Was ist eine Verschwörungstheorie? Wer glaubt daran und warum? Welche Folgen ergeben sich daraus für Gesellschaft, Politik, Gesundheit und Social Media? Der Band betrachtet das Phänomen des Verschwörungsglaubens aus verschiedenen psychologischen Blickwinkeln und stellt diese in einen interdisziplinären Diskurs. Leserinnen und Leser erhalten so einen Überblick über die aktuelle Forschung zu Verschwörungsnarrativen, inklusive der so wichtigen Widersprüche, Uneinigkeiten und Debatten.Der erste Teil des Bandes beleuchtet die kognitiven Grundlagen von Verschwörungstheorien und den Einfluss von kognitiven Verzerrungen. Es wird der Frage nachgegangen, wie ein verschwörungstheoretisches Weltbild im Lebensverlauf entstehen kann. Zudem wird die Rolle von Verschwörungsglauben im politischen Diskurs, den sozialen Medien und in Bezug auf das persönliche Gesundheitsverhalten diskutiert. Auch wird auf Möglichkeiten und Grenzen von Interventionen gegen Verschwörungsglauben eingegangen. Im zweiten Teil des Bandes werden diese psychologischen Perspektiven in eine produktive Reibung mit anderen Fächern gebracht. Beiträge aus Philosophie, Geschichtswissenschaft, Linguistik und Kommunikationswissenschaft beleuchten die psychologischen Überlegungen kritisch oder reflektieren die Begrenztheit der psychologischen Methoden. Den Abschluss bildet ein Beitrag zur weltanschaulichen Beratung von Verschwörungsgläubigen und ihren Angehörigen. Der Band vermeidet vorschnelle Vereinfachungen und verfolgt das Ziel, das Phänomen des Verschwörungsglaubens in all seinen Nuancen zu begreifen und weder in die Falle zu tappen, Verschwörungsglauben und seine Konsequenzen a priori zu verdammen, noch diesen zu verharmlosen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2024"Nicht mehr einig, was Realität ist"
MAINZ Roland Imhoff hat ein Buch über die Psychologie des Verschwörungsglaubens herausgegeben. Hier erklärt er, wie die Anhänger kruder Theorien denken und wie man sie womöglich noch erreichen kann.
Herr Imhoff, in Ihrem neuen Buch über die Psychologie der Verschwörungstheorien wird von Videos berichtet, die 2021 kursierten: Junge Leute halten sich nach einer Corona-Impfung Magnete an den Arm, die dort angeblich haften bleiben. Das wird als Beweis gesehen, dass mit der Impfung Mikrochips injiziert würden. Warum glauben Menschen so einen Unsinn?
Diese Frage liegt nahe für den, der überzeugt ist, dass er keinen Unsinn glaubt, die anderen hingegen schon. Aber wenn man sich länger mit Verschwörungsglauben beschäftigt, lernt man eine gewisse intellektuelle Demut. Man muss sich fragen, ob Menschen, die solchen Theorien anhängen, grundsätzlich auf andere Arten Erkenntnisse gewinnen als jene, die das nicht tun. Wir alle haben den größten Teil unseres Weltwissens nicht aus erster Hand, sondern aus Schulbüchern oder Medienberichten. Wir übernehmen das, was dort präsentiert wird, weil wir diesen Quellen vertrauen. Der Hauptunterschied zwischen Verschwörungsgläubigen und Nichtverschwörungsgläubigen liegt darin, welchen Quellen sie vertrauen. Anhänger von Verschwörungstheorien halten mitunter den nächstbesten Youtuber für glaubwürdiger als traditionelle Medien, weil er ja nicht Teil der "korrumpierten Elite" sei und keine "finanziellen Interessen" habe.
Das leuchtet ein, aber glaubt auch der Youtuber selbst, dass der Magnet wegen eines Mikrochips am Arm kleben bleibt?
Glauben Zauberer, dass sie zaubern können? Ein Meisterillusionist, der professionelle Distanz zu seinem Metier hat, tut das vermutlich nicht. Gleiches würde ich bei Leuten annehmen, die professionelle Videos drehen. Oft gibt es da kommerzielle Interessen: Spektakuläre Neuigkeiten bringen Klicks, und damit lässt sich Geld verdienen. Ein Großteil der Falschnachrichten stammt zudem aus russischen Trollfabriken, und den Leuten, die dort angestellt sind, dürfte klar sein, dass sie an Desinformationskampagnen mitwirken. Aber es gibt auch Mechanismen, die bewirken könnten, dass Leute tatsächlich von so etwas überzeugt sind. Sie fühlen sich womöglich im Besitz eines illustren Geheimnisses, als Stars in der Manege, die den dummen Schlafschafen überlegen sind. Es gibt Hinweise aus der Forschung, dass der Glaube an Verschwörungstheorien mit narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen in Verbindung stehen könnte.
Könnten außer Narzissmus noch weitere Persönlichkeitszüge mit Verschwörungsglauben korreliert sein? Etwa Ängstlichkeit oder Kreativität?
Für einen Zusammenhang mit Kreativität haben wir keine Hinweise gefunden. Auch Ängstlichkeit scheint kein starkes kausales Agens zu sein. Aber Verschwörungsnarrative liefern Erklärungen für Menschen, die Erklärungen suchen und nicht akzeptieren wollen, dass Dinge zufällig geschehen können. Die Angst, dass mir ein Unglück widerfährt, kann eingehegt werden durch den Glauben an einen Plan, in dem ich keine Rolle spiele: Mich will der Mossad ja nicht umbringen. Wenn hingegen eine Katastrophe nur ein Produkt des Zufalls ist, bin ich genauso gefährdet wie alle anderen. Man hat in Längsschnittstudien schwache Hinweise darauf gefunden, dass Angst zu einer stärkeren Zustimmung zu Verschwörungstheorien führt, aber es gab keine Evidenz dafür, dass der Glaube an solche Theorien Ängste lindert.
Es wird auch vermutet, dass Verschwörungsglaube mit Denkfehlern zusammenhängt, denen wir alle mehr oder weniger unterliegen: etwa dem vermeintlichen Erkennen von Mustern, wo in Wahrheit nur der Zufall waltet, oder dem vorschnellen Ziehen von Schlüssen aus Beobachtungen. Gibt es neuere Erkenntnisse, die das belegen?
Es gibt Zusammenhänge, aber sie sind relativ schwach. Der wahrscheinlich größte Denkfehler - wenn man ihn so nennen will - von uns allen ist die konfirmatorische Informationsverarbeitung: Wir gewichten jene Informationen stärker, die mit unseren vorhandenen Überzeugungen übereinstimmen. Dem unterliegen die meisten von uns, aber wenn es darum geht, Informationen abzuwehren, die nicht ins eigene Weltbild passen, haben Verschwörungsgläubige sozusagen immer eine Patrone mehr im Gürtel: Sie können behaupten, dass das, was als Wahrheit präsentiert wird, Resultat einer Verschleierungskampagne der Verschwörer ist.
Wir haben uns 2019 zum ersten Mal über Ihre Arbeit unterhalten, also vor der Pandemie. Viele nehmen an, dass die Verbreitung von Verschwörungstheorien in der Corona-Krise stark zugenommen habe. Aber stimmt das überhaupt?
Das kommt darauf an, ob uns die Anzahl der Verschwörungsgläubigen interessiert, das Ausmaß der Verbreitung von Verschwörungstheorien oder der gesellschaftliche Einfluss, den sie haben, wie meine Kollegin Pia Lamberty in dem jetzt erschienenen Buch darlegt. In sozialwissenschaftlichen Studien findet sich zwar kein Beleg für eine quantitative Zunahme an Befürwortung; am Anfang der Pandemie wurde sogar ein Rückgang des Verschwörungsglaubens registriert. Es gibt aber Hinweise darauf, dass Anhänger solcher Theorien aufgehört haben, ihre Überzeugungen in Umfragen zu offenbaren . . .
. . . weil Bill Gates ja mitliest und sie dann bestrafen wird . . .
Genau. Plausibler ist aber, dass die Corona-Pandemie Verschwörungserzählungen das Privileg genommen hat, Privatmeinungen zu sein. Zum Schutz vor dem Virus wurde die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, es wurde erwartet, dass wir Masken tragen und uns impfen lassen. Der Staat wollte etwas von uns, und da fühlte sich mancher Anhänger unorthodoxer Theorien wohl gezwungen, seinen Einspruch aggressiver zu artikulieren.
Haben Sie während der Pandemie neue Arten von Verschwörungserzählungen beobachtet, oder war es im Grunde nur alter Wein in neuen Schläuchen, der da präsentiert wurde - bis hin zu den bekannten antisemitischen Mythen?
Ich finde es immer wieder verblüffend, wie schnell junge Menschen auf die Familie Rothschild kommen, die schon seit Jahrhunderten für antisemitische Verdächtigungen herhalten muss. Die letzte große "Innovation" entstand in Zusammenhang mit der QAnon-Bewegung. Die Behauptung, amerikanische Politiker würden Kinder missbrauchen und töten, um aus ihnen ein Lebenselixier zu gewinnen, macht zwar auch Anleihen bei uralten antisemitischen Verschwörungsmythen, aber die Methode war neu. Die Parole hieß: "Do your own research". Anhänger wurden aufgefordert, im Alltag nach Beweisen für die angebliche Verschwörung zu suchen und die Indizien dann selbst zusammenzusetzen. So etwas ist, psychologisch betrachtet, extrem vielversprechend: Kein Mensch kann mich so gut von etwas überzeugen wie ich mich selbst.
Nach Corona kam der Überfall auf die Ukraine, dann der Gazakrieg. Das alles bietet Verschwörungstheoretikern reichlich Stoff. Fürchten Sie schlimme Folgen für die Gesellschaft?
Mir macht das schon Sorgen. Das Problem ist, dass viele Menschen das Vertrauen in Institutionen verloren haben, in den Staat, in die Medien. Wir sind uns ja zum Teil nicht einmal mehr einig darin, was überhaupt Realität ist. Seit der Aufklärung gab es einen weitgehenden Konsens über das, was Wirklichkeit ist; demokratisch gestritten wurde darüber, wie mit dieser Wirklichkeit umzugehen ist. Es ist mir aber zu einfach, auf die Verschwörungsgläubigen zu zeigen und zu versuchen, sie mit Psychotricks zu reparieren. Wir müssen etwas gegen den allgemeinen Vertrauensverlust tun.
Erfüllen in diesem Zusammenhang die traditionellen Medien ihre Aufgaben gut genug?
Von einzelnen Skandalen abgesehen, glaube ich nicht, dass die Medien per se etwas falsch machen. Aber ich habe das Gefühl, dass zum Teil die Herangehensweise mindestens naiv ist. Viele Medienhäuser und Medienkompetenztrainings in Schulen setzen auf das sogenannte Fact-Checking. Das überspringt meiner Meinung nach eine wichtige Reflexionsebene. Um etwas für ein Faktum zu halten, muss ich der Quelle trauen, die sagt, dass etwas ein Faktum ist. Wenn ich der "Tagesschau" nicht glaube, dann glaube ich auch ihrem Faktencheck nicht.
Und was kann man dagegen tun?
Es reicht nicht, an das Vertrauen in Quellen zu appellieren. Wir brauchen Vertrauen in den Prozess der Wissensgenerierung. Es müsste noch transparenter kommuniziert werden, wie man zu welchen Schlüssen kommt, auf welchen Einzelfakten diese Schlüsse basieren. Auch in der Wissenschaft werden inzwischen mehr und mehr Rohdaten publiziert und nicht nur die Analysen, die darauf beruhen. Die Frage ist, inwieweit sich so etwas im Journalismus praktizieren lässt; dort greift ja oft der Quellenschutz.
Nicht jeder Verschwörungsglaube muss bekämpft werden, und hin und wieder erweist sich eine Verschwörungstheorie als wahr. Wann sollte die Gesellschaft gegen solche Erzählungen vorgehen?
Immer dann, wenn andere Menschen herabgesetzt, beleidigt oder bedroht werden. Das öffentliche Äußern menschenfeindlicher Verschwörungstheorien müssen wir uns nicht gefallen lassen und natürlich auch kein gefährliches Verhalten, das daraus folgt - also etwa Gewalttaten oder unterlassene Hilfeleistung durch medizinisches Personal, das vielleicht ein bestimmtes Medikament nicht verabreichen will.
Angenommen, ein Freund oder Angehöriger von mir gerät in den Bann einer Verschwörungstheorie. Wie soll ich mich verhalten?
Wenn man die Zeit und Energie dafür hat, kann man versuchen, mit diesem Menschen in einen Dialog zu treten. Ich würde aber davor warnen, dieses Gespräch auf die Faktenebene zu ziehen - denn das würde voraussetzen, dass beide das gleiche Verständnis davon haben, was die Fakten sind.
Aber wie soll ich dann so einen Dialog führen?
Es gibt zwei Vorschläge, die jedoch beide nicht durch Studien gestützt sind. Zum einen kann man auf einer Metaebene darüber sprechen, wie wir zu unserem Wissen über die Welt gelangen: Warum glaubst du dies und ich das? Die zweite Empfehlung stammt aus der Beratungsarbeit: versuchen zu verstehen, welche Bedürfnisse sich hinter dem Verschwörungsglauben verbergen. Angehörige berichten häufig von biographischen Brüchen wie Arbeitslosigkeit oder Scheidung, die den Wunsch nach Erklärungen wecken. Das kann dazu führen, dass Menschen sich für Verschwörungstheorien öffnen.
Am Ende Ihres Buches wird ein früherer Verschwörungsgläubiger zitiert, der sagt, letztlich hätten ihn nicht "verbissene Argumente" überzeugt, sondern "die beständige Freundschaft mit Menschen, die meine seltsamen Ideen nicht teilten und dennoch in mir mehr sahen als einen Spinner". Kann man das als Empfehlung verallgemeinern?
Für das persönliche Umfeld - ja. Sich als Mensch akzeptiert zu fühlen kann es leichter machen, einen Irrglauben zuzugeben.
Die Fragen stellte Sascha Zoske.
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MAINZ Roland Imhoff hat ein Buch über die Psychologie des Verschwörungsglaubens herausgegeben. Hier erklärt er, wie die Anhänger kruder Theorien denken und wie man sie womöglich noch erreichen kann.
Herr Imhoff, in Ihrem neuen Buch über die Psychologie der Verschwörungstheorien wird von Videos berichtet, die 2021 kursierten: Junge Leute halten sich nach einer Corona-Impfung Magnete an den Arm, die dort angeblich haften bleiben. Das wird als Beweis gesehen, dass mit der Impfung Mikrochips injiziert würden. Warum glauben Menschen so einen Unsinn?
Diese Frage liegt nahe für den, der überzeugt ist, dass er keinen Unsinn glaubt, die anderen hingegen schon. Aber wenn man sich länger mit Verschwörungsglauben beschäftigt, lernt man eine gewisse intellektuelle Demut. Man muss sich fragen, ob Menschen, die solchen Theorien anhängen, grundsätzlich auf andere Arten Erkenntnisse gewinnen als jene, die das nicht tun. Wir alle haben den größten Teil unseres Weltwissens nicht aus erster Hand, sondern aus Schulbüchern oder Medienberichten. Wir übernehmen das, was dort präsentiert wird, weil wir diesen Quellen vertrauen. Der Hauptunterschied zwischen Verschwörungsgläubigen und Nichtverschwörungsgläubigen liegt darin, welchen Quellen sie vertrauen. Anhänger von Verschwörungstheorien halten mitunter den nächstbesten Youtuber für glaubwürdiger als traditionelle Medien, weil er ja nicht Teil der "korrumpierten Elite" sei und keine "finanziellen Interessen" habe.
Das leuchtet ein, aber glaubt auch der Youtuber selbst, dass der Magnet wegen eines Mikrochips am Arm kleben bleibt?
Glauben Zauberer, dass sie zaubern können? Ein Meisterillusionist, der professionelle Distanz zu seinem Metier hat, tut das vermutlich nicht. Gleiches würde ich bei Leuten annehmen, die professionelle Videos drehen. Oft gibt es da kommerzielle Interessen: Spektakuläre Neuigkeiten bringen Klicks, und damit lässt sich Geld verdienen. Ein Großteil der Falschnachrichten stammt zudem aus russischen Trollfabriken, und den Leuten, die dort angestellt sind, dürfte klar sein, dass sie an Desinformationskampagnen mitwirken. Aber es gibt auch Mechanismen, die bewirken könnten, dass Leute tatsächlich von so etwas überzeugt sind. Sie fühlen sich womöglich im Besitz eines illustren Geheimnisses, als Stars in der Manege, die den dummen Schlafschafen überlegen sind. Es gibt Hinweise aus der Forschung, dass der Glaube an Verschwörungstheorien mit narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen in Verbindung stehen könnte.
Könnten außer Narzissmus noch weitere Persönlichkeitszüge mit Verschwörungsglauben korreliert sein? Etwa Ängstlichkeit oder Kreativität?
Für einen Zusammenhang mit Kreativität haben wir keine Hinweise gefunden. Auch Ängstlichkeit scheint kein starkes kausales Agens zu sein. Aber Verschwörungsnarrative liefern Erklärungen für Menschen, die Erklärungen suchen und nicht akzeptieren wollen, dass Dinge zufällig geschehen können. Die Angst, dass mir ein Unglück widerfährt, kann eingehegt werden durch den Glauben an einen Plan, in dem ich keine Rolle spiele: Mich will der Mossad ja nicht umbringen. Wenn hingegen eine Katastrophe nur ein Produkt des Zufalls ist, bin ich genauso gefährdet wie alle anderen. Man hat in Längsschnittstudien schwache Hinweise darauf gefunden, dass Angst zu einer stärkeren Zustimmung zu Verschwörungstheorien führt, aber es gab keine Evidenz dafür, dass der Glaube an solche Theorien Ängste lindert.
Es wird auch vermutet, dass Verschwörungsglaube mit Denkfehlern zusammenhängt, denen wir alle mehr oder weniger unterliegen: etwa dem vermeintlichen Erkennen von Mustern, wo in Wahrheit nur der Zufall waltet, oder dem vorschnellen Ziehen von Schlüssen aus Beobachtungen. Gibt es neuere Erkenntnisse, die das belegen?
Es gibt Zusammenhänge, aber sie sind relativ schwach. Der wahrscheinlich größte Denkfehler - wenn man ihn so nennen will - von uns allen ist die konfirmatorische Informationsverarbeitung: Wir gewichten jene Informationen stärker, die mit unseren vorhandenen Überzeugungen übereinstimmen. Dem unterliegen die meisten von uns, aber wenn es darum geht, Informationen abzuwehren, die nicht ins eigene Weltbild passen, haben Verschwörungsgläubige sozusagen immer eine Patrone mehr im Gürtel: Sie können behaupten, dass das, was als Wahrheit präsentiert wird, Resultat einer Verschleierungskampagne der Verschwörer ist.
Wir haben uns 2019 zum ersten Mal über Ihre Arbeit unterhalten, also vor der Pandemie. Viele nehmen an, dass die Verbreitung von Verschwörungstheorien in der Corona-Krise stark zugenommen habe. Aber stimmt das überhaupt?
Das kommt darauf an, ob uns die Anzahl der Verschwörungsgläubigen interessiert, das Ausmaß der Verbreitung von Verschwörungstheorien oder der gesellschaftliche Einfluss, den sie haben, wie meine Kollegin Pia Lamberty in dem jetzt erschienenen Buch darlegt. In sozialwissenschaftlichen Studien findet sich zwar kein Beleg für eine quantitative Zunahme an Befürwortung; am Anfang der Pandemie wurde sogar ein Rückgang des Verschwörungsglaubens registriert. Es gibt aber Hinweise darauf, dass Anhänger solcher Theorien aufgehört haben, ihre Überzeugungen in Umfragen zu offenbaren . . .
. . . weil Bill Gates ja mitliest und sie dann bestrafen wird . . .
Genau. Plausibler ist aber, dass die Corona-Pandemie Verschwörungserzählungen das Privileg genommen hat, Privatmeinungen zu sein. Zum Schutz vor dem Virus wurde die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, es wurde erwartet, dass wir Masken tragen und uns impfen lassen. Der Staat wollte etwas von uns, und da fühlte sich mancher Anhänger unorthodoxer Theorien wohl gezwungen, seinen Einspruch aggressiver zu artikulieren.
Haben Sie während der Pandemie neue Arten von Verschwörungserzählungen beobachtet, oder war es im Grunde nur alter Wein in neuen Schläuchen, der da präsentiert wurde - bis hin zu den bekannten antisemitischen Mythen?
Ich finde es immer wieder verblüffend, wie schnell junge Menschen auf die Familie Rothschild kommen, die schon seit Jahrhunderten für antisemitische Verdächtigungen herhalten muss. Die letzte große "Innovation" entstand in Zusammenhang mit der QAnon-Bewegung. Die Behauptung, amerikanische Politiker würden Kinder missbrauchen und töten, um aus ihnen ein Lebenselixier zu gewinnen, macht zwar auch Anleihen bei uralten antisemitischen Verschwörungsmythen, aber die Methode war neu. Die Parole hieß: "Do your own research". Anhänger wurden aufgefordert, im Alltag nach Beweisen für die angebliche Verschwörung zu suchen und die Indizien dann selbst zusammenzusetzen. So etwas ist, psychologisch betrachtet, extrem vielversprechend: Kein Mensch kann mich so gut von etwas überzeugen wie ich mich selbst.
Nach Corona kam der Überfall auf die Ukraine, dann der Gazakrieg. Das alles bietet Verschwörungstheoretikern reichlich Stoff. Fürchten Sie schlimme Folgen für die Gesellschaft?
Mir macht das schon Sorgen. Das Problem ist, dass viele Menschen das Vertrauen in Institutionen verloren haben, in den Staat, in die Medien. Wir sind uns ja zum Teil nicht einmal mehr einig darin, was überhaupt Realität ist. Seit der Aufklärung gab es einen weitgehenden Konsens über das, was Wirklichkeit ist; demokratisch gestritten wurde darüber, wie mit dieser Wirklichkeit umzugehen ist. Es ist mir aber zu einfach, auf die Verschwörungsgläubigen zu zeigen und zu versuchen, sie mit Psychotricks zu reparieren. Wir müssen etwas gegen den allgemeinen Vertrauensverlust tun.
Erfüllen in diesem Zusammenhang die traditionellen Medien ihre Aufgaben gut genug?
Von einzelnen Skandalen abgesehen, glaube ich nicht, dass die Medien per se etwas falsch machen. Aber ich habe das Gefühl, dass zum Teil die Herangehensweise mindestens naiv ist. Viele Medienhäuser und Medienkompetenztrainings in Schulen setzen auf das sogenannte Fact-Checking. Das überspringt meiner Meinung nach eine wichtige Reflexionsebene. Um etwas für ein Faktum zu halten, muss ich der Quelle trauen, die sagt, dass etwas ein Faktum ist. Wenn ich der "Tagesschau" nicht glaube, dann glaube ich auch ihrem Faktencheck nicht.
Und was kann man dagegen tun?
Es reicht nicht, an das Vertrauen in Quellen zu appellieren. Wir brauchen Vertrauen in den Prozess der Wissensgenerierung. Es müsste noch transparenter kommuniziert werden, wie man zu welchen Schlüssen kommt, auf welchen Einzelfakten diese Schlüsse basieren. Auch in der Wissenschaft werden inzwischen mehr und mehr Rohdaten publiziert und nicht nur die Analysen, die darauf beruhen. Die Frage ist, inwieweit sich so etwas im Journalismus praktizieren lässt; dort greift ja oft der Quellenschutz.
Nicht jeder Verschwörungsglaube muss bekämpft werden, und hin und wieder erweist sich eine Verschwörungstheorie als wahr. Wann sollte die Gesellschaft gegen solche Erzählungen vorgehen?
Immer dann, wenn andere Menschen herabgesetzt, beleidigt oder bedroht werden. Das öffentliche Äußern menschenfeindlicher Verschwörungstheorien müssen wir uns nicht gefallen lassen und natürlich auch kein gefährliches Verhalten, das daraus folgt - also etwa Gewalttaten oder unterlassene Hilfeleistung durch medizinisches Personal, das vielleicht ein bestimmtes Medikament nicht verabreichen will.
Angenommen, ein Freund oder Angehöriger von mir gerät in den Bann einer Verschwörungstheorie. Wie soll ich mich verhalten?
Wenn man die Zeit und Energie dafür hat, kann man versuchen, mit diesem Menschen in einen Dialog zu treten. Ich würde aber davor warnen, dieses Gespräch auf die Faktenebene zu ziehen - denn das würde voraussetzen, dass beide das gleiche Verständnis davon haben, was die Fakten sind.
Aber wie soll ich dann so einen Dialog führen?
Es gibt zwei Vorschläge, die jedoch beide nicht durch Studien gestützt sind. Zum einen kann man auf einer Metaebene darüber sprechen, wie wir zu unserem Wissen über die Welt gelangen: Warum glaubst du dies und ich das? Die zweite Empfehlung stammt aus der Beratungsarbeit: versuchen zu verstehen, welche Bedürfnisse sich hinter dem Verschwörungsglauben verbergen. Angehörige berichten häufig von biographischen Brüchen wie Arbeitslosigkeit oder Scheidung, die den Wunsch nach Erklärungen wecken. Das kann dazu führen, dass Menschen sich für Verschwörungstheorien öffnen.
Am Ende Ihres Buches wird ein früherer Verschwörungsgläubiger zitiert, der sagt, letztlich hätten ihn nicht "verbissene Argumente" überzeugt, sondern "die beständige Freundschaft mit Menschen, die meine seltsamen Ideen nicht teilten und dennoch in mir mehr sahen als einen Spinner". Kann man das als Empfehlung verallgemeinern?
Für das persönliche Umfeld - ja. Sich als Mensch akzeptiert zu fühlen kann es leichter machen, einen Irrglauben zuzugeben.
Die Fragen stellte Sascha Zoske.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main