wie es ja auch der Titel des neuen Romans sagt. Zu ihrem Gelingen benötigt der Autor einen Komplizen, der ihm hilft, den Roman, diesen Golem aus Sprache, zum Leben, zum Atmen zu bringen. Er braucht den Leser.
Kein Romanautor kann Mitarbeiter engagieren, er muß uns verführen. Harry Mulisch ist ein großer Verführer. Denn nur ein Verführer, der seiner Sache ganz sicher ist, kann die Erfüllung so weit aufschieben, daß sie fast schmerzhaft herbeigesehnt wird. Ja, vielleicht ist die Vorlust, die er erzeugt, schon die Erfüllung selbst - und der Rest, aber das sehen wir noch. Es soll nur angedeutet werden, wie er uns auf die Folter spannt. Das erste Kapitel zumindest ist eine Prüfung, an der mancher Kandidat scheitern dürfte. Wer nicht versagt, ist um so stolzer. Ihm wird auch das Augenzwinkern des Erzählers nicht entgangen sein. "Klar, ich kann natürlich mit der Tür ins Haus fallen und mit einem Satz beginnen wie Das Telefon läutete." Lieber Herr Mulisch, murmeln wir, tun Sie das bitte nicht! Das Telefon wird schon noch läuten, aber das wird nicht so wichtig sein.Wir arbeiten uns also durch eine sehr ernste Darlegung schwieriger theologischer Dinge: Wie war es mit der Erschaffung Adams eigentlich genau? Warum machte Gott in der sechsten Stunde zunächst einen Erdkeim, einen Golem? Was hat es mit dem geheimnisvollen "Sefer Jezira" auf sich, das man nur zu zweit verstehen kann? "Das trifft sich gut", heißt es dann, "denn auch wir sind zu zweit, Du und ich."
Nicht der Leser wird hier geduzt, sondern ein anderes Du angesprochen: die Tochter des Erzählers, die nie geborene Tochter, wie wir erst später begreifen. Wir aber haben die "unreinen Mitleser" hinter uns gelassen, sind Mitwisser geworden und fortan bereit, unserem Guide bis ans Ende der Welt zu folgen. Zumindest in das Prager Ghetto von anno 1592 oder auf den Campus von Berkeley und in den hinteren Raum von Venedigs Harrys Bar. Und dort, im Mondänen, fühlen wir uns keinen Moment durch Prätention peinlich berührt.
Der strenge und elegante Guide ist Victor Werker, ein weltberühmter nobelpreisverdächtiger Chemiker, und ihm ist das Unmögliche gelungen: als Entdecker des "Eobionten" Leben aus der Retorte zu erzeugen. Er ist aber zugleich jener Mann, dem ein totes Kind geboren wurde, eine Tochter, die sich mit ihrer Nabelschnur stranguliert hatte. Sein Weiterlebensproblem besteht nun darin, daß der "weltberühmte Lebenmacher" seinerzeit die Flucht ergriff, als der Tod auf dem Programm stand. Er verließ den Kreißsaal. Clara, die Mutter, hat sich daraufhin von ihm getrennt, und nun schreibt er Briefe an seine tote Aurora und schickt sie an Clara, offenbar in der Hoffnung auf ihre Rückkehr.
Ein Homo-Faber-Thema also, freilich mit anderen Verstrickungen, anderen Schlingen, doch überaus kunstvoll geschürzt. Mulisch ist ein Meister in der Kunst, die relevanten Metaphern leitmotivisch ins Spiel zu bringen und aufeinander zu beziehen. Der Tod respondiert dem Leben. Die Selbststrangulierung des Ungeborenen ist das Gegenmotiv zur berühmten "double helix", dem Strang oder der Schlinge aus DNA-Molekülen als der Essenz des Lebens. Victor, der Entdecker der kleinsten Lebensform, hat diesen "Eobionten" als die Morgenröte der Evolution begriffen und seine Tochter Aurora genannt. Nun sind Leben und Tod unauflöslich verknotet und der Mann mit dem sprechenden Namen, der Sieger und Werker, darin mitgefangen. Zwar kennt er die bessere Version, den Gordischen Knoten aufzulösen, nämlich durch Hinausziehen der Stange, die durch Joch und Deichsel von König Gordios' Streitwagen führt. Aber er kennt nicht die Anwendung auf seinen Fall. Wo die Metaphern so bedrängend werden, hilft nur die Literatur. Victor, der schon seit Anfang seiner Aufzeichnungen mit ihr kokettiert, wird zu seiner eigenen Romanfigur. Er produziert sich als epistolarischer Autobiograph und als Mann zwischen zwei Frauen, Mutter und Tochter. Nur wird er "Auroras Key to Life", die der Tochter zugedachte Lehrschrift zu seiner Theorie, nicht mehr schreiben, sondern sich - im Rausch - zur Idee versteigen, zur toten Aurora einen Klon herzustellen, eine eineiige Zwillingsschwester. Aber diese hybrideste aller Lösungen ist in Wahrheit längst abgetan. Er selber hat den Traum von der Schaffung eines Golems schon geträumt.
Er hat ihn als Novelle absolviert, und wir haben sie zu Anfang des Romans gelesen: die Geschichte vom Rabbi Löw, der auf Geheiß des Kaisers einen Golem schafft, nach den Anweisungen des "Sefer Jezira" und, wie vorgeschrieben, zusammen mit einem Gehilfen. Es entstand aber kein neuer Adam, sondern ein weiblicher Golem, das "Menschele". Das Ende ist schrecklich genug: Menschele mordet Löws Gehilfen Isaak, und der Rabbi muß den Golem wieder zu Lehm machen, indem er das Aleph auf des Golems Stirn wegwischt: Damit verwandelt sich das hebräische Wort "Wahrheit" in das Wort "Tod".
Mulisch liefert in seinem Golem-Kapitel eine furiose Kontrafaktur zu Gustav Meyrinks bekanntem Roman und dazu eine sublime Illustration der Forschungen Gershom Scholems, dem als "Rabbi Gershom" Reverenz erwiesen wird. Es ist nicht abwegig, die Golem-Parabel auf den Roman und seinen Helden zu übertragen. Es muß mit Victor zu einem Ende kommen, ehe er Schlimmeres anrichtet - etwa eine neue Tochter klont - oder sich und dem Leser etwas ganz Konventionelles antut, also etwa zu seiner Frau zurückkehrt. "Seit einem Jahr lebte er nun schon ohne sie, und er kann nicht sagen, daß er während dieser Zeit so fürchterlich unglücklich war" - eine nüchterne Einsicht, die für andere Romane ruinös wäre. Nicht aber für "Die Prozedur". Mulisch spart sich Happy-End wie Ehekompromiß. Doch ein Ende muß sein.
Der Leser gewinnt den Eindruck, daß der Autor sich für die Schluß-Prozedur etwas mehr Zeit nimmt, als es seiner denkerischen und künstlerischen Radikalität gemäß wäre. Mulisch zögert den Abschied hinaus. Wer auf seine Gestalt so wunderbar "Wahrheit" schrieb, löscht das Aleph ungern aus. Er hat noch so viel in petto. Er muß noch auf Frankenstein kommen, auf Karel Capeks Robot, auf die Sphinx und Ödipus, auf Ovid und seinen Pygmalion. Wo es so explizit um Tod und Leben geht, gibt es keine toten Motive, allenfalls einige zuviel. Pygmalion gibt dann doch das auflösende Stichwort: Victor fühlt sich erkannt und getroffen, als er auf einem Kongreß als der zweite Pygmalion bezeichnet wird. Der neue Pygmalion versteht, daß der Kern des Gebots "Du sollst nicht morden" das Gebot "Du sollst kein Leben schaffen" ist.
So scheint die Science-fiction in die parabolische Moralität zu münden. Doch Mulisch, aller Schwerfälligkeit abhold, weiß uns noch zum Ende kriminalistisch zu spannen. Victor ist einem Komplott auf der Spur, aber es kommt anders. Zweie müssen es sein, bei der Schaffung wie bei der Auflösung des Golems. Und so sind es zwei Männer, die womöglich im Auftrag religiöser Fundamentalisten handeln: Der Stahl fährt durch Victor wie die Stange durch Joch und Deichsel, der Lebensknoten ist gelöst - der Handlungsknoten auch -, und der Blitz, den Victor wahrnimmt, erscheint ihm wie das Licht eines blendenden Sonnenaufgangs. Sein Golem, aus dem Lehm der Sprache gemacht, löst sich auf in einem Licht, das uns geblendet und fasziniert zurückläßt. So dürfen wir Mulischs "Prozedur" einen glänzenden Roman nennen, den Roman des Romans.
Harry Mulisch: "Die Prozedur". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor Seferens. Carl Hanser Verlag, München 1999. 320 S., geb., 39,80 DM.
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Du sollst kein neues Leben schaffen, wohl aber einen glänzenden Roman: Harry Mulischs "Die Prozedur" · Von Harald Hartung
Mit dem Roman "Die Entdeckung des Himmels" (1993) ist Harry Mulischs Stern groß und prächtig am literarischen Firmament aufgegangen. Groß und prächtig war auch die Konzeption des Achthundert-Seiten-Romans, in dem es gewissermaßen alles doppelt gab: zwei Engel für die himmlische Reflexion, zwei Freunde für die Bildung und für zwei Wissenschaften, Sprachwissenschaft und Astronomie, die sich ins Enzyklopädische verbreiteten. Aber es gab den einen Animateur, der sein Füllhorn an intellektueller Belustigung und weltläufigem Entertainment über diese Welt ausgoß. Bescheiden ließ er im Roman einen niederländischen Schriftsteller sagen: "Ich phantasiere nie, ich erinnere mich an Dinge, die nie geschehen sind."
Mulisch ist ein Autor, der seine stupende Intelligenz verbergen muß. Das gelingt selbst ihm nicht völlig. In seinem neuesten Roman lautet das poetologische Understatement: "Der Roman ist eine Maschine, die sich selber baut, und der Leser muß dann halt sehen, wie er damit klarkommt." Nur ist es keine einfache Prozedur, die Romanmaschine zu diesem Selbstbau zu bewegen. Und - seien wir ehrlich - der Ehrgeiz eines guten Romanciers geht über die Maschine und den l'homme machine hinaus. Er möchte Leben schaffen. Leben aus Wörtern, aus Formeln. Eine quasi alchimistische "Prozedur" - wie es ja auch der Titel des neuen Romans sagt. Zu ihrem Gelingen benötigt der Autor einen Komplizen, der ihm hilft, den Roman, diesen Golem aus Sprache, zum Leben, zum Atmen zu bringen. Er braucht den Leser.
Kein Romanautor kann Mitarbeiter engagieren, er muß uns verführen. Harry Mulisch ist ein großer Verführer. Denn nur ein Verführer, der seiner Sache ganz sicher ist, kann die Erfüllung so weit aufschieben, daß sie fast schmerzhaft herbeigesehnt wird. Ja, vielleicht ist die Vorlust, die er erzeugt, schon die Erfüllung selbst - und der Rest, aber das sehen wir noch. Es soll nur angedeutet werden, wie er uns auf die Folter spannt. Das erste Kapitel zumindest ist eine Prüfung, an der mancher Kandidat scheitern dürfte. Wer nicht versagt, ist um so stolzer. Ihm wird auch das Augenzwinkern des Erzählers nicht entgangen sein. "Klar, ich kann natürlich mit der Tür ins Haus fallen und mit einem Satz beginnen wie Das Telefon läutete." Lieber Herr Mulisch, murmeln wir, tun Sie das bitte nicht! Das Telefon wird schon noch läuten, aber das wird nicht so wichtig sein.Wir arbeiten uns also durch eine sehr ernste Darlegung schwieriger theologischer Dinge: Wie war es mit der Erschaffung Adams eigentlich genau? Warum machte Gott in der sechsten Stunde zunächst einen Erdkeim, einen Golem? Was hat es mit dem geheimnisvollen "Sefer Jezira" auf sich, das man nur zu zweit verstehen kann? "Das trifft sich gut", heißt es dann, "denn auch wir sind zu zweit, Du und ich."
Nicht der Leser wird hier geduzt, sondern ein anderes Du angesprochen: die Tochter des Erzählers, die nie geborene Tochter, wie wir erst später begreifen. Wir aber haben die "unreinen Mitleser" hinter uns gelassen, sind Mitwisser geworden und fortan bereit, unserem Guide bis ans Ende der Welt zu folgen. Zumindest in das Prager Ghetto von anno 1592 oder auf den Campus von Berkeley und in den hinteren Raum von Venedigs Harrys Bar. Und dort, im Mondänen, fühlen wir uns keinen Moment durch Prätention peinlich berührt.
Der strenge und elegante Guide ist Victor Werker, ein weltberühmter nobelpreisverdächtiger Chemiker, und ihm ist das Unmögliche gelungen: als Entdecker des "Eobionten" Leben aus der Retorte zu erzeugen. Er ist aber zugleich jener Mann, dem ein totes Kind geboren wurde, eine Tochter, die sich mit ihrer Nabelschnur stranguliert hatte. Sein Weiterlebensproblem besteht nun darin, daß der "weltberühmte Lebenmacher" seinerzeit die Flucht ergriff, als der Tod auf dem Programm stand. Er verließ den Kreißsaal. Clara, die Mutter, hat sich daraufhin von ihm getrennt, und nun schreibt er Briefe an seine tote Aurora und schickt sie an Clara, offenbar in der Hoffnung auf ihre Rückkehr.
Ein Homo-Faber-Thema also, freilich mit anderen Verstrickungen, anderen Schlingen, doch überaus kunstvoll geschürzt. Mulisch ist ein Meister in der Kunst, die relevanten Metaphern leitmotivisch ins Spiel zu bringen und aufeinander zu beziehen. Der Tod respondiert dem Leben. Die Selbststrangulierung des Ungeborenen ist das Gegenmotiv zur berühmten "double helix", dem Strang oder der Schlinge aus DNA-Molekülen als der Essenz des Lebens. Victor, der Entdecker der kleinsten Lebensform, hat diesen "Eobionten" als die Morgenröte der Evolution begriffen und seine Tochter Aurora genannt. Nun sind Leben und Tod unauflöslich verknotet und der Mann mit dem sprechenden Namen, der Sieger und Werker, darin mitgefangen. Zwar kennt er die bessere Version, den Gordischen Knoten aufzulösen, nämlich durch Hinausziehen der Stange, die durch Joch und Deichsel von König Gordios' Streitwagen führt. Aber er kennt nicht die Anwendung auf seinen Fall. Wo die Metaphern so bedrängend werden, hilft nur die Literatur. Victor, der schon seit Anfang seiner Aufzeichnungen mit ihr kokettiert, wird zu seiner eigenen Romanfigur. Er produziert sich als epistolarischer Autobiograph und als Mann zwischen zwei Frauen, Mutter und Tochter. Nur wird er "Auroras Key to Life", die der Tochter zugedachte Lehrschrift zu seiner Theorie, nicht mehr schreiben, sondern sich - im Rausch - zur Idee versteigen, zur toten Aurora einen Klon herzustellen, eine eineiige Zwillingsschwester. Aber diese hybrideste aller Lösungen ist in Wahrheit längst abgetan. Er selber hat den Traum von der Schaffung eines Golems schon geträumt.
Er hat ihn als Novelle absolviert, und wir haben sie zu Anfang des Romans gelesen: die Geschichte vom Rabbi Löw, der auf Geheiß des Kaisers einen Golem schafft, nach den Anweisungen des "Sefer Jezira" und, wie vorgeschrieben, zusammen mit einem Gehilfen. Es entstand aber kein neuer Adam, sondern ein weiblicher Golem, das "Menschele". Das Ende ist schrecklich genug: Menschele mordet Löws Gehilfen Isaak, und der Rabbi muß den Golem wieder zu Lehm machen, indem er das Aleph auf des Golems Stirn wegwischt: Damit verwandelt sich das hebräische Wort "Wahrheit" in das Wort "Tod".
Mulisch liefert in seinem Golem-Kapitel eine furiose Kontrafaktur zu Gustav Meyrinks bekanntem Roman und dazu eine sublime Illustration der Forschungen Gershom Scholems, dem als "Rabbi Gershom" Reverenz erwiesen wird. Es ist nicht abwegig, die Golem-Parabel auf den Roman und seinen Helden zu übertragen. Es muß mit Victor zu einem Ende kommen, ehe er Schlimmeres anrichtet - etwa eine neue Tochter klont - oder sich und dem Leser etwas ganz Konventionelles antut, also etwa zu seiner Frau zurückkehrt. "Seit einem Jahr lebte er nun schon ohne sie, und er kann nicht sagen, daß er während dieser Zeit so fürchterlich unglücklich war" - eine nüchterne Einsicht, die für andere Romane ruinös wäre. Nicht aber für "Die Prozedur". Mulisch spart sich Happy-End wie Ehekompromiß. Doch ein Ende muß sein.
Der Leser gewinnt den Eindruck, daß der Autor sich für die Schluß-Prozedur etwas mehr Zeit nimmt, als es seiner denkerischen und künstlerischen Radikalität gemäß wäre. Mulisch zögert den Abschied hinaus. Wer auf seine Gestalt so wunderbar "Wahrheit" schrieb, löscht das Aleph ungern aus. Er hat noch so viel in petto. Er muß noch auf Frankenstein kommen, auf Karel Capeks Robot, auf die Sphinx und Ödipus, auf Ovid und seinen Pygmalion. Wo es so explizit um Tod und Leben geht, gibt es keine toten Motive, allenfalls einige zuviel. Pygmalion gibt dann doch das auflösende Stichwort: Victor fühlt sich erkannt und getroffen, als er auf einem Kongreß als der zweite Pygmalion bezeichnet wird. Der neue Pygmalion versteht, daß der Kern des Gebots "Du sollst nicht morden" das Gebot "Du sollst kein Leben schaffen" ist.
So scheint die Science-fiction in die parabolische Moralität zu münden. Doch Mulisch, aller Schwerfälligkeit abhold, weiß uns noch zum Ende kriminalistisch zu spannen. Victor ist einem Komplott auf der Spur, aber es kommt anders. Zweie müssen es sein, bei der Schaffung wie bei der Auflösung des Golems. Und so sind es zwei Männer, die womöglich im Auftrag religiöser Fundamentalisten handeln: Der Stahl fährt durch Victor wie die Stange durch Joch und Deichsel, der Lebensknoten ist gelöst - der Handlungsknoten auch -, und der Blitz, den Victor wahrnimmt, erscheint ihm wie das Licht eines blendenden Sonnenaufgangs. Sein Golem, aus dem Lehm der Sprache gemacht, löst sich auf in einem Licht, das uns geblendet und fasziniert zurückläßt. So dürfen wir Mulischs "Prozedur" einen glänzenden Roman nennen, den Roman des Romans.
Harry Mulisch: "Die Prozedur". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor Seferens. Carl Hanser Verlag, München 1999. 320 S., geb., 39,80 DM.
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