Die deutsche Außenpolitik, jahrzehntelang erfolgsverwöhnt, verlangt nach neuer Orientierung. Denn zahlreiche außenpolitische Krisen gefährden die Stabilität Deutschlands in Politik und Gesellschaft. Das Hauptproblem ist der geringe Rückhalt für außenpolitische Entscheidungen in der Bevölkerung, und damit ein Mangel an Legitimation. Zudem stehen die deutschen auswärtigen Beziehungen unter dramatisch gewandelten Einflüssen: neue Technologien, neue starke und autoritäre Player auf internationalem Parkett sowie neue Öffentlichkeiten in unserer Gesellschaft.
Emotionalisierte Öffentlichkeiten treiben die Politik heute massiv vor sich her: zum Beispiel die globalisierungskritische Attac-Bewegung oder Pegida. Hier fordern Bürger mehr Teilhabe an der Politik. Eine Lösung sieht Volker Stanzel in der Öffnung des Staats für die Mitverantwortung von Bürgerinnen und Bürgern - auch in der Europäischen Union. Die Politik muss über die traditionellen Mittel staatlichen Handelns hinausgehen, die neuen Öffentlichkeiten ansprechen und so eine größere Legitimation für außenpolitisches Handeln erreichen.
Emotionalisierte Öffentlichkeiten treiben die Politik heute massiv vor sich her: zum Beispiel die globalisierungskritische Attac-Bewegung oder Pegida. Hier fordern Bürger mehr Teilhabe an der Politik. Eine Lösung sieht Volker Stanzel in der Öffnung des Staats für die Mitverantwortung von Bürgerinnen und Bürgern - auch in der Europäischen Union. Die Politik muss über die traditionellen Mittel staatlichen Handelns hinausgehen, die neuen Öffentlichkeiten ansprechen und so eine größere Legitimation für außenpolitisches Handeln erreichen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2019Außenpolitik als Innenpolitik
Ratschläge eines Diplomaten für die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik
Schon so mancher Krieg wurde an der Heimatfront verloren - logistisch, wirtschaftlich, nicht zuletzt politisch. Von der Antike an ist die Kriegsgeschichte voll an Beispielen. Sie ziehen sich bis in die Gegenwart - Vietnam und Irak sind hier nur die bekannteren Fälle. Auch friedlichere Versuche der Durchsetzung des Willens einer Regierung gegenüber einer anderen oder auch von mehreren Regierungen gegenüber einer oder mehreren anderen sind oftmals gescheitert, wenn es keine ausreichende Unterstützung daheim gab. Über einen längeren Zeitraum hinweg konnte bislang nur derjenige außen- und sicherheitspolitisch erfolgreich sein, der sein Denken und Handeln innenpolitisch absicherte. Diese Erfahrung machen über kurz oder lang auch undemokratische Regierungsformen. Für Demokratien gilt dies umso mehr.
Welche Folgen es hat oder haben kann, wenn man diese historischen Lehren ignoriert, lässt sich bei Volker Stanzel verinnerlichen. Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der an der Stiftung Wissenschaft und Politik forscht und an der Hertie School of Governance unterrichtet, kommt aus der politischen Praxis: Unter anderem war er Politischer Direktor des Auswärtigen Amtes sowie Botschafter in Peking und Tokio. Entsprechend in der Realität geschult wirkt sein Blick auf Politik und Diplomatie.
Selten dürften derart nüchtern und pointiert zugleich wie bei Stanzel die Entwicklungen in der deutschen und europäischen Außenpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beschrieben worden sein: Die Macht der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion während des Kalten Krieges sieht er als so solide gegründet, dass kein Europäer mehr zu sein habe hoffen dürfen als Verbündeter einer der beiden Seiten und vielleicht Kommentator. In dem Winkel der Weltpolitik, der nun für Jahrzehnte Schauplatz europäischer Außenpolitik geworden sei, habe man mehr oder weniger lustvoll mit neuen Ideen experimentieren können. Die europäische Einigung - nach so vielen vergeblichen Versuchen, sie im Dienst der Ausdehnung von Herrschaft mit bewaffneter Gewalt zu erreichen - war in Stanzels Augen ein Ergebnis solcher Experimente. Ein anderes sei die Orientierung europäischer Regierungen an der Suche nach multilateraler Übereinstimmung gewesen.
Im Fall der Bundesrepublik verkörpern derlei Experimente nach Stanzels Definition vor allem Adenauers Politik der Westbindung und der Aussöhnung sowie Brandts Entspannungs- und Ostpolitik. Diese Politik habe Deutschland schließlich zurück auf die Bühne der Weltpolitik geführt - und mit ihm ganz Europa, denn der Fall des Eisernen Vorhangs und die grell aufscheinende Implosion des Sowjetblocks hätten die Welt als Ganzes verändert.
Diese westliche Erfolgsgeschichte bildet gleichsam die Folie, vor deren Hintergrund bei Stanzel überaus deutlich wird, warum die gegenwärtige Außenpolitik Deutschlands auf immer mehr Beobachter ratlos bis orientierungslos wirkt. Ihm geht es darum, zu beleuchten, welche Konsequenzen ältere außenpolitische Erfolge wie die der Bundesrepublik für jüngere Entwicklungen haben können: Menschen lernten aus Erfolgen wie aus Misserfolgen. Wenn aber die Erfolge geradezu einzigartig seien, dann liege es nahe, die zugrundeliegende politische Strategie konsequent weiter anzuwenden - vielleicht so lange, bis der Krug zu lang zum Brunnen gegangen sei. Es solle daher niemanden verwundern, wenn Deutschland sich im international mit Beifall bedachten Glückszustand auch weiter wie bisher verhalten habe.
Die erste Gefahr, die Stanzel dabei treffsicher ausmacht, ist die der Selbstüberschätzung: Schon wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, im ehemaligen Jugoslawien, habe sich gezeigt, dass es ganze Völker gab, die nun lieber alte Rechnungen begleichen wollten, als sich den etablierten KSZE-Mechanismen zur friedlichen Konfliktlösung anzuvertrauen. Der Kalte Krieg war zwar zu Ende, aber die Welt war kälter geworden. Die diese Entwicklung ignorierende Selbstüberschätzung, die Stanzel für ein Resultat der vier Jahrzehnte Geschichte der alten Bundesrepublik hält, könne nun zur für den Erfolgreichen typischen Arroganz verführen. Verbunden mit der Fehleranfälligkeit, die er als die zweite neue Gefahr erkennt, führe dies hinein in die heutige gefährliche Krisenlandschaft - und in ein gerütteltes Maß an Ratlosigkeit.
Wie ist ihr zu begegnen? Aus seinen langjährigen Beobachtungen deutscher und europäischer Außenpolitik leitet Stanzel Schlussfolgerungen für eine moderne Außenpolitik und generell für Politik in Zeiten zerfallender Öffentlichkeit und neuer gesellschaftlicher Verschiebungen ab. Zwar stellen sich auch für ihn die traditionellen außenpolitischen Fragen weiter, etwa nach den Befugnissen der Europäischen Kommission, der Rolle der Vereinigten Staaten im transatlantischen Bündnis, den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Aber die Rahmenbedingungen, in denen diese Fragen zu beantworten sind, haben sich nach Stanzels Analyse stark verändert: Die Bundesrepublik unterhält Beziehungen zu mehr Staaten als je zuvor. Neben international arbeitenden Organisationen und Unternehmen erzwingen die digitalen Verknüpfungen Veränderungen bei der Gestaltung von Politik. Und nicht zuletzt: Immer neue Teile der Öffentlichkeit mit jeweils ganz eigenen Interessen wollen Politik im Allgemeinen und Außenpolitik im Besonderen beeinflussen. Diese Kräfte wirken nach Stanzels Einschätzung allmählich viel stärker als die traditionellen.
Als Realist aus der Praxis verdammt er dies nicht, sondern versucht, damit umzugehen. Er mahnt, Regierungen müssten verstehen, wie sehr heute Politik insgesamt, und damit auch Außenpolitik, von Plattformen der Zivilgesellschaft aus mitbestimmt werde, die zwar nicht demokratisch legitimiert im traditionellen Sinn seien, aber beanspruchten, für höhere Interessen zu sprechen, sei es beim Klimaschutz oder bei der Einschätzung Europas. Folglich geht es für ihn heute nicht mehr nur um die Wirkung einer außenpolitischen Maßnahme jenseits der Grenzen. Heute müsse das Umfeld eines Problems weit über den Rahmen von "Politik" hinaus mitbedacht werden.
Als einen Fall, der durch und durch typisch sei für die Fragen, mit denen Außenpolitik heute zu tun habe, bezeichnet er die Flüchtlingskrise 2015. An ihr führt er vor Augen, dass erst dann ein neuer gesellschaftlicher Konsens möglich sein wird, der Politik trägt, wenn Wege gefunden werden, der Außenpolitik einen stärkeren Rückhalt der Bürger zu sichern. Denn auch hier gilt: Schon so mancher außenpolitische Konflikt wurde an der innenpolitischen Front verloren.
THOMAS SPECKMANN
Volker Stanzel: Die ratlose Außenpolitik und warum sie den Rückhalt der Gesellschaft braucht.
J.H.W. Dietz Nachf. Verlag, Bonn 2019. 255 S., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ratschläge eines Diplomaten für die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik
Schon so mancher Krieg wurde an der Heimatfront verloren - logistisch, wirtschaftlich, nicht zuletzt politisch. Von der Antike an ist die Kriegsgeschichte voll an Beispielen. Sie ziehen sich bis in die Gegenwart - Vietnam und Irak sind hier nur die bekannteren Fälle. Auch friedlichere Versuche der Durchsetzung des Willens einer Regierung gegenüber einer anderen oder auch von mehreren Regierungen gegenüber einer oder mehreren anderen sind oftmals gescheitert, wenn es keine ausreichende Unterstützung daheim gab. Über einen längeren Zeitraum hinweg konnte bislang nur derjenige außen- und sicherheitspolitisch erfolgreich sein, der sein Denken und Handeln innenpolitisch absicherte. Diese Erfahrung machen über kurz oder lang auch undemokratische Regierungsformen. Für Demokratien gilt dies umso mehr.
Welche Folgen es hat oder haben kann, wenn man diese historischen Lehren ignoriert, lässt sich bei Volker Stanzel verinnerlichen. Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der an der Stiftung Wissenschaft und Politik forscht und an der Hertie School of Governance unterrichtet, kommt aus der politischen Praxis: Unter anderem war er Politischer Direktor des Auswärtigen Amtes sowie Botschafter in Peking und Tokio. Entsprechend in der Realität geschult wirkt sein Blick auf Politik und Diplomatie.
Selten dürften derart nüchtern und pointiert zugleich wie bei Stanzel die Entwicklungen in der deutschen und europäischen Außenpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beschrieben worden sein: Die Macht der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion während des Kalten Krieges sieht er als so solide gegründet, dass kein Europäer mehr zu sein habe hoffen dürfen als Verbündeter einer der beiden Seiten und vielleicht Kommentator. In dem Winkel der Weltpolitik, der nun für Jahrzehnte Schauplatz europäischer Außenpolitik geworden sei, habe man mehr oder weniger lustvoll mit neuen Ideen experimentieren können. Die europäische Einigung - nach so vielen vergeblichen Versuchen, sie im Dienst der Ausdehnung von Herrschaft mit bewaffneter Gewalt zu erreichen - war in Stanzels Augen ein Ergebnis solcher Experimente. Ein anderes sei die Orientierung europäischer Regierungen an der Suche nach multilateraler Übereinstimmung gewesen.
Im Fall der Bundesrepublik verkörpern derlei Experimente nach Stanzels Definition vor allem Adenauers Politik der Westbindung und der Aussöhnung sowie Brandts Entspannungs- und Ostpolitik. Diese Politik habe Deutschland schließlich zurück auf die Bühne der Weltpolitik geführt - und mit ihm ganz Europa, denn der Fall des Eisernen Vorhangs und die grell aufscheinende Implosion des Sowjetblocks hätten die Welt als Ganzes verändert.
Diese westliche Erfolgsgeschichte bildet gleichsam die Folie, vor deren Hintergrund bei Stanzel überaus deutlich wird, warum die gegenwärtige Außenpolitik Deutschlands auf immer mehr Beobachter ratlos bis orientierungslos wirkt. Ihm geht es darum, zu beleuchten, welche Konsequenzen ältere außenpolitische Erfolge wie die der Bundesrepublik für jüngere Entwicklungen haben können: Menschen lernten aus Erfolgen wie aus Misserfolgen. Wenn aber die Erfolge geradezu einzigartig seien, dann liege es nahe, die zugrundeliegende politische Strategie konsequent weiter anzuwenden - vielleicht so lange, bis der Krug zu lang zum Brunnen gegangen sei. Es solle daher niemanden verwundern, wenn Deutschland sich im international mit Beifall bedachten Glückszustand auch weiter wie bisher verhalten habe.
Die erste Gefahr, die Stanzel dabei treffsicher ausmacht, ist die der Selbstüberschätzung: Schon wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, im ehemaligen Jugoslawien, habe sich gezeigt, dass es ganze Völker gab, die nun lieber alte Rechnungen begleichen wollten, als sich den etablierten KSZE-Mechanismen zur friedlichen Konfliktlösung anzuvertrauen. Der Kalte Krieg war zwar zu Ende, aber die Welt war kälter geworden. Die diese Entwicklung ignorierende Selbstüberschätzung, die Stanzel für ein Resultat der vier Jahrzehnte Geschichte der alten Bundesrepublik hält, könne nun zur für den Erfolgreichen typischen Arroganz verführen. Verbunden mit der Fehleranfälligkeit, die er als die zweite neue Gefahr erkennt, führe dies hinein in die heutige gefährliche Krisenlandschaft - und in ein gerütteltes Maß an Ratlosigkeit.
Wie ist ihr zu begegnen? Aus seinen langjährigen Beobachtungen deutscher und europäischer Außenpolitik leitet Stanzel Schlussfolgerungen für eine moderne Außenpolitik und generell für Politik in Zeiten zerfallender Öffentlichkeit und neuer gesellschaftlicher Verschiebungen ab. Zwar stellen sich auch für ihn die traditionellen außenpolitischen Fragen weiter, etwa nach den Befugnissen der Europäischen Kommission, der Rolle der Vereinigten Staaten im transatlantischen Bündnis, den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Aber die Rahmenbedingungen, in denen diese Fragen zu beantworten sind, haben sich nach Stanzels Analyse stark verändert: Die Bundesrepublik unterhält Beziehungen zu mehr Staaten als je zuvor. Neben international arbeitenden Organisationen und Unternehmen erzwingen die digitalen Verknüpfungen Veränderungen bei der Gestaltung von Politik. Und nicht zuletzt: Immer neue Teile der Öffentlichkeit mit jeweils ganz eigenen Interessen wollen Politik im Allgemeinen und Außenpolitik im Besonderen beeinflussen. Diese Kräfte wirken nach Stanzels Einschätzung allmählich viel stärker als die traditionellen.
Als Realist aus der Praxis verdammt er dies nicht, sondern versucht, damit umzugehen. Er mahnt, Regierungen müssten verstehen, wie sehr heute Politik insgesamt, und damit auch Außenpolitik, von Plattformen der Zivilgesellschaft aus mitbestimmt werde, die zwar nicht demokratisch legitimiert im traditionellen Sinn seien, aber beanspruchten, für höhere Interessen zu sprechen, sei es beim Klimaschutz oder bei der Einschätzung Europas. Folglich geht es für ihn heute nicht mehr nur um die Wirkung einer außenpolitischen Maßnahme jenseits der Grenzen. Heute müsse das Umfeld eines Problems weit über den Rahmen von "Politik" hinaus mitbedacht werden.
Als einen Fall, der durch und durch typisch sei für die Fragen, mit denen Außenpolitik heute zu tun habe, bezeichnet er die Flüchtlingskrise 2015. An ihr führt er vor Augen, dass erst dann ein neuer gesellschaftlicher Konsens möglich sein wird, der Politik trägt, wenn Wege gefunden werden, der Außenpolitik einen stärkeren Rückhalt der Bürger zu sichern. Denn auch hier gilt: Schon so mancher außenpolitische Konflikt wurde an der innenpolitischen Front verloren.
THOMAS SPECKMANN
Volker Stanzel: Die ratlose Außenpolitik und warum sie den Rückhalt der Gesellschaft braucht.
J.H.W. Dietz Nachf. Verlag, Bonn 2019. 255 S., 26,- [Euro].
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