Prinz Vogelfrei
In seinem neuen Roman «Die rechtschaffenen Mörder» stellt Ingo Schulze einen ebenso kauzigen wie charismatischen Antiquar in den Mittelpunkt. Ein Setting also, das bei einer ‹literarischen› Leserschaft durchweg angenehme Assoziationen auslösen dürfte, dreht sich hier doch alles um
anspruchsvolle, klassische Literatur. Handlungsort ist Dresden, zeitlich ist der Roman vor und nach…mehrPrinz Vogelfrei
In seinem neuen Roman «Die rechtschaffenen Mörder» stellt Ingo Schulze einen ebenso kauzigen wie charismatischen Antiquar in den Mittelpunkt. Ein Setting also, das bei einer ‹literarischen› Leserschaft durchweg angenehme Assoziationen auslösen dürfte, dreht sich hier doch alles um anspruchsvolle, klassische Literatur. Handlungsort ist Dresden, zeitlich ist der Roman vor und nach der Wende angesiedelt, soziales Milieu ist das Bildungsbürgertum. Neben dem Preisträger der diesjährigen Leipziger Buchmesse, Lutz Seilers «Stern 111», ist dies von den fünf Büchern der Shortlist ein zweiter Roman mit Wende-Thematik, die auch nach dreißig Jahren literarisch noch längst nicht abgearbeitet ist.
Im ersten, knapp zwei Drittel des dreiteiligen Romans umfassenden Teil, wird die Geschichte von Norbert Paulini erzählt, stimmig beginnend mit den Worten «Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar …» Von seiner früh verstorbenen Mutter hatte Norbert nicht nur die Leidenschaft für Bücher geerbt, sondern auch den umfangreichen Bestand ihres Antiquariats. Nach einer Buchhändlerlehre eröffnet er 1977 mit dem sorgsam gehüteten Bücherschatz, der ihn schon als Kind ans Lesen gebracht hat, in der elterlichen Wohnung sein eigenes Antiquariat. Schnell wird er in den einschlägigen bibliophilen Kreisen bekannt und erwirbt sich durch seine immense Belesenheit einen geradezu legendären Ruf. Zu welchem nicht wenig auch sein literarischer Salon beiträgt, der regelmäßig Intellektuelle aller Couleur zu Lesungen und zum Fachsimpeln bei ihm versammelt. Nach der Wende bricht der Markt für seine antiquarischen Schätze schlagartig zusammen, die Geschäfte laufen schlecht, er muss Gelegenheitsjobs annehmen und zieht schließlich sogar in die sächsische Provinz. Seinem Metier jedoch bleibt er unbeirrt treu, er stellt sich ganz auf Internethandel um. Der eigensinnige Kauz vereinsamt immer mehr und zieht sich verbittert in die innere Emigration zurück. Am Ende befragen ihn zwei Kriminalbeamte, wobei vage ein rechtsradikaler Hintergrund angedeutet wird, Verhör und erster Teil enden dann aber mitten im Satz, alles bleibt offen. Der bisher kaum erkennbare personale Erzähler tritt im zweiten Teil dann deutlich als Ich-Erzähler namens Schultze (sic) auf, - mit tz allerdings! Er berichtet jetzt aus dieser neuen Perspektive über den Eigenbrödler, erzählt von der Entstehung seiner Paulini-Novelle, von seinen Gesprächen mit dem Antiquar und von seiner Liaison mit dessen Lebensgefährtin. Anschließend erzählt im kurzen dritten Teil Schultzes Lektorin von ihren eigenen Recherchen über den Helden der noch nicht veröffentlichten Novelle, eine zweifache Metafiktion also.
Diese kunstvolle Verschachtelung dreier Erzählebenen und ebenso vieler Genres, vom Bildungsroman zum Künstlerroman bis zum Krimi, hebt «Die rechtschaffenen Mörder» deutlich ab vom konventionellen Erzählgestus. Norbert Paulini erinnert als Figur an den Magister Tinius, Inbegriff der Bibliomanie, auf den auch eine Romanfigur namens Gräbendorf hinweist. Eine der Stärken dieses Buches ist jedenfalls seine üppige Intertextualität, wobei mich, soviel Anekdotisches sei erlaubt, gleich zu Beginn die Erwähnung von Gottfried Kellers «Der grüne Heinrich» erfreut hat, den ich unmittelbar zuvor gelesen und rezensiert habe. Paulini nämlich weist in einem Gespräch darauf hin, Thomas Mann habe damit einige Schwierigkeiten gehabt, weil ihm nicht bewusst war, dass es zwei Fassungen davon gibt, in denen er wohl abwechselnd immer wieder mal gelesen hat.
Ärgerlich ist auch hier mal wieder der Klappentext, der vom Revoluzzer spricht und von fremdenfeindlichen Ausschreitungen. Prinz Vogelfrei, wie Paulini sich nach dem Gedicht Nietzsches selbst nennt, liefert nämlich für den Rechtsruck in Ostdeutschland keinerlei Erklärung. «Die Dichter müssen lügen» ist Paulinis Credo, der intertextuell ambitionierte Roman über ihn aber scheitert, grandios überdeterminiert, an seiner eher verwirrenden Vieldeutigkeit.