Als geachteter Patriarch der Familie: so würde Nariman Vakeel in Bombay gern seinem Alter entgegensehen. Aber die Harmonie in seiner Familie ist brüchig. Er lebt bei seinen Stiefkindern, die ihm vorwerfen, ihre verstorbene Mutter nie richtig geliebt zu haben. Als er nach einem Unfall gepflegt werden muss, schieben sie ihn zu seiner Tochter Roxana ab, die mit ihrem Mann Yezad und zwei Kindern in einer engen Wohnung lebt. So sehr Roxana ihren Vater liebt, so sehr auch Yezad und die Kinder versuchen, den alten Mann in ihr Leben aufzunehmen, wird die Situation doch zur Belastung - und die Versuche, das Leben zu bewältigen, haben dramatische Folgen. Yezad wird von dem ganz Bombay ergreifenden Lotteriefieber erfasst und verspielt sein knappes Gehalt, dann will er seinen Chef für eine Lokalpolitikerkarriere begeistern, um so selbst befördert zu werden. Nariman flüchtet sich immer mehr in Erinnerungen an seine erste verbotene Liebe zu der Christin Lucy, und Roxana versucht heimlich eine Versöhnung mit den Stiefgeschwistern zu erreichen. Und dann scheint es, als könne alles gut werden.Meisterhaft erzählt Rohinton Mistry die Geschichte einer Familie, deren Konflikte, Nöte und Stärken für jeden unmittelbar berührend sind. Die Vielfalt Bombays und seiner Einwohner, die kulturellen und religiösen Gegensätze des Landes, bilden den farbigen Hintergrund für Mistrys bewegende Erkundung der menschlichen Natur: über das Altern, den Tod und die Geduld, über die Liebe und die Beharrlichkeit der Hoffnung.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2002Nur Katastrophen gelten als mildernde Umstände
Gegenprogramm zur Bosheit, Machtgier und Rätselhaftigkeit der Welt: Rohinton Mistrys Familiengeschichte aus Bombay
Von der amerikanischen und englischen Kritik wird der Schriftsteller Rohinton Mistry mit überschwenglichem Lob überhäuft. Soeben attestierte John Updike im "New Yorker" dem neuen Roman des Inders "an Tolstoi erinnernde Qualitäten". Das Magazin "Time" verglich Mistry mit Hardy und Balzac. Und zu den höchsten Sternen griff der "St. Louis Despatch", der in dem Buch "das Panorama einer Shakespeareschen Tragödie oder eines Romans von Dickens oder Dostojewski" entdecken wollte. In England hat der Roman es auf die Shortlist für den Booker-Preis geschafft, der nächste Woche vergeben wird. In Deutschland dagegen ist der Autor, obwohl seine früheren Bücher - ein Erzählungsband und zwei Romane - übersetzt vorliegen, kaum ein Begriff.
Nun gibt "Die Quadratur des Glücks" Anlaß zu prüfen, was der 1952 in Bombay geborene und seit 1973 in Kanada lebende Romancier zu bieten hat. Der Roman, der im Original "Family Matters" heißt, ist ein Hohelied auf die Familie. Die Geschichte spielt in den neunziger Jahren in der Vierzehn-Millionen-Stadt Bombay, deren Stimmen und Sprachen in längeren Passagen erklingen (ein Glossar hilft, sie zu entschlüsseln). Mit ihren politischen, sozialen, religiösen Spannungen gleicht sie einem "unzivilisierten Urwald", in dem der Lebenskampf jeden Tag aufs neue gewonnen werden muß. Die Hektik und Nervosität der von Menschen berstenden Metropole gibt dem Roman seine moderne Färbung.
Im Mittelpunkt steht ein Greis, Nariman Vakeel, einst Professor für Literatur, jetzt von den Gebrechen des Alters geplagt, nach einem Sturz bettlägerig. Seine Stiefkinder, mit denen der wohlhabende Witwer in einer Sieben-Zimmer-Wohnung lebt, deponieren ihn, als das Problem der Bettpfanne auftaucht, handstreichartig bei seiner einzigen leiblichen Tochter, der engelsgeduldigen Roxana. Beengt, aber glücklich wohnt sie mit Mann und zwei Söhnen in einem Zwei-Zimmer-Appartement.
Voller Humor und mit einer Begabung für lebensnahe Dialoge entwickelt der Autor in epischer Gelassenheit die komischen, traurigen und die Nerven strapazierenden Schwierigkeiten, die sich aus der Anwesenheit des Kranken ergeben. Für indische Verhältnisse sind die Chenoys nicht arm. Yezad, das Familienoberhaupt, arbeitet als Geschäftsführer in einem Sportwarengeschäft. Wie Mistry selbst gehören sie der Minderheit der Parsen an, die für ihre Nähe zur europäischen Kultur bekannt sind. Die Kinder lesen englische Kinderbücher und unterhalten sich über amerikanische Filme. Die Erwachsenen zitieren Shakespeare und Voltaire, lieben westliche Schlager und die Musik von Schubert und Beethoven. Ihrer zoroastrischen Religion stehen sie ebenso distanziert gegenüber wie Durchschnittseuropäer ihrem christlichen Glauben.
Mit liebevoller Eindringlichkeit bringt Mistry uns das Leben dieser Menschen nahe, in deren Behausung der Putz von den Wänden bröckelt, die Toiletten nicht funktionieren, das Wasser für das Bad in der Küche auf dem Gasherd gewärmt, die Wäsche im Zimmer getrocknet wird und Opa Geschäft "Nummer zwei" im Raum, in dem gewohnt, gegessen, geschlafen wird, verrichten muß. Allmählich wird das Geld in den verschiedenen Budgetkuverts für Butter, Medizin, Schulgeld immer knapper. Vater Yezad und ausgerechnet der zartbesaitete jüngere Sohn Jehangir gehen krumme Touren, um die Familienkasse aufzufüllen.
Mistrys Menschenbild ist von einer märchenhaften Einfachheit. Nicht die menschliche Natur mit ihren Widersprüchen und Brüchen schildert er, sondern er zeigt, wie sie sein sollte: liebevoll, vom Mitleid geleitet, den Mitmenschen zugewandt. Geld ist dabei eher hinderlich. Je wohlhabender die Chenoys werden, um so mehr verdunkelt sich ihr Glück. Bunte Nebenfiguren von ähnlich heiligmäßigem Zuschnitt begleiten die Handlung. Da ist der Buchhändlergehilfe Vilas, der im Nebenberuf für Analphabeten Briefe an ihre Verwandten auf dem Lande aufsetzt; der gutmütige Ladendiener Husein, ein Muslim, dessen gesamte Familie bei einem religiös motivierten Krawall ausgerottet wurde; die zum Verlieben schöne Violinistin Daisy, die Nariman zum Abschied aus dem Leben auf der Geige vorspielt; der idealistische Mr. Kapur, Inhaber des Sportartikelladens, in dessen Schaufenster die Feste aller Religionen durch besondere Dekorationen gefeiert werden. Ausgerechnet er wird von den Anhängern einer radikalen Hindu-Bewegung ermordet.
Denn selbstverständlich gibt es bei Mistry auch Leid und Schmerz, Schurken und Bösewichte. Aber selbst einer bösen Frau wie Narimans Stieftochter Coomy, die sich im Netz ihrer eigenen Intrigen fängt, gesteht der Autor mildernde Umstände zu. Kummer und Katastrophen sind bei Mistry eher den Umständen als den Menschen geschuldet. Nariman durfte in seiner Jugend seine geliebte Lucy nicht heiraten, weil sie keine Parsin war. Daraus resultiert das in der Familie verkapselte Unglück, dem zwei Frauen zum Opfer fielen. Die Erinnerungen daran durchziehen die Träume des Alten. Und den lebenslustigen Yezad machen am Ende Schuldgefühle zu einem bigotten Fanatiker, der seine Familie mit orthodoxen Reinheitsvorstellungen quält. Im langen Epilog macht Mistry jedoch deutlich, daß sich die junge Generation diesem Diktat nicht länger unterwerfen wird.
Der Roman besitzt weder die philosophische Tiefe der russischen Romanciers, noch bietet er ein Gesellschaftspanorama, wie man es bei Dickens oder Balzac findet. Mistrys "moral tale", seine "geballte Menschlichkeit" (Ilja Trojanow), ist ein Gegenprogramm zur Bosheit, Machtgier, Rätselhaftigkeit der Welt, ein Traum, den wir alle gerne träumen, weil wir ihn nicht leben können. Yezads Einsicht "Erinnere dich an die Zeit des Sterbens, um das Dumme und Häßliche aus der Zeit des Lebens" herauszuhalten, ist eine banale Wiedergabe der Weisheit des biblischen Psalmisten: "Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden." So betrachtet, hat uns der Inder Mistry viel zu sagen.
Rohinton Mistry: "Die Quadratur des Glücks". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Rainer Schmidt. Krüger Verlag, Frankfurt am Main 2002. 639 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gegenprogramm zur Bosheit, Machtgier und Rätselhaftigkeit der Welt: Rohinton Mistrys Familiengeschichte aus Bombay
Von der amerikanischen und englischen Kritik wird der Schriftsteller Rohinton Mistry mit überschwenglichem Lob überhäuft. Soeben attestierte John Updike im "New Yorker" dem neuen Roman des Inders "an Tolstoi erinnernde Qualitäten". Das Magazin "Time" verglich Mistry mit Hardy und Balzac. Und zu den höchsten Sternen griff der "St. Louis Despatch", der in dem Buch "das Panorama einer Shakespeareschen Tragödie oder eines Romans von Dickens oder Dostojewski" entdecken wollte. In England hat der Roman es auf die Shortlist für den Booker-Preis geschafft, der nächste Woche vergeben wird. In Deutschland dagegen ist der Autor, obwohl seine früheren Bücher - ein Erzählungsband und zwei Romane - übersetzt vorliegen, kaum ein Begriff.
Nun gibt "Die Quadratur des Glücks" Anlaß zu prüfen, was der 1952 in Bombay geborene und seit 1973 in Kanada lebende Romancier zu bieten hat. Der Roman, der im Original "Family Matters" heißt, ist ein Hohelied auf die Familie. Die Geschichte spielt in den neunziger Jahren in der Vierzehn-Millionen-Stadt Bombay, deren Stimmen und Sprachen in längeren Passagen erklingen (ein Glossar hilft, sie zu entschlüsseln). Mit ihren politischen, sozialen, religiösen Spannungen gleicht sie einem "unzivilisierten Urwald", in dem der Lebenskampf jeden Tag aufs neue gewonnen werden muß. Die Hektik und Nervosität der von Menschen berstenden Metropole gibt dem Roman seine moderne Färbung.
Im Mittelpunkt steht ein Greis, Nariman Vakeel, einst Professor für Literatur, jetzt von den Gebrechen des Alters geplagt, nach einem Sturz bettlägerig. Seine Stiefkinder, mit denen der wohlhabende Witwer in einer Sieben-Zimmer-Wohnung lebt, deponieren ihn, als das Problem der Bettpfanne auftaucht, handstreichartig bei seiner einzigen leiblichen Tochter, der engelsgeduldigen Roxana. Beengt, aber glücklich wohnt sie mit Mann und zwei Söhnen in einem Zwei-Zimmer-Appartement.
Voller Humor und mit einer Begabung für lebensnahe Dialoge entwickelt der Autor in epischer Gelassenheit die komischen, traurigen und die Nerven strapazierenden Schwierigkeiten, die sich aus der Anwesenheit des Kranken ergeben. Für indische Verhältnisse sind die Chenoys nicht arm. Yezad, das Familienoberhaupt, arbeitet als Geschäftsführer in einem Sportwarengeschäft. Wie Mistry selbst gehören sie der Minderheit der Parsen an, die für ihre Nähe zur europäischen Kultur bekannt sind. Die Kinder lesen englische Kinderbücher und unterhalten sich über amerikanische Filme. Die Erwachsenen zitieren Shakespeare und Voltaire, lieben westliche Schlager und die Musik von Schubert und Beethoven. Ihrer zoroastrischen Religion stehen sie ebenso distanziert gegenüber wie Durchschnittseuropäer ihrem christlichen Glauben.
Mit liebevoller Eindringlichkeit bringt Mistry uns das Leben dieser Menschen nahe, in deren Behausung der Putz von den Wänden bröckelt, die Toiletten nicht funktionieren, das Wasser für das Bad in der Küche auf dem Gasherd gewärmt, die Wäsche im Zimmer getrocknet wird und Opa Geschäft "Nummer zwei" im Raum, in dem gewohnt, gegessen, geschlafen wird, verrichten muß. Allmählich wird das Geld in den verschiedenen Budgetkuverts für Butter, Medizin, Schulgeld immer knapper. Vater Yezad und ausgerechnet der zartbesaitete jüngere Sohn Jehangir gehen krumme Touren, um die Familienkasse aufzufüllen.
Mistrys Menschenbild ist von einer märchenhaften Einfachheit. Nicht die menschliche Natur mit ihren Widersprüchen und Brüchen schildert er, sondern er zeigt, wie sie sein sollte: liebevoll, vom Mitleid geleitet, den Mitmenschen zugewandt. Geld ist dabei eher hinderlich. Je wohlhabender die Chenoys werden, um so mehr verdunkelt sich ihr Glück. Bunte Nebenfiguren von ähnlich heiligmäßigem Zuschnitt begleiten die Handlung. Da ist der Buchhändlergehilfe Vilas, der im Nebenberuf für Analphabeten Briefe an ihre Verwandten auf dem Lande aufsetzt; der gutmütige Ladendiener Husein, ein Muslim, dessen gesamte Familie bei einem religiös motivierten Krawall ausgerottet wurde; die zum Verlieben schöne Violinistin Daisy, die Nariman zum Abschied aus dem Leben auf der Geige vorspielt; der idealistische Mr. Kapur, Inhaber des Sportartikelladens, in dessen Schaufenster die Feste aller Religionen durch besondere Dekorationen gefeiert werden. Ausgerechnet er wird von den Anhängern einer radikalen Hindu-Bewegung ermordet.
Denn selbstverständlich gibt es bei Mistry auch Leid und Schmerz, Schurken und Bösewichte. Aber selbst einer bösen Frau wie Narimans Stieftochter Coomy, die sich im Netz ihrer eigenen Intrigen fängt, gesteht der Autor mildernde Umstände zu. Kummer und Katastrophen sind bei Mistry eher den Umständen als den Menschen geschuldet. Nariman durfte in seiner Jugend seine geliebte Lucy nicht heiraten, weil sie keine Parsin war. Daraus resultiert das in der Familie verkapselte Unglück, dem zwei Frauen zum Opfer fielen. Die Erinnerungen daran durchziehen die Träume des Alten. Und den lebenslustigen Yezad machen am Ende Schuldgefühle zu einem bigotten Fanatiker, der seine Familie mit orthodoxen Reinheitsvorstellungen quält. Im langen Epilog macht Mistry jedoch deutlich, daß sich die junge Generation diesem Diktat nicht länger unterwerfen wird.
Der Roman besitzt weder die philosophische Tiefe der russischen Romanciers, noch bietet er ein Gesellschaftspanorama, wie man es bei Dickens oder Balzac findet. Mistrys "moral tale", seine "geballte Menschlichkeit" (Ilja Trojanow), ist ein Gegenprogramm zur Bosheit, Machtgier, Rätselhaftigkeit der Welt, ein Traum, den wir alle gerne träumen, weil wir ihn nicht leben können. Yezads Einsicht "Erinnere dich an die Zeit des Sterbens, um das Dumme und Häßliche aus der Zeit des Lebens" herauszuhalten, ist eine banale Wiedergabe der Weisheit des biblischen Psalmisten: "Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden." So betrachtet, hat uns der Inder Mistry viel zu sagen.
Rohinton Mistry: "Die Quadratur des Glücks". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Rainer Schmidt. Krüger Verlag, Frankfurt am Main 2002. 639 S., geb., 24,90 [Euro].
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