Produktdetails
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-13: 9783518581766
- Artikelnr.: 25537184
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.1995Gerechtigkeit lernen und messen
Bei Wertedebatten zu konsultieren: Lawrence Kohlbergs Psychologie der Moralentwicklung
Fragen nach Recht und Gerechtigkeit, nach Glaube und Verbindlichkeit, nach dem richtigen Leben und dem guten Sterben treiben nicht nur jugendliche Teilnehmer von Kirchentagen um. Ob sich Politiker von Firmen einladen und ihre Diäten erhöhen lassen dürfen, ob die Entsendung von Bundeswehrflugzeugen nach Bosnien um der Menschlichkeit willen zulässig oder schiere Kriegstreiberei ist, das alles sind Fragen, in denen es irgendwie um Gerechtigkeit geht. Die deutsche Gesellschaft hat auf all das und auf die vermeintlich unaufhaltsam zunehmende Gewalt mit einer hilflosen "Wertedebatte" bzw. mit Auseinandersetzungen um neue Schulfächer wie "Religion, Ethik und Lebensgestaltung" reagiert.
Die Frage, ob Tugend und Gerechtigkeit lehrbar sind, ist so alt wie die Philosophie, die Frage, wie und warum ein Gewissen entsteht, aus welchen sozialen Bedingungen heraus Moral erwächst und wie kollektive moralischen Bindungen funktionieren, so alt wie das neunzehnte Jahrhundert. Wir verbinden diese Fragen mit den Namen von Freud, Nietzsche und Durkheim und neigen dazu, moralische Einstellungen als bloße Epiphänomene, als mehr oder minder angemessenen Ausdruck letztlich nichtmoralischer Interessen zu deuten. Wer so über Moral denkt, wird freilich auf die Zumutungen einer unübersichtlichen Praxis nur zynisch reagieren können. Tatsächlich ist aber auch eine wissenschaftliche Betrachtung moralischer Einstellungen und Haltungen möglich, die sich eines jeden Reduktionismus enthält und zugleich in der Lage ist, ihr Entstehen und ihre mögliche weitere Entwicklung zu erklären.
Der im Jahr 1927 geborene, 1987 gestorbene, in Harvard wirkende Lawrence Kohlberg war hierzulande wenn schon kein Geheimtip, so doch ein Autor, der eher durch die Rezeption anderer als durch sein eigenes Werk bekannt war. Obwohl schon 1974 ein Band mit drei Aufsätzen "Zur kognitiven Entwicklung des Kindes" auf Deutsch erschien, bestand bisher keine Möglichkeit, das Angebot einer empirisch überprüfbaren Entwicklungspsychologie des moralischen Urteils im Detail und anhand der Überlegungen und theoretischen Ausarbeitungen ihres Urhebers selbst zu überprüfen.
Mit dem Erscheinen des Bandes "Die Psychologie der Moralentwicklung" hat jetzt auch ein breiteres Publikum die Gelegenheit, sich der Zumutung einer Theorie auszusetzen, welche die Universalität, die Nichtreduzierbarkeit, aber eben auch die Lehrbarkeit und damit die Meßbarkeit moralischer Einstellungen behauptet. Moralische Urteilsfähigkeit - die mit der Fähigkeit zum moralischen Handeln jedenfalls nicht identisch ist - entwickelt sich nach Kohlberg im Prinzip nicht anders als die Fähigkeit zur mathematischen Einsicht oder zum physikalischen Weltverständnis. Sie ist ein wesentlicher Ausdruck der Beziehungen des handlungs- und sprachfähigen menschlichen Individuums zu seiner menschlichen Mitwelt. Sie stellt sich als Niederschlag der nur durch Sozialisation erreichbaren, möglicherweise immer reicheren Perspektiven eines Individuums auf die Erwartungen und Haltungen seiner Mitmenschen dar.
Die Frage nach der Moral, so sah es Kohlberg schon in seinen frühesten Schriften, ist zunächst die Frage nach dem Verständnis dessen, was als "Gerechtigkeit" bezeichnet wird, also die Frage danach, nach welchen Kriterien unterschiedliche Menschen unterschiedlichen Alters soziale Zustände oder Handlungen als "gerecht" bezeichnen. In psychologischer Hinsicht wird das moralische Bewußtsein so zu einem Konstrukt, zum Konstrukt der "moralischen Urteilsfähigkeit", dessen Wirklichkeit und Wirksamkeit durch geeignete Forschungsoperationen zu erheben und damit auch zu definieren sind.
Heinz und sein Dilemma
Das von Kohlberg bevorzugt eingesetzte und im Lauf vom mehr als zwanzig Jahren stetig verfeinerte Instrument zur Messung der moralischen Urteilsfähigkeit sind einige Testfragen, nicht unähnlich jenen, über die man sich in Diskussionsrunden und an Stammtischen aller Couleur streitet. Ist es einem Mann erlaubt, in eine Apotheke einzubrechen, um ein Medikament zu stehlen, das seiner krebskranken Frau das Leben retten kann, das zu bezahlen er aber der überhöhten Preise wegen nicht in der Lage ist? Kohlberg nannte diese Kunstfigur Heinz, das entsprechende Rätsel das Heinz-Dilemma und erforschte mit diesen und ähnlichen Fragen Tausende und aber Tausende Menschen rings um den Globus - von den Vereinigten Staaten bis nach Anatolien, von Israel bis Taiwan.
Wie reif das moralische Urteilsvermögen einer Person ist, hängt - und darauf kommt es an - nicht davon ab, ob sie sich für oder gegen den Einbruch der Kunstfigur Heinz entscheidet, sondern davon, wie sie die jeweilige Entscheidung begründet. Prinzipiell postuliert Kohlberg drei Stufen des moralischen Urteils, die sich nach Maßgabe der Haltung eines Menschen zu den moralischen Üblichkeiten seiner Gesellschaft bemessen lassen. Zu unterscheiden ist ein Urteilsvermögen, das für gut und gerecht alles hält, was in seiner Gesellschaft als Brauch oder Gesetz üblich oder in Kraft ist, von einem Verständnis, das das Gute und Gerechte mit dem je eigenen Nutzen gleichsetzt. Die Orientierung zum Nutzen bezeichnet Kohlberg als "präkonventionell". Von ihr zu unterscheiden ist eine weiterentwickelte, über Brauch und Gesetz fortgeschrittene Stufe des moralischen Urteilsvermögens, das jetzt den Unterschied zwischen positivem Recht und universellen Gerechtigkeitsprinzipien verstanden hat und deshalb als "postkonventionell" bezeichnet wird.
Es ist unübersehbar, daß diese Meßverfahren, die von Kohlberg und seiner Schule nach allen Regeln der akademischen Psychologie verfeinert und fortentwickelt worden sind, in einer Epoche, in der moralischer Relativismus zur beinahe konkurrenzlosen Mode geworden ist, auf Widerstand stoßen müssen, auf einen Widerstand, der nicht zuletzt aus den Reihen der Fachphilosophie artikuliert wird. Ähnlich dem Geist in der Auseinandersetzung über die künstliche Intelligenz scheint das moralische Bewußtsein etwas zu sein, das wissenschaftlicher Analyse und Erklärung nicht zugänglich ist - wer derartiges behauptet, wird sich rasch mindestens den Vorwurf des Positivismus einhandeln.
Indessen zeigt der 1984 mit C. Levine und A. Hewer verfaßte Beitrag zum Stand der Theorie des moralischen Urteils, daß Kohlberg ein philosophisch eminent gebildeter Wissenschaftler war, der sein Unterfangen bewußt und mit Gründen in der Tradition von Kant und Rawls verankert hat und sich kenntnisreich mit Strömungen wie der sprachanalytischen Metaethik, dem Utilitarismus und dem Emotivismus auseinanderzusetzen vermag. Das anfangs erwähnte neunzehnte Jahrhundert konnte die Moral nur in einer Hermeneutik des Verdachts wissenschaftlich erforschen - Lawrence Kohlberg zeigt, daß sich die Erforschung und das sachliche Ernstnehmen moralischer Fragestellungen nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar einander bedingen. Daß diese Erforschung erst am Anfang steht, widersprüchliche und bisweilen abweichende Ergebnisse zeitigt und dennoch zu einer konsistenten Theorie führt, hat dieses Werk gezeigt.
Es wäre zu hoffen, daß all jene, die sich im Sinne der "Wertedebatte" um eine Festigung der moralischen Fundamente des Gemeinwesens sorgen, Kohlbergs Einsicht, daß Moralität nicht anders denn als Ergebnis reziproker, demokratischer Lebensformen zu denken ist, beherzigen. MICHA BRUMLIK
Lawrence Kohlberg: "Die Psychologie der Moralentwicklung". Herausgegeben von Wolfgang Althof unter Mitarbeit von Gil Noam und Fritz Oser. Übersetzt von Wolfgang Althof u. a. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 564 S. geb., 92,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bei Wertedebatten zu konsultieren: Lawrence Kohlbergs Psychologie der Moralentwicklung
Fragen nach Recht und Gerechtigkeit, nach Glaube und Verbindlichkeit, nach dem richtigen Leben und dem guten Sterben treiben nicht nur jugendliche Teilnehmer von Kirchentagen um. Ob sich Politiker von Firmen einladen und ihre Diäten erhöhen lassen dürfen, ob die Entsendung von Bundeswehrflugzeugen nach Bosnien um der Menschlichkeit willen zulässig oder schiere Kriegstreiberei ist, das alles sind Fragen, in denen es irgendwie um Gerechtigkeit geht. Die deutsche Gesellschaft hat auf all das und auf die vermeintlich unaufhaltsam zunehmende Gewalt mit einer hilflosen "Wertedebatte" bzw. mit Auseinandersetzungen um neue Schulfächer wie "Religion, Ethik und Lebensgestaltung" reagiert.
Die Frage, ob Tugend und Gerechtigkeit lehrbar sind, ist so alt wie die Philosophie, die Frage, wie und warum ein Gewissen entsteht, aus welchen sozialen Bedingungen heraus Moral erwächst und wie kollektive moralischen Bindungen funktionieren, so alt wie das neunzehnte Jahrhundert. Wir verbinden diese Fragen mit den Namen von Freud, Nietzsche und Durkheim und neigen dazu, moralische Einstellungen als bloße Epiphänomene, als mehr oder minder angemessenen Ausdruck letztlich nichtmoralischer Interessen zu deuten. Wer so über Moral denkt, wird freilich auf die Zumutungen einer unübersichtlichen Praxis nur zynisch reagieren können. Tatsächlich ist aber auch eine wissenschaftliche Betrachtung moralischer Einstellungen und Haltungen möglich, die sich eines jeden Reduktionismus enthält und zugleich in der Lage ist, ihr Entstehen und ihre mögliche weitere Entwicklung zu erklären.
Der im Jahr 1927 geborene, 1987 gestorbene, in Harvard wirkende Lawrence Kohlberg war hierzulande wenn schon kein Geheimtip, so doch ein Autor, der eher durch die Rezeption anderer als durch sein eigenes Werk bekannt war. Obwohl schon 1974 ein Band mit drei Aufsätzen "Zur kognitiven Entwicklung des Kindes" auf Deutsch erschien, bestand bisher keine Möglichkeit, das Angebot einer empirisch überprüfbaren Entwicklungspsychologie des moralischen Urteils im Detail und anhand der Überlegungen und theoretischen Ausarbeitungen ihres Urhebers selbst zu überprüfen.
Mit dem Erscheinen des Bandes "Die Psychologie der Moralentwicklung" hat jetzt auch ein breiteres Publikum die Gelegenheit, sich der Zumutung einer Theorie auszusetzen, welche die Universalität, die Nichtreduzierbarkeit, aber eben auch die Lehrbarkeit und damit die Meßbarkeit moralischer Einstellungen behauptet. Moralische Urteilsfähigkeit - die mit der Fähigkeit zum moralischen Handeln jedenfalls nicht identisch ist - entwickelt sich nach Kohlberg im Prinzip nicht anders als die Fähigkeit zur mathematischen Einsicht oder zum physikalischen Weltverständnis. Sie ist ein wesentlicher Ausdruck der Beziehungen des handlungs- und sprachfähigen menschlichen Individuums zu seiner menschlichen Mitwelt. Sie stellt sich als Niederschlag der nur durch Sozialisation erreichbaren, möglicherweise immer reicheren Perspektiven eines Individuums auf die Erwartungen und Haltungen seiner Mitmenschen dar.
Die Frage nach der Moral, so sah es Kohlberg schon in seinen frühesten Schriften, ist zunächst die Frage nach dem Verständnis dessen, was als "Gerechtigkeit" bezeichnet wird, also die Frage danach, nach welchen Kriterien unterschiedliche Menschen unterschiedlichen Alters soziale Zustände oder Handlungen als "gerecht" bezeichnen. In psychologischer Hinsicht wird das moralische Bewußtsein so zu einem Konstrukt, zum Konstrukt der "moralischen Urteilsfähigkeit", dessen Wirklichkeit und Wirksamkeit durch geeignete Forschungsoperationen zu erheben und damit auch zu definieren sind.
Heinz und sein Dilemma
Das von Kohlberg bevorzugt eingesetzte und im Lauf vom mehr als zwanzig Jahren stetig verfeinerte Instrument zur Messung der moralischen Urteilsfähigkeit sind einige Testfragen, nicht unähnlich jenen, über die man sich in Diskussionsrunden und an Stammtischen aller Couleur streitet. Ist es einem Mann erlaubt, in eine Apotheke einzubrechen, um ein Medikament zu stehlen, das seiner krebskranken Frau das Leben retten kann, das zu bezahlen er aber der überhöhten Preise wegen nicht in der Lage ist? Kohlberg nannte diese Kunstfigur Heinz, das entsprechende Rätsel das Heinz-Dilemma und erforschte mit diesen und ähnlichen Fragen Tausende und aber Tausende Menschen rings um den Globus - von den Vereinigten Staaten bis nach Anatolien, von Israel bis Taiwan.
Wie reif das moralische Urteilsvermögen einer Person ist, hängt - und darauf kommt es an - nicht davon ab, ob sie sich für oder gegen den Einbruch der Kunstfigur Heinz entscheidet, sondern davon, wie sie die jeweilige Entscheidung begründet. Prinzipiell postuliert Kohlberg drei Stufen des moralischen Urteils, die sich nach Maßgabe der Haltung eines Menschen zu den moralischen Üblichkeiten seiner Gesellschaft bemessen lassen. Zu unterscheiden ist ein Urteilsvermögen, das für gut und gerecht alles hält, was in seiner Gesellschaft als Brauch oder Gesetz üblich oder in Kraft ist, von einem Verständnis, das das Gute und Gerechte mit dem je eigenen Nutzen gleichsetzt. Die Orientierung zum Nutzen bezeichnet Kohlberg als "präkonventionell". Von ihr zu unterscheiden ist eine weiterentwickelte, über Brauch und Gesetz fortgeschrittene Stufe des moralischen Urteilsvermögens, das jetzt den Unterschied zwischen positivem Recht und universellen Gerechtigkeitsprinzipien verstanden hat und deshalb als "postkonventionell" bezeichnet wird.
Es ist unübersehbar, daß diese Meßverfahren, die von Kohlberg und seiner Schule nach allen Regeln der akademischen Psychologie verfeinert und fortentwickelt worden sind, in einer Epoche, in der moralischer Relativismus zur beinahe konkurrenzlosen Mode geworden ist, auf Widerstand stoßen müssen, auf einen Widerstand, der nicht zuletzt aus den Reihen der Fachphilosophie artikuliert wird. Ähnlich dem Geist in der Auseinandersetzung über die künstliche Intelligenz scheint das moralische Bewußtsein etwas zu sein, das wissenschaftlicher Analyse und Erklärung nicht zugänglich ist - wer derartiges behauptet, wird sich rasch mindestens den Vorwurf des Positivismus einhandeln.
Indessen zeigt der 1984 mit C. Levine und A. Hewer verfaßte Beitrag zum Stand der Theorie des moralischen Urteils, daß Kohlberg ein philosophisch eminent gebildeter Wissenschaftler war, der sein Unterfangen bewußt und mit Gründen in der Tradition von Kant und Rawls verankert hat und sich kenntnisreich mit Strömungen wie der sprachanalytischen Metaethik, dem Utilitarismus und dem Emotivismus auseinanderzusetzen vermag. Das anfangs erwähnte neunzehnte Jahrhundert konnte die Moral nur in einer Hermeneutik des Verdachts wissenschaftlich erforschen - Lawrence Kohlberg zeigt, daß sich die Erforschung und das sachliche Ernstnehmen moralischer Fragestellungen nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar einander bedingen. Daß diese Erforschung erst am Anfang steht, widersprüchliche und bisweilen abweichende Ergebnisse zeitigt und dennoch zu einer konsistenten Theorie führt, hat dieses Werk gezeigt.
Es wäre zu hoffen, daß all jene, die sich im Sinne der "Wertedebatte" um eine Festigung der moralischen Fundamente des Gemeinwesens sorgen, Kohlbergs Einsicht, daß Moralität nicht anders denn als Ergebnis reziproker, demokratischer Lebensformen zu denken ist, beherzigen. MICHA BRUMLIK
Lawrence Kohlberg: "Die Psychologie der Moralentwicklung". Herausgegeben von Wolfgang Althof unter Mitarbeit von Gil Noam und Fritz Oser. Übersetzt von Wolfgang Althof u. a. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 564 S. geb., 92,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main