Maître Susane, 42, Anwältin in Bordeaux, erhält in ihrer Kanzlei Besuch von einem gewissen Gilles Principaux. Sie glaubt diesen Mann aus ihrer Jugend zu kennen: Da war eine Begegnung mit einem älteren, beeindruckenden Jungen aus reichem Elternhaus, die ihrem Leben eine ganz neue Richtung gab. Doch an das, was damals konkret geschah, erinnert sie sich kaum. Andeutungen ihres Vaters, der Junge könne ihr zu nahe gekommen sein, weist sie empört zurück. Principaux bittet sie, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen, die ein entsetzliches Verbrechen begangen hat: Marlyne Principaux hat ihre drei Kinder getötet. Maître Susane übernimmt den Fall - und stürzt ins Bodenlose. Was ist los mit dieser Mutter? Welche Rolle spielen in alldem Maître Susanes maurizische Hausangestellte und deren Kinder? Wer ist dieser Gilles Principaux wirklich? Und ist sie selbst überhaupt diejenige, die sie zu sein glaubt?
Eine Anwältin wird beauftragt, eine Mutter zu verteidigen, die ihredrei Kinder ermordet hat. Aber verbindet sie nicht mit dem Vater der Kinder eine folgenreiche Begegnung viele Jahre zuvor? Was ist hier Wahrheit, was Lüge? Und ist es möglich, ohne Gewissheit zu leben? Marie NDiayes aufwühlender Roman über eine Frau in einer Extremsituation ist in Frankreich das literarische Ereignis des Jahres: ein raffiniertes, abgründiges Spiel mit uns und unseren Erwartungen und Ängsten.
»Die großartige Marie NDiaye hat das literarische Ereignis des Jahres geschrieben.« Les Inrockuptibles
»Marie NDiaye bringt ihre Leser nicht nur aus dem Gleichgewicht, sie wirft sie regelrecht um.« Livres Hebdo
»Zugleich ein packender Thriller und ein großer Gesellschaftsroman.« Le Figaro Littéraire
»Ein außergewöhnlicher Roman über den Widerspruch, in dem Frauen gefangen sind.« Le Masque et la Plume
»Marie NDiaye schreibt über das heutige Frankreich und erfasst, was die Gesellschaft bewegt.« Le Point
Eine Anwältin wird beauftragt, eine Mutter zu verteidigen, die ihredrei Kinder ermordet hat. Aber verbindet sie nicht mit dem Vater der Kinder eine folgenreiche Begegnung viele Jahre zuvor? Was ist hier Wahrheit, was Lüge? Und ist es möglich, ohne Gewissheit zu leben? Marie NDiayes aufwühlender Roman über eine Frau in einer Extremsituation ist in Frankreich das literarische Ereignis des Jahres: ein raffiniertes, abgründiges Spiel mit uns und unseren Erwartungen und Ängsten.
»Die großartige Marie NDiaye hat das literarische Ereignis des Jahres geschrieben.« Les Inrockuptibles
»Marie NDiaye bringt ihre Leser nicht nur aus dem Gleichgewicht, sie wirft sie regelrecht um.« Livres Hebdo
»Zugleich ein packender Thriller und ein großer Gesellschaftsroman.« Le Figaro Littéraire
»Ein außergewöhnlicher Roman über den Widerspruch, in dem Frauen gefangen sind.« Le Masque et la Plume
»Marie NDiaye schreibt über das heutige Frankreich und erfasst, was die Gesellschaft bewegt.« Le Point
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Iris Radisch singt eine Hymne auf Marie NDiaye, ihr Werk im Allgemeinen und den neuen Roman im Besonderen. Einmal mehr bewundert die Kritikerin die sehr französische "Raffinesse", mit der die Autorin die Untiefen der Seele auslotet und zu den "archaischen Leidenschaften und Ekstasen" ihrer Figuren vordringt. Wenn NDiaye von Anwältin Susane erzählt, die eine Mutter vertritt, die ihre drei Kinder ertränkte, um von ihrem Mann loszukommen, und dabei feine Fäden zwischen den Figuren spinnt, spürt Radisch nicht zuletzt dank der Noir-Atmosphäre eine "wohlige Lesefolter". Und wie die Autorin die vielen Spuren, Irrungen und Wirrungen in sich "elegant auftürmende französische Satzperioden" packt, ringt ihr ohnehin größte Anerkennung ab. Nicht zuletzt verneigt sich die Kritikerin vor der Übersetzung von Claudia Kalsche.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Wechselwirkung von Erwartung und Ereignis
In ihrem neuen Roman erzählt Marie NDiaye von einer Anwältin, die bei einem aktuellen Mandat auf die eigene Vergangenheit stößt.
Von Lena Bopp
Marie NDiaye hat über ihre Arbeit einmal gesagt, dass sie oft im Traum beginne. Lange bevor sie mit dem Schreiben eines neuen Romans anfange, träume sie von einem Bild, das zunächst unscharf bleibe, aber im Laufe einiger Monate an Klarheit und Konturen gewinne. Man war nicht sonderlich überrascht über dieses Geständnis. Der Arbeitsweise entspricht ein Hang zum Übernatürlichen, der häufig durch die Romane von Marie NDiaye weht. Ein Faible für Fantastik in Stil und Sujet. Etwas Schicksalhaftes zieht durch das Geschehen ihrer Bücher, Obsessionen und Zwänge unterwerfen ihre Figuren und bilden das literarische Feld dieser französischen Schriftstellerin und früheren Goncourt-Preisträgerin, die sich in ihrem jüngsten Buch treu bleibt.
Am Anfang, sagte Marie NDiaye, stand diesmal das Bild einer Frau, die in ihrem Büro von einem Mann besucht wird, dessen Anblick sie aus der Fassung bringt. Im Laufe der Monate und Jahre erwuchs aus dieser Szene der Roman "Die Rache ist mein", der diese Begegnung zum Anlass nimmt, dem unbeständigen Wesen von Erinnerungen nachzuspüren und der trügerischen Kraft des Gespürs. Maître Susane, Anfang vierzig, ist Rechtsanwältin in Bordeaux. Ihre Kanzlei ist noch nicht alt, die Zahl ihrer Mandanten ist überschaubar. Eines Tages wird sie von einem Mann namens Gilles Principaux aufgesucht und gebeten, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen, die die drei gemeinsamen Kinder in der Badewanne ertränkt haben soll. Maître Susane ist überrascht. Darüber, dass man ihr das Mandat eines Falles anträgt, über den alle Zeitungen berichten. Aber noch mehr über diesen Gilles Principaux, der sie schlagartig an eine Begegnung erinnert, die dreißig Jahre zurückliegt und über die man im Laufe der Lektüre nur wenig Konkretes erfährt. Man ahnt aber bald, dass die damals Zehnjährige dem damals Fünfzehnjährigen verfallen sein muss - ob zu ihrem Guten oder Schlechten, das steht dahin.
Und um das, was dahinsteht, geht es in diesem Buch. Denn Maître Susane, aus deren Perspektive das Drama geschildert wird, erweist sich als obsessive Erzählerin. Sie kann die Unzuverlässigkeit ihrer Erinnerung nicht aushalten. Vielmehr lässt sie sich von ihr anstacheln, Fragen zu stellen und Dinge zu tun, die sie selbst an sich und auch die Menschen in ihrer Umgebung immer mehr an ihr zweifeln lassen. Am wenigsten gilt das noch für Gilles Principaux, der auf ihre unvermittelte Frage, ob er sie von früher kenne, nicht mehr sehen kann als eine kurze Ablenkung von seinem eigenen Schicksal. Aber die Eltern von Maître Susane reagieren nervös auf das plötzliche Beharren der Tochter darauf, dass die damalige Begegnung mit dem Jungen ihr Leben entscheidend beeinflusst habe. Und auch das Machtverhältnis zu Sharon, der Haushälterin aus Mauritius, verschiebt sich zu ihren Ungunsten, je intensiver die Erzählerin versucht, ihrer Reaktion beim Anblick des Mannes auf die Schliche zu kommen.
In gewisser Weise versucht der Roman, mehrere Rätsel zu lösen. Das eine dreht sich um die wiederkehrende Leitfrage: "Wer war Gilles Principaux für sie?" Und was ist zwischen den beiden geschehen? Das bringt Spannung in den Roman, der sich stellenweise liest wie ein Krimi. Das andere Rätsel betrifft, ganz elementar, die Beziehungen auch zwischen den anderen Figuren, in deren komplexe Dynamiken sich Marie NDiaye schon immer vertieft wie nur wenige andere Autoren. Sie will wissen, welche Ereignisse bestimmte Gefühle hervorrufen. Aber eben auch umgekehrt nachspüren, wie Gefühle und Intuitionen bestimmte Ereignisse provozieren. Das ist es, was auch ihrem neuen Roman den Hauch des Schicksalhaften einflößt, das in der Luft liegt wie das Wetter, das nicht zufällig in schönen Bildern immer wieder ins Spiel kommt: "An diesem Morgen schneite es kaum merklich, und die Fensterscheiben der Kanzlei waren mit einem undurchdringlichen Schleier verhangen, der Illusionen, gemurmelte Selbstgespräche, ungestüme, streitbare, kämpferische Grübeleien begünstigte."
Marie NDiaye spielt diese Wechselwirkung von Erwartung und Ereignis an mehreren Figurenpaaren durch. Gleich auf den ersten Seiten wird deutlich, wie sehr die Beziehung von Maître Susane etwa zu ihrer Haushälterin von einem Gespür geprägt ist, das richtig sein könnte, aber auch trügerisch. Maître Susane ist überzeugt davon, dass Sharon, obwohl diese als illegal in Frankreich lebende Putzfrau den niedrigeren sozialen Status der beiden genießt, eigentlich auf sie herabschaut - womöglich weil Maître Susane unverheiratet und kinderlos ist. Und dieser Projektion passt sie ihr Verhalten gegenüber der Haushälterin an. Derselbe Mechanismus zeigt sich auch in der Beziehung von Marlyne und Gilles Principaux. Seitenlang gibt Marie NDiaye den beiden Gelegenheit, in verzweifelten Monologen ihre jeweilige Sicht auf die Ehe, die Kinder und den Mord an ihnen darzulegen. Und was dabei zutage tritt, ist ein tiefes Missverständnis. Die beiden täuschen sich ineinander, tun aber genau das, wovon sie überzeugt sind, dass der andere es von ihnen erwartet, und setzen so die Tragödie in Gang.
Wie Marie NDiaye diese Paralogismen zu einem Geflecht spannt, in dem sich ihre Figuren letztlich verheddern, ist virtuos. An einer Schlüsselstelle des Romans lässt sie Maître Susane im Geiste durchspielen, warum und wie sich der Kindsmord zugetragen haben könnte. Dabei wechselt sie zwischen Konjunktiv und Indikativ, mitunter innerhalb eines Absatzes und so lange, bis der Leser, vor allem aber Maître Susane zwischen Wahrheit und Dichtung nicht mehr unterscheiden kann, wodurch sie nicht nur in den Fall hineingezogen wird. Sie selbst wird der Fall. Ihre Intuition steigert sich zur Obsession, ihre Empathie bekommt wahnhafte Züge. So entsteht das Porträt einer Frau, die nur aus Innenleben zu bestehen scheint. Und deren Äußeres entsprechend schwach gezeichnet bleibt. Man weiß nicht mehr von ihr, als dass sie groß, kräftig und nicht sonderlich schön ist. Dass ihr Vorname mit "H" beginnt. Und dass sie aus einfachen Verhältnissen stammt.
Diese Wurzeln sind wichtig. Denn welche Rolle die Herkunft des Menschen spielt, ob sie sich leugnen, ändern oder nur annehmen lässt, sind wiederkehrende Leitmotive ihres Erzählens. Marie NDiaye hat sie in vielen ihrer Romane durchgespielt, zuletzt in "Die Chefin" (2017) und "Ladivine" (2014). Auch in dem neuen Buch entfalten die unterschiedlichen sozialen Milieus, aus denen die Figuren stammen, eine Wucht, die ihre Beziehungen oft scheitern lässt. Das gilt für das Ehepaar Principaux ebenso wie für Maître Susane. Und es gilt für ihren fast einzigen Klienten, den Sohn einer alten Weingüterfamilie aus Bordeaux, der sich, wie seine Anwältin glasklar zu erkennen vermag, in die Idee verbissen hat, dass seine Familie früher in die Sklaverei verwickelt war. Nun möchte er seinen Namen ändern und sucht nach Beweisen, was Marie NDiaye die Gelegenheit gibt, mit dieser Nebenfigur eine kleine, aber feine Spitze gegen den politisch korrekten, nicht minder obsessiven Zeitgeist abzuschießen.
Wohin das alles führt? Marie NDiaye lässt es offen. Eine Lösung des Rätsels um ihre Rechtsanwältin bietet sie nicht, dafür blickt sie umso tiefer in die Abgründe, in die sie Maître Susane schickt und in denen diese fast den Verstand verliert. Ist das Wahnsinn? Könnte sein. Doch was wahnsinnig ist, steht in diesem Buch eben sehr gekonnt dahin.
Marie NDiaye: "Die Rache ist mein". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 237 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihrem neuen Roman erzählt Marie NDiaye von einer Anwältin, die bei einem aktuellen Mandat auf die eigene Vergangenheit stößt.
Von Lena Bopp
Marie NDiaye hat über ihre Arbeit einmal gesagt, dass sie oft im Traum beginne. Lange bevor sie mit dem Schreiben eines neuen Romans anfange, träume sie von einem Bild, das zunächst unscharf bleibe, aber im Laufe einiger Monate an Klarheit und Konturen gewinne. Man war nicht sonderlich überrascht über dieses Geständnis. Der Arbeitsweise entspricht ein Hang zum Übernatürlichen, der häufig durch die Romane von Marie NDiaye weht. Ein Faible für Fantastik in Stil und Sujet. Etwas Schicksalhaftes zieht durch das Geschehen ihrer Bücher, Obsessionen und Zwänge unterwerfen ihre Figuren und bilden das literarische Feld dieser französischen Schriftstellerin und früheren Goncourt-Preisträgerin, die sich in ihrem jüngsten Buch treu bleibt.
Am Anfang, sagte Marie NDiaye, stand diesmal das Bild einer Frau, die in ihrem Büro von einem Mann besucht wird, dessen Anblick sie aus der Fassung bringt. Im Laufe der Monate und Jahre erwuchs aus dieser Szene der Roman "Die Rache ist mein", der diese Begegnung zum Anlass nimmt, dem unbeständigen Wesen von Erinnerungen nachzuspüren und der trügerischen Kraft des Gespürs. Maître Susane, Anfang vierzig, ist Rechtsanwältin in Bordeaux. Ihre Kanzlei ist noch nicht alt, die Zahl ihrer Mandanten ist überschaubar. Eines Tages wird sie von einem Mann namens Gilles Principaux aufgesucht und gebeten, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen, die die drei gemeinsamen Kinder in der Badewanne ertränkt haben soll. Maître Susane ist überrascht. Darüber, dass man ihr das Mandat eines Falles anträgt, über den alle Zeitungen berichten. Aber noch mehr über diesen Gilles Principaux, der sie schlagartig an eine Begegnung erinnert, die dreißig Jahre zurückliegt und über die man im Laufe der Lektüre nur wenig Konkretes erfährt. Man ahnt aber bald, dass die damals Zehnjährige dem damals Fünfzehnjährigen verfallen sein muss - ob zu ihrem Guten oder Schlechten, das steht dahin.
Und um das, was dahinsteht, geht es in diesem Buch. Denn Maître Susane, aus deren Perspektive das Drama geschildert wird, erweist sich als obsessive Erzählerin. Sie kann die Unzuverlässigkeit ihrer Erinnerung nicht aushalten. Vielmehr lässt sie sich von ihr anstacheln, Fragen zu stellen und Dinge zu tun, die sie selbst an sich und auch die Menschen in ihrer Umgebung immer mehr an ihr zweifeln lassen. Am wenigsten gilt das noch für Gilles Principaux, der auf ihre unvermittelte Frage, ob er sie von früher kenne, nicht mehr sehen kann als eine kurze Ablenkung von seinem eigenen Schicksal. Aber die Eltern von Maître Susane reagieren nervös auf das plötzliche Beharren der Tochter darauf, dass die damalige Begegnung mit dem Jungen ihr Leben entscheidend beeinflusst habe. Und auch das Machtverhältnis zu Sharon, der Haushälterin aus Mauritius, verschiebt sich zu ihren Ungunsten, je intensiver die Erzählerin versucht, ihrer Reaktion beim Anblick des Mannes auf die Schliche zu kommen.
In gewisser Weise versucht der Roman, mehrere Rätsel zu lösen. Das eine dreht sich um die wiederkehrende Leitfrage: "Wer war Gilles Principaux für sie?" Und was ist zwischen den beiden geschehen? Das bringt Spannung in den Roman, der sich stellenweise liest wie ein Krimi. Das andere Rätsel betrifft, ganz elementar, die Beziehungen auch zwischen den anderen Figuren, in deren komplexe Dynamiken sich Marie NDiaye schon immer vertieft wie nur wenige andere Autoren. Sie will wissen, welche Ereignisse bestimmte Gefühle hervorrufen. Aber eben auch umgekehrt nachspüren, wie Gefühle und Intuitionen bestimmte Ereignisse provozieren. Das ist es, was auch ihrem neuen Roman den Hauch des Schicksalhaften einflößt, das in der Luft liegt wie das Wetter, das nicht zufällig in schönen Bildern immer wieder ins Spiel kommt: "An diesem Morgen schneite es kaum merklich, und die Fensterscheiben der Kanzlei waren mit einem undurchdringlichen Schleier verhangen, der Illusionen, gemurmelte Selbstgespräche, ungestüme, streitbare, kämpferische Grübeleien begünstigte."
Marie NDiaye spielt diese Wechselwirkung von Erwartung und Ereignis an mehreren Figurenpaaren durch. Gleich auf den ersten Seiten wird deutlich, wie sehr die Beziehung von Maître Susane etwa zu ihrer Haushälterin von einem Gespür geprägt ist, das richtig sein könnte, aber auch trügerisch. Maître Susane ist überzeugt davon, dass Sharon, obwohl diese als illegal in Frankreich lebende Putzfrau den niedrigeren sozialen Status der beiden genießt, eigentlich auf sie herabschaut - womöglich weil Maître Susane unverheiratet und kinderlos ist. Und dieser Projektion passt sie ihr Verhalten gegenüber der Haushälterin an. Derselbe Mechanismus zeigt sich auch in der Beziehung von Marlyne und Gilles Principaux. Seitenlang gibt Marie NDiaye den beiden Gelegenheit, in verzweifelten Monologen ihre jeweilige Sicht auf die Ehe, die Kinder und den Mord an ihnen darzulegen. Und was dabei zutage tritt, ist ein tiefes Missverständnis. Die beiden täuschen sich ineinander, tun aber genau das, wovon sie überzeugt sind, dass der andere es von ihnen erwartet, und setzen so die Tragödie in Gang.
Wie Marie NDiaye diese Paralogismen zu einem Geflecht spannt, in dem sich ihre Figuren letztlich verheddern, ist virtuos. An einer Schlüsselstelle des Romans lässt sie Maître Susane im Geiste durchspielen, warum und wie sich der Kindsmord zugetragen haben könnte. Dabei wechselt sie zwischen Konjunktiv und Indikativ, mitunter innerhalb eines Absatzes und so lange, bis der Leser, vor allem aber Maître Susane zwischen Wahrheit und Dichtung nicht mehr unterscheiden kann, wodurch sie nicht nur in den Fall hineingezogen wird. Sie selbst wird der Fall. Ihre Intuition steigert sich zur Obsession, ihre Empathie bekommt wahnhafte Züge. So entsteht das Porträt einer Frau, die nur aus Innenleben zu bestehen scheint. Und deren Äußeres entsprechend schwach gezeichnet bleibt. Man weiß nicht mehr von ihr, als dass sie groß, kräftig und nicht sonderlich schön ist. Dass ihr Vorname mit "H" beginnt. Und dass sie aus einfachen Verhältnissen stammt.
Diese Wurzeln sind wichtig. Denn welche Rolle die Herkunft des Menschen spielt, ob sie sich leugnen, ändern oder nur annehmen lässt, sind wiederkehrende Leitmotive ihres Erzählens. Marie NDiaye hat sie in vielen ihrer Romane durchgespielt, zuletzt in "Die Chefin" (2017) und "Ladivine" (2014). Auch in dem neuen Buch entfalten die unterschiedlichen sozialen Milieus, aus denen die Figuren stammen, eine Wucht, die ihre Beziehungen oft scheitern lässt. Das gilt für das Ehepaar Principaux ebenso wie für Maître Susane. Und es gilt für ihren fast einzigen Klienten, den Sohn einer alten Weingüterfamilie aus Bordeaux, der sich, wie seine Anwältin glasklar zu erkennen vermag, in die Idee verbissen hat, dass seine Familie früher in die Sklaverei verwickelt war. Nun möchte er seinen Namen ändern und sucht nach Beweisen, was Marie NDiaye die Gelegenheit gibt, mit dieser Nebenfigur eine kleine, aber feine Spitze gegen den politisch korrekten, nicht minder obsessiven Zeitgeist abzuschießen.
Wohin das alles führt? Marie NDiaye lässt es offen. Eine Lösung des Rätsels um ihre Rechtsanwältin bietet sie nicht, dafür blickt sie umso tiefer in die Abgründe, in die sie Maître Susane schickt und in denen diese fast den Verstand verliert. Ist das Wahnsinn? Könnte sein. Doch was wahnsinnig ist, steht in diesem Buch eben sehr gekonnt dahin.
Marie NDiaye: "Die Rache ist mein". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 237 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Durch viele kleine und große Roman-noir-Stellschrauben wird wohlige Lesefolter verbreitet, die die Lektüre zum Genuss macht ... Der makellose klassische Stil, mit dem [NDiaye] ins Herz der unausweichlichen Dunkelheit vordringt, macht ihre Figuren groß und tragisch.« Iris Radisch DIE ZEIT 20211104