Oskar Voxlauer ist auf der Flucht vor seiner Vergangenheit, vor allem vor seinen traumatischen Erinnerungen an die Kämpfe des Ersten Weltkrieges an der italienischen Front 1917. Er hat sich in die österreichische Kleinstadt zurückgezogen, in der er aufgewachsen ist, und lebt dort in den Bergen, entschlossen, eine verborgene, einsame Existenz zu führen. Aber es ist das Jahr 1938, und er kann den wachsenden Spannungen in seinem Heimatland nicht ausweichen. Der Anschluss Österreichs steht dicht bevor, und die Nazis sind schon da - auch in dieser abgelegenen Kleinstadt. Voxlauers Wohltäter, ein jüdischer Gasthausbesitzer, der ihm die Hütte in den Bergen gegeben hat, wird von den neuen Machthabern in den Ruin getrieben. Voxlauer selbst gerät in Gefahr, und das Einzige, was ihn zunächst rettet, ist der Respekt der Gemeinde vor seinen Eltern. Zugleich zieht ihn seine wachsende Liebe zu der geheimnisvollen Else Bauer ins Leben der Stadt zurück. Else Bauer aber ist die Kusine des neuen SS-Führers in der Kleinstadt...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.12.2002Aus den Talentgärten
John Wray entdeckt Habsburg und „Die rechte Hand des Schlafes”
In welchem Winkel Brooklyns mag der junge Mann hausen: im Schatten der unvergänglich eleganten Brooklyn Bridge, in einer der Häuserzeilen links und rechts der eng aneinander gedrängten Steine des jüdischen Friedhofs oder der kilometerlangen Galerien von Kreuzen auf dem katholischen Gottesacker, dort wo einst die Einwanderer aus Galizien und aus Sizilien zuhaus waren, ehe sie der Invasion von Afro-Amerikanern wichen? Oder in Bedford Stuivesandt, dem einstigen Kleinbürgerparadies, das zur Drogenhölle verkam und sich nun mühsam wieder herauszuputzen versucht?
Ist es wichtig? Vielleicht. Doch. Unsereiner will wissen, aus welchem Quartier der vielen Völkerschaften, Religionen, Kulturen sich dieser junge Mensch hinüberträumte in das österreichische Nest, aus dem seine Mutter kam, die putzige Kleinstadt, in der er – obschon in Washington D.C. 1971 zur Welt gekommen – einige Jahre lang in die Schule ging, wo er jeden Blumenkasten und Dachgiebel, jedes Gewässer und jeden entlegenen Berghof zu kennen scheint.
Ja, es ist wichtig, dass ein phantasiebegabter und historisch hellhöriger Jungliterat mitten in Brooklyn die Welt des untergehenden Habsburger Reiches heraufzubeschwören vermag, den Taumel der Räte-Revolution in Budapest, das karge Kleinbauernidyll im Umfeld der ukrainischen Stadt Tscherkassy, in dem ein halb verhungerter Deserteur von siebzehn Jahren bei der Witwe Anna Aufnahme, Arbeit, Essen und die erste erfüllte Liebe des Herzens und des Fleisches fand. In der letzten Schlacht an der Isonzo-Front war er gezwungen, einen Kameraden zu erschießen, dann floh er ostwärts, immer weiter ostwärts, ein enthusiastischer Leninist, kuriert durch das Elend der Kollektivierung, in dem die Kulaken, seine Frau Anna, er selber zu Fronsklaverei, Entmündigung, Entwürdigung und durch Auszehrung zum Tod verurteilt waren, ein Ende, dem er dank eines österreichischen Passes entkam. Rückkehr des geheilten Sowjetmenschen in die fremd gewordene Heimat, in der die völkische Vertrotztheit, das nazistische Verschwörungsgeraune, die dumpfe Gespensterei der Verlangens nach großen Zeiten in den heruntergekommenen Wirtschaften zu rumoren begann.
Ein Hauch von Joseph Roth
Nein, es kann keinen Leser gleichgültig lassen, dass einer der tausend Anfänger, die Jahr um Jahr aus den üppig wuchernden Talentgärten Amerikas heranwachsen, seinen ersten Roman mit einem Hauch von Joseph Roth, von Sándor Márai, von Robert Musil und – die erstaunlichste dieser Annäherungen – des immer noch halb verborgenen Schweizers Robert Walser zu akzentuieren versteht (von ihm zitiert er über zwei Seiten eine der großen kleinen Geschichten).
John Wray hat seinen Roman mit langem Atem und zäher Geduld geformt, zehn Entwürfe zwang er sich ab. Die Sorgsamkeit hat sich gelohnt. Seine Figuren, so sagte er in einem Interview, drückten sich weithin in einer formellen Sprache aus, weil sich meist kein idiomatischer Ausdruck fand, der (für einen historischen Stoff) nicht zu zeitgenössisch, zu amerikanisch oder zu wörtlich aus dem Deutschen herübergeholt sei. Wray hat, soweit es sich aus der Übersetzung von Peter Knecht schließen lässt, das Dilemma brillant bezwungen. Der deutsche Text liest sich, als sei er das Original.
Landschaft, Milieu und Person werden in unseren Tagen nur selten mit solch unaufwändiger Poesie und zugleich mit solch sprödem Realismus beschrieben. Der Held, Oskar Voxlauer, verliebt sich nach der Rückkehr aus dem Krieg in die schöne und seelisch feiner geäderte Bürgerfrau Else. Wrays Darstellung der Liebe kann man als Protest gegen die Monotonie des sexuellen Naturalismus verstehen. Man ist dankbar für den Takt, mit dem er die beiden Überwältigungen in Voxlauers Wanderung durch die Zeit skizziert – und in der Andeutung umso lebensvoller aufleuchten lässt. Anna und Else sind erwachsene, eigenwillige Frauen, mit einem Wort: Personen, die es auch sind und keiner der üblichen Stereotypen gehorchen.
Hellwacher Lehrerblick
Die Konstruktion des Buches ist komplex. Die Handlung vollzieht sich auf zwei ineinander verschränkten Zeitebenen: Als Ich-Erzählung berichtet Oskar Voxlauer vom Ersten Weltkrieg, der Desertion, der kommunistischen Lockung, der Desillusionierung durch die Realität des Stalinismus; aus der Perspektive des Autors beschrieben. Der Autor erzählt Voxlauers tastende Heimkehr, seine einsame Existenz als Wildhüter droben in den Bergen, seine Begegnung mit einer Sekte wunderlicher Nacktläufer und ihrem durchtriebenen Guru, die Heimsuchungen des „Anschlusses”, der Elses „illegalen”, nach Berlin emigrierten Nazi-Vetter Kurt wieder in sein Heimatstädtchen zurückbefördert. Dem Hauptsturmführer räumt John Wray eine eigene Retrospektive ein: dies gibt ihm die Chance für eine dramatische Reportage über die brutale und zugleich so possenhafte Revolte gegen den austrofaschistischen Kanzler Dollfuß und seine Ermordung, für die Schilderung einer Audienz beim Reichsführer SS, an dem Kurt einen „kurzsichtig spähenden, hellwachen Lehrerblick” beobachtete. In diesem Zusammenhang unterläuft Wray ein kleiner Fehler: 1934 war Walter Schellenberg noch ein kleiner Zuträger des SD; zum Chef des Auslandsnachrichtendienstes im „Reichssicherheitshauptamt” stieg er erst 1941 auf.
Dem Nazi-Vetter Kurt traute man es durchaus zu, dass er Oskar Voxlauer, den Konkurrenten um Elsas Liebe, am Ende aus dem Weg räumen würde. Indes, er entschloss sich, die Bindung der beiden zu respektieren. Er selber hatte sich die „Heimkehr ins Reich” anders gedacht: keineswegs als die Besetzung der entscheidenden Machtpositionen durch die braunen Preußen. So stirbt er an den Folgen eines – vermutlich inszenierten – Motorrad-Unfalls. Damit dürfte Kurt zu einem der wenigen halbwegs differenziert und komplex präsentierten Nazis in der amerikanischen Literatur avanciert sein. (Doch Wray vergisst darüber, welche Prominenz die österreichische SS-Elite im Terrorapparat des Dritten Reiches wie in der Vernichtungsmaschine der Todeslager gewann.)
Und Voxlauer, der Rebell? Und Else, dieser aufsässige Geist? „Sie seufzte: ,Wir werden schön brav sein und keinen Ärger machen. Alle beide‘.. . Er holte tief Luft. ,Ja, lassen wir sie.‘ Er fröstelte. ,Sollen sie sehen, wie sie zurechtkommen.‘ Else sagte nichts. Sie schmiegte sich an ihn und zog den Mantel dichter um sie... Sie wussten, dass der Krieg näher kam, aber es war ihnen gleichgültig.” Sie hüllten sich, wie die Mehrheit ihrer Landsleute, ins schützende Gewand schweigender Mitläuferei. Der Überlebenswille siegte.
Ein grandioser Roman. Und langsam, langsam entschlüsselt sich das Rätsel, das der Titel aufgibt: die „rechte Hand des Schlafes” gehört dem Sensenmann, der einst auch ein Meister aus Österreich war.
KLAUS HARPPRECHT
JOHN WRAY: Die rechte Hand des Schlafes. Roman. Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Berlin Verlag, Berlin 2002. 382 Seiten, 22 Euro.
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John Wray entdeckt Habsburg und „Die rechte Hand des Schlafes”
In welchem Winkel Brooklyns mag der junge Mann hausen: im Schatten der unvergänglich eleganten Brooklyn Bridge, in einer der Häuserzeilen links und rechts der eng aneinander gedrängten Steine des jüdischen Friedhofs oder der kilometerlangen Galerien von Kreuzen auf dem katholischen Gottesacker, dort wo einst die Einwanderer aus Galizien und aus Sizilien zuhaus waren, ehe sie der Invasion von Afro-Amerikanern wichen? Oder in Bedford Stuivesandt, dem einstigen Kleinbürgerparadies, das zur Drogenhölle verkam und sich nun mühsam wieder herauszuputzen versucht?
Ist es wichtig? Vielleicht. Doch. Unsereiner will wissen, aus welchem Quartier der vielen Völkerschaften, Religionen, Kulturen sich dieser junge Mensch hinüberträumte in das österreichische Nest, aus dem seine Mutter kam, die putzige Kleinstadt, in der er – obschon in Washington D.C. 1971 zur Welt gekommen – einige Jahre lang in die Schule ging, wo er jeden Blumenkasten und Dachgiebel, jedes Gewässer und jeden entlegenen Berghof zu kennen scheint.
Ja, es ist wichtig, dass ein phantasiebegabter und historisch hellhöriger Jungliterat mitten in Brooklyn die Welt des untergehenden Habsburger Reiches heraufzubeschwören vermag, den Taumel der Räte-Revolution in Budapest, das karge Kleinbauernidyll im Umfeld der ukrainischen Stadt Tscherkassy, in dem ein halb verhungerter Deserteur von siebzehn Jahren bei der Witwe Anna Aufnahme, Arbeit, Essen und die erste erfüllte Liebe des Herzens und des Fleisches fand. In der letzten Schlacht an der Isonzo-Front war er gezwungen, einen Kameraden zu erschießen, dann floh er ostwärts, immer weiter ostwärts, ein enthusiastischer Leninist, kuriert durch das Elend der Kollektivierung, in dem die Kulaken, seine Frau Anna, er selber zu Fronsklaverei, Entmündigung, Entwürdigung und durch Auszehrung zum Tod verurteilt waren, ein Ende, dem er dank eines österreichischen Passes entkam. Rückkehr des geheilten Sowjetmenschen in die fremd gewordene Heimat, in der die völkische Vertrotztheit, das nazistische Verschwörungsgeraune, die dumpfe Gespensterei der Verlangens nach großen Zeiten in den heruntergekommenen Wirtschaften zu rumoren begann.
Ein Hauch von Joseph Roth
Nein, es kann keinen Leser gleichgültig lassen, dass einer der tausend Anfänger, die Jahr um Jahr aus den üppig wuchernden Talentgärten Amerikas heranwachsen, seinen ersten Roman mit einem Hauch von Joseph Roth, von Sándor Márai, von Robert Musil und – die erstaunlichste dieser Annäherungen – des immer noch halb verborgenen Schweizers Robert Walser zu akzentuieren versteht (von ihm zitiert er über zwei Seiten eine der großen kleinen Geschichten).
John Wray hat seinen Roman mit langem Atem und zäher Geduld geformt, zehn Entwürfe zwang er sich ab. Die Sorgsamkeit hat sich gelohnt. Seine Figuren, so sagte er in einem Interview, drückten sich weithin in einer formellen Sprache aus, weil sich meist kein idiomatischer Ausdruck fand, der (für einen historischen Stoff) nicht zu zeitgenössisch, zu amerikanisch oder zu wörtlich aus dem Deutschen herübergeholt sei. Wray hat, soweit es sich aus der Übersetzung von Peter Knecht schließen lässt, das Dilemma brillant bezwungen. Der deutsche Text liest sich, als sei er das Original.
Landschaft, Milieu und Person werden in unseren Tagen nur selten mit solch unaufwändiger Poesie und zugleich mit solch sprödem Realismus beschrieben. Der Held, Oskar Voxlauer, verliebt sich nach der Rückkehr aus dem Krieg in die schöne und seelisch feiner geäderte Bürgerfrau Else. Wrays Darstellung der Liebe kann man als Protest gegen die Monotonie des sexuellen Naturalismus verstehen. Man ist dankbar für den Takt, mit dem er die beiden Überwältigungen in Voxlauers Wanderung durch die Zeit skizziert – und in der Andeutung umso lebensvoller aufleuchten lässt. Anna und Else sind erwachsene, eigenwillige Frauen, mit einem Wort: Personen, die es auch sind und keiner der üblichen Stereotypen gehorchen.
Hellwacher Lehrerblick
Die Konstruktion des Buches ist komplex. Die Handlung vollzieht sich auf zwei ineinander verschränkten Zeitebenen: Als Ich-Erzählung berichtet Oskar Voxlauer vom Ersten Weltkrieg, der Desertion, der kommunistischen Lockung, der Desillusionierung durch die Realität des Stalinismus; aus der Perspektive des Autors beschrieben. Der Autor erzählt Voxlauers tastende Heimkehr, seine einsame Existenz als Wildhüter droben in den Bergen, seine Begegnung mit einer Sekte wunderlicher Nacktläufer und ihrem durchtriebenen Guru, die Heimsuchungen des „Anschlusses”, der Elses „illegalen”, nach Berlin emigrierten Nazi-Vetter Kurt wieder in sein Heimatstädtchen zurückbefördert. Dem Hauptsturmführer räumt John Wray eine eigene Retrospektive ein: dies gibt ihm die Chance für eine dramatische Reportage über die brutale und zugleich so possenhafte Revolte gegen den austrofaschistischen Kanzler Dollfuß und seine Ermordung, für die Schilderung einer Audienz beim Reichsführer SS, an dem Kurt einen „kurzsichtig spähenden, hellwachen Lehrerblick” beobachtete. In diesem Zusammenhang unterläuft Wray ein kleiner Fehler: 1934 war Walter Schellenberg noch ein kleiner Zuträger des SD; zum Chef des Auslandsnachrichtendienstes im „Reichssicherheitshauptamt” stieg er erst 1941 auf.
Dem Nazi-Vetter Kurt traute man es durchaus zu, dass er Oskar Voxlauer, den Konkurrenten um Elsas Liebe, am Ende aus dem Weg räumen würde. Indes, er entschloss sich, die Bindung der beiden zu respektieren. Er selber hatte sich die „Heimkehr ins Reich” anders gedacht: keineswegs als die Besetzung der entscheidenden Machtpositionen durch die braunen Preußen. So stirbt er an den Folgen eines – vermutlich inszenierten – Motorrad-Unfalls. Damit dürfte Kurt zu einem der wenigen halbwegs differenziert und komplex präsentierten Nazis in der amerikanischen Literatur avanciert sein. (Doch Wray vergisst darüber, welche Prominenz die österreichische SS-Elite im Terrorapparat des Dritten Reiches wie in der Vernichtungsmaschine der Todeslager gewann.)
Und Voxlauer, der Rebell? Und Else, dieser aufsässige Geist? „Sie seufzte: ,Wir werden schön brav sein und keinen Ärger machen. Alle beide‘.. . Er holte tief Luft. ,Ja, lassen wir sie.‘ Er fröstelte. ,Sollen sie sehen, wie sie zurechtkommen.‘ Else sagte nichts. Sie schmiegte sich an ihn und zog den Mantel dichter um sie... Sie wussten, dass der Krieg näher kam, aber es war ihnen gleichgültig.” Sie hüllten sich, wie die Mehrheit ihrer Landsleute, ins schützende Gewand schweigender Mitläuferei. Der Überlebenswille siegte.
Ein grandioser Roman. Und langsam, langsam entschlüsselt sich das Rätsel, das der Titel aufgibt: die „rechte Hand des Schlafes” gehört dem Sensenmann, der einst auch ein Meister aus Österreich war.
KLAUS HARPPRECHT
JOHN WRAY: Die rechte Hand des Schlafes. Roman. Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Berlin Verlag, Berlin 2002. 382 Seiten, 22 Euro.
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