Die Zeit der Reformation ist noch immer eines der wichtigsten Themen geschichtswissenschaftlicher Lehre und Forschung. Olaf Mörke vermittelt einen straffen Überblick über die ereignisgeschichtlichen und strukturellen Elemente des Reformationsprozesses in Deutschland bis 1555 und macht dabei deutlich, wie wichtig die Verklammerung theologie- und geistesgeschichtlicher, politik- und sozialgeschichtlicher Impulse ist. In seinem Forschungsüberblick entfaltet Mörke die wesentlichen Entwicklungen der Reformationsgeschichtsforschung von Ranke bis in die Gegenwart. Der bibliographische Teil ist für alle Studierenden ein wichtiges Hilfsmittel; er führt an die bedeutendsten "Klassiker" und erkenntnisleitenden Werke der aktuellen Reformationsforschung heran.
Mörke, Olaf: Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 74). München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2005. ISBN 3-486-55026-8; 174 S.; EUR 19,80.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Matthias Langensteiner, Historisches Institut, Universität Stuttgart
E-Mail:
Die Erforschung der Reformation hat unverändert Konjunktur in der Geschichtswissenschaft. Seit der als Katalysator wirkenden wegweisenden Studie von Bernd Moeller über die städtische Reformation [1] hat sich die Reformationsforschung im Einklang mit der Entwicklung des Gesamtfachs zunehmend sozial- und kulturgeschichtlichen sowie historisch-anthropologischen Fragestellungen zugewandt, die zu einer Vielzahl neuer Erkenntnisse und fruchtbringender Diskurse geführt haben.
Angesichts dieser Entwicklung, die sich auch an einer Flut neuer Publikationen festmachen lässt, mutet das Vorhaben, den ereignis- und strukturgeschichtlichen Verlauf der Reformation in Kombination mit einem Überblick über die Geschichte ihrer Erforschung samt aktueller Tendenzen darzustellen, wahrlich als herkulische Aufgabe an. Olaf Mörke hat dieses schwierige Unterfangen - soviel sei vorweg genommen - durchaus erfolgreich bewältigt.
Das Werk gliedert sich gemäß dem in der Reihe üblichen Aufbau in einen darstellenden Teil, einen Forschungsüberblick und eine bibliographische Auflistung der wichtigsten Quellen und Literatur zum Thema. Mörke begrenzt den Untersuchungszeitraum aus darstellungstechnischen Gründen auf die Jahre von 1517 bis 1555, verweist jedoch gleichzeitig eindringlich darauf, dass sich der Gegenstand Reformation nicht an derartigen Zäsuren, wie sie in diesem Fall die Ablassthesen Luthers und der Augsburger Religionsfrieden bilden, festmachen lasse, sondern von einem "Nebeneinander unterschiedlicher Deutungsmuster von Zeitstrukturen" (S. 2) auszugehen sei. Räumlich bezieht sich die Studie auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als einen sich
"verdichtende(n) politisch-institutionelle(n) Kommunikationsraum" (S.
4), wobei Oberitalien, Böhmen und die Niederlande, die ja ebenfalls dem Reichslehensverband angehörten, ebenso außen vor bleiben wie der gesamteuropäische Zusammenhang - was man bedauern mag, aber durch den knappen Zuschnitts des Bandes gerechtfertigt ist.
Der verlaufsgeschichtliche Teil, überschrieben mit "Der Ereigniskomplex Reformation - die Begegnung von Theologie, Politik und Gesellschaft (1517-1555), ist chronologisch aufgebaut und gliedert sich in vier Phasen. Die erste, die Mörke von 1517 bis 1525 ansetzt, stellt die Personen Luthers und Zwinglis und ihre theologischen Konzepte vor, um anschließend auf deren Rezeption innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Gruppen sowie auf die zunehmende reichspolitische Dimension der "causa Lutheri" einzugehen. Die zweite Phase (1525-1530) setzt mit dem Bauernkrieg ein, der als "Verbindung von Agrarkonflikt und Reformationskonflikt" (S. 35) interpretiert wird, zeichnet dann die Verschärfung der reichspolitischen Gegensätze bis hin zum Augsburger Reichstag von 1530 nach und beleuchtet die gleichzeitig erfolgende allmähliche Institutionalisierung des neuen Glaubens. Die Formierung konfessioneller Blöcke, wie sie sich im Schmalkaldischen und im Nürnberger Bund abzeichnete, die Erfolglosigkeit theologischer und politischer Ausgleichsversuche und die Eskalation des Konflikts im Schmalkaldischen Krieg stehen im Zentrum der dritten Phase von 1531 bis 1548. Die vierte Phase (1552-1555) stellt schließlich in aller Kürze den Weg vom Fürstenkrieg über den Passauer Vertrag bis hin zum Augsburger Religionsfrieden dar. Abschließend wird unter der Überschrift "Die Reformation als Prozess" (S. 64) versucht, die Kohärenz der Handlungsfelder Theologie/Glauben, Politik und Gesellschaft aufzuschlüsseln und Gewichtsverschiebungen zwischen diesen Feldern nachzuweisen.
Dies lenkt den Blick auf die Problematik des enzyklopädischen Überblicksteils. Mörke gibt sich nicht damit zufrieden, eine bloße Darstellung bekannten Wissens zu geben, sondern probt zuweilen den Spagat hin zur Akzentuierung verschiedener Forschungsthesen. So wird beispielsweise der Begriff des "Kommunikationszusammenhang(s)" (S. 5) zur Charakterisierung der Reformation eingeführt; auch in der Folge blitzen hin und wieder kommunikationsgeschichtliche Interpretationsmuster auf, ohne freilich mit letzter Konsequenz entfaltet zu werden. Womöglich wäre es sinnvoller gewesen, derartige noch mitten in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung stehenden Deutungsansätze ausschließlich auf den Forschungsteil zu beschränken.
Der Forschungsüberblick beschäftigt sich seinerseits mit relevanten historiographischen Strömungen der Vergangenheit und der Gegenwart, kommt aber selbstverständlich um gewisse Schwerpunktsetzungen und Einschränkungen nicht herum. Mörke gesteht ein, dass Themenfelder wie die Frage nach dem Einfluss der Reformation auf die Geschlechterverhältnisse oder nach der langfristigen Wirkung der Reformation auf die Entwicklung der strukturellen Verfasstheit des Reichs weitgehend unberücksichtigt bleiben mussten (S. 70).
Einen ersten Komplex innerhalb des Forschungsüberblicks bildet die Frage nach Periodisierung und Epochencharakter der Reformation. Beginnend bei Leopold von Ranke, werden die historiographischen Traditionslinien herausgearbeitet - vor allem der Antagonismus zwischen einem Kontinuitätsmodell, das die Reformation in einen langfristigen Modernisierungsprozess eingebunden sieht, und einem Zäsurmodell, das den umbruchhaften Charakter der Reformationen hervorhob. Daran anschließend referiert Mörke aktuelle Konzepte wie etwa die von Berndt Hamm entworfene "normative Zentrierung" [2], die auf Distanz zu dieser Dichotomie gehen und statt dessen die Multivalenz der Reformation, der sowohl Kontinuität als auch Wandel innewohnte, herausstreichen.
In einem zweiten Block geht der Autor auf die Forschung zu den gesellschaftlich-politischen Strukturen der Reformationszeit ein. Er hält sich hierbei an das hinlänglich bekannte Unterteilungsschema Stadt, Land (bzw. Volk), niederer Adel und Fürsten, wobei es ein wenig verwundert, dass Mörke den meisten Platz ausgerechnet der städtischen Reformation einräumt, die im Anschluss an Moeller zwar im Mittelpunkt vieler innovativer Forschungsansätze stand, seit einigen Jahren aber doch ein wenig an den Rand gerückt ist. Hier wäre es wünschenswert gewesen, eher dem Adel, dessen generelle Erforschung sich in jüngster Zeit mehr und mehr als eigenständiger Forschungszweig zu etablieren beginnt, etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Sehr gelungen und ausführlich ist dagegen der dritte Abschnitt über die
kultur- und kommunikationsgeschichtlichen Aspekte der Reformation. Mörke spannt den Bogen hierbei von der Laienfrömmigkeit über den Antiklerikalismus bis hin zu Medien und Öffentlichkeit und verbindet dies mit wirkungs- und mentalitätsgeschichtlichen Überlegungen.
Insgesamt gesehen bietet das Forschungskapitel einen guten Einstieg, um sich einen Überblick über die weit verzweigte Reformationsforschung zu verschaffen; für tiefer gehende Einblicke ist man dagegen bei dem Band von Stefan Ehrenpreis und Ute Lotz-Heumann besser aufgehoben. [3]
Abgerundet wird das vorliegende Werk von einer 319 Titel umfassenden Auswahlbibliographie. Hierbei kann es sich natürlich nur um eine nach dem subjektiven Urteil des Verfassers vorgenommene Selektion handeln, die gleichwohl sehr hilfreich sein kann, da sie, von einigen Ausnahmen abgesehen, zumindest die wichtigsten einschlägigen Werke aufführt. Die thematische Untergliederung, die sich an der Kapitelfolge des Forschungsteils orientiert, ist sinnvoll, wenngleich sich über die Einordnung mancher Werke streiten ließe, die sich aufgrund ihrer überlappenden Themenfelder einer eindeutigen Zuordnung entziehen.
Abschließend betrachtet, bietet Mörkes Werk eine gut nutzbare Einführung in die mit dem Begriff "Reformation" verbundenen Geschehnisse und Strukturen samt ihrer Deutung durch die Forschung, die sich auf dem Markt der in großer Zahl vorhandenen Einführungen ins Reformationszeitalter zweifellos ihren Platz erkämpfen wird. Allerdings bleibt die Frage offen, ob der Band tatsächlich einen substanziellen Mehrwert gegenüber den bereits vorliegenden Werken bietet oder ob hiermit nicht einfach eine Lücke im Themenspektrum der EDG-Reihe geschlossen werden sollte. Kritisch bleibt auch noch anzumerken, dass der Autor an manchen Stellen dazu neigt, eigentlich leicht verständliche Sachverhalte in komplizierte fremdwortbehaftete Schachtelsätze zu verpacken, was gerade für Studierende im Grundstudium die Arbeit mit dem Buch erschweren kann. Den positiven Gesamteindruck schmälert dies jedoch nur unwesentlich.
Anmerkungen:
[1] Moeller, Bernd, Reichsstadt und Reformation, 2. Aufl., Berlin 1987.
[2] Vgl. Hamm, Berndt, Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert.
Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: ZHF 26 (1999), S. 163-202.
[3] Ehrenpreis, Stefan / Lotz-Heumann, Ute, Reformation und konfessionelles Zeitalter (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2002.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Lars Behrisch
URL zur Zitation dieses Beitrages
Mörke, Olaf: Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 74). München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2005. ISBN 3-486-55026-8; 174 S.; EUR 19,80.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Matthias Langensteiner, Historisches Institut, Universität Stuttgart
E-Mail:
Die Erforschung der Reformation hat unverändert Konjunktur in der Geschichtswissenschaft. Seit der als Katalysator wirkenden wegweisenden Studie von Bernd Moeller über die städtische Reformation [1] hat sich die Reformationsforschung im Einklang mit der Entwicklung des Gesamtfachs zunehmend sozial- und kulturgeschichtlichen sowie historisch-anthropologischen Fragestellungen zugewandt, die zu einer Vielzahl neuer Erkenntnisse und fruchtbringender Diskurse geführt haben.
Angesichts dieser Entwicklung, die sich auch an einer Flut neuer Publikationen festmachen lässt, mutet das Vorhaben, den ereignis- und strukturgeschichtlichen Verlauf der Reformation in Kombination mit einem Überblick über die Geschichte ihrer Erforschung samt aktueller Tendenzen darzustellen, wahrlich als herkulische Aufgabe an. Olaf Mörke hat dieses schwierige Unterfangen - soviel sei vorweg genommen - durchaus erfolgreich bewältigt.
Das Werk gliedert sich gemäß dem in der Reihe üblichen Aufbau in einen darstellenden Teil, einen Forschungsüberblick und eine bibliographische Auflistung der wichtigsten Quellen und Literatur zum Thema. Mörke begrenzt den Untersuchungszeitraum aus darstellungstechnischen Gründen auf die Jahre von 1517 bis 1555, verweist jedoch gleichzeitig eindringlich darauf, dass sich der Gegenstand Reformation nicht an derartigen Zäsuren, wie sie in diesem Fall die Ablassthesen Luthers und der Augsburger Religionsfrieden bilden, festmachen lasse, sondern von einem "Nebeneinander unterschiedlicher Deutungsmuster von Zeitstrukturen" (S. 2) auszugehen sei. Räumlich bezieht sich die Studie auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als einen sich
"verdichtende(n) politisch-institutionelle(n) Kommunikationsraum" (S.
4), wobei Oberitalien, Böhmen und die Niederlande, die ja ebenfalls dem Reichslehensverband angehörten, ebenso außen vor bleiben wie der gesamteuropäische Zusammenhang - was man bedauern mag, aber durch den knappen Zuschnitts des Bandes gerechtfertigt ist.
Der verlaufsgeschichtliche Teil, überschrieben mit "Der Ereigniskomplex Reformation - die Begegnung von Theologie, Politik und Gesellschaft (1517-1555), ist chronologisch aufgebaut und gliedert sich in vier Phasen. Die erste, die Mörke von 1517 bis 1525 ansetzt, stellt die Personen Luthers und Zwinglis und ihre theologischen Konzepte vor, um anschließend auf deren Rezeption innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Gruppen sowie auf die zunehmende reichspolitische Dimension der "causa Lutheri" einzugehen. Die zweite Phase (1525-1530) setzt mit dem Bauernkrieg ein, der als "Verbindung von Agrarkonflikt und Reformationskonflikt" (S. 35) interpretiert wird, zeichnet dann die Verschärfung der reichspolitischen Gegensätze bis hin zum Augsburger Reichstag von 1530 nach und beleuchtet die gleichzeitig erfolgende allmähliche Institutionalisierung des neuen Glaubens. Die Formierung konfessioneller Blöcke, wie sie sich im Schmalkaldischen und im Nürnberger Bund abzeichnete, die Erfolglosigkeit theologischer und politischer Ausgleichsversuche und die Eskalation des Konflikts im Schmalkaldischen Krieg stehen im Zentrum der dritten Phase von 1531 bis 1548. Die vierte Phase (1552-1555) stellt schließlich in aller Kürze den Weg vom Fürstenkrieg über den Passauer Vertrag bis hin zum Augsburger Religionsfrieden dar. Abschließend wird unter der Überschrift "Die Reformation als Prozess" (S. 64) versucht, die Kohärenz der Handlungsfelder Theologie/Glauben, Politik und Gesellschaft aufzuschlüsseln und Gewichtsverschiebungen zwischen diesen Feldern nachzuweisen.
Dies lenkt den Blick auf die Problematik des enzyklopädischen Überblicksteils. Mörke gibt sich nicht damit zufrieden, eine bloße Darstellung bekannten Wissens zu geben, sondern probt zuweilen den Spagat hin zur Akzentuierung verschiedener Forschungsthesen. So wird beispielsweise der Begriff des "Kommunikationszusammenhang(s)" (S. 5) zur Charakterisierung der Reformation eingeführt; auch in der Folge blitzen hin und wieder kommunikationsgeschichtliche Interpretationsmuster auf, ohne freilich mit letzter Konsequenz entfaltet zu werden. Womöglich wäre es sinnvoller gewesen, derartige noch mitten in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung stehenden Deutungsansätze ausschließlich auf den Forschungsteil zu beschränken.
Der Forschungsüberblick beschäftigt sich seinerseits mit relevanten historiographischen Strömungen der Vergangenheit und der Gegenwart, kommt aber selbstverständlich um gewisse Schwerpunktsetzungen und Einschränkungen nicht herum. Mörke gesteht ein, dass Themenfelder wie die Frage nach dem Einfluss der Reformation auf die Geschlechterverhältnisse oder nach der langfristigen Wirkung der Reformation auf die Entwicklung der strukturellen Verfasstheit des Reichs weitgehend unberücksichtigt bleiben mussten (S. 70).
Einen ersten Komplex innerhalb des Forschungsüberblicks bildet die Frage nach Periodisierung und Epochencharakter der Reformation. Beginnend bei Leopold von Ranke, werden die historiographischen Traditionslinien herausgearbeitet - vor allem der Antagonismus zwischen einem Kontinuitätsmodell, das die Reformation in einen langfristigen Modernisierungsprozess eingebunden sieht, und einem Zäsurmodell, das den umbruchhaften Charakter der Reformationen hervorhob. Daran anschließend referiert Mörke aktuelle Konzepte wie etwa die von Berndt Hamm entworfene "normative Zentrierung" [2], die auf Distanz zu dieser Dichotomie gehen und statt dessen die Multivalenz der Reformation, der sowohl Kontinuität als auch Wandel innewohnte, herausstreichen.
In einem zweiten Block geht der Autor auf die Forschung zu den gesellschaftlich-politischen Strukturen der Reformationszeit ein. Er hält sich hierbei an das hinlänglich bekannte Unterteilungsschema Stadt, Land (bzw. Volk), niederer Adel und Fürsten, wobei es ein wenig verwundert, dass Mörke den meisten Platz ausgerechnet der städtischen Reformation einräumt, die im Anschluss an Moeller zwar im Mittelpunkt vieler innovativer Forschungsansätze stand, seit einigen Jahren aber doch ein wenig an den Rand gerückt ist. Hier wäre es wünschenswert gewesen, eher dem Adel, dessen generelle Erforschung sich in jüngster Zeit mehr und mehr als eigenständiger Forschungszweig zu etablieren beginnt, etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Sehr gelungen und ausführlich ist dagegen der dritte Abschnitt über die
kultur- und kommunikationsgeschichtlichen Aspekte der Reformation. Mörke spannt den Bogen hierbei von der Laienfrömmigkeit über den Antiklerikalismus bis hin zu Medien und Öffentlichkeit und verbindet dies mit wirkungs- und mentalitätsgeschichtlichen Überlegungen.
Insgesamt gesehen bietet das Forschungskapitel einen guten Einstieg, um sich einen Überblick über die weit verzweigte Reformationsforschung zu verschaffen; für tiefer gehende Einblicke ist man dagegen bei dem Band von Stefan Ehrenpreis und Ute Lotz-Heumann besser aufgehoben. [3]
Abgerundet wird das vorliegende Werk von einer 319 Titel umfassenden Auswahlbibliographie. Hierbei kann es sich natürlich nur um eine nach dem subjektiven Urteil des Verfassers vorgenommene Selektion handeln, die gleichwohl sehr hilfreich sein kann, da sie, von einigen Ausnahmen abgesehen, zumindest die wichtigsten einschlägigen Werke aufführt. Die thematische Untergliederung, die sich an der Kapitelfolge des Forschungsteils orientiert, ist sinnvoll, wenngleich sich über die Einordnung mancher Werke streiten ließe, die sich aufgrund ihrer überlappenden Themenfelder einer eindeutigen Zuordnung entziehen.
Abschließend betrachtet, bietet Mörkes Werk eine gut nutzbare Einführung in die mit dem Begriff "Reformation" verbundenen Geschehnisse und Strukturen samt ihrer Deutung durch die Forschung, die sich auf dem Markt der in großer Zahl vorhandenen Einführungen ins Reformationszeitalter zweifellos ihren Platz erkämpfen wird. Allerdings bleibt die Frage offen, ob der Band tatsächlich einen substanziellen Mehrwert gegenüber den bereits vorliegenden Werken bietet oder ob hiermit nicht einfach eine Lücke im Themenspektrum der EDG-Reihe geschlossen werden sollte. Kritisch bleibt auch noch anzumerken, dass der Autor an manchen Stellen dazu neigt, eigentlich leicht verständliche Sachverhalte in komplizierte fremdwortbehaftete Schachtelsätze zu verpacken, was gerade für Studierende im Grundstudium die Arbeit mit dem Buch erschweren kann. Den positiven Gesamteindruck schmälert dies jedoch nur unwesentlich.
Anmerkungen:
[1] Moeller, Bernd, Reichsstadt und Reformation, 2. Aufl., Berlin 1987.
[2] Vgl. Hamm, Berndt, Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert.
Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: ZHF 26 (1999), S. 163-202.
[3] Ehrenpreis, Stefan / Lotz-Heumann, Ute, Reformation und konfessionelles Zeitalter (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2002.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Lars Behrisch
URL zur Zitation dieses Beitrages
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.09.2005Stirbt der Protestantismus?
Die Reformation und ihre Zukunft in Europa
Zweifelsohne ist die Gestalt des Christentums, die von der Reformation des 16. Jahrhunderts ausging, zusammen mit dem römischen Katholizismus und der östlichen Orthodoxie ein wesentlicher Faktor des Werdens des modernen Europa. Zweifelhaft ist dagegen, wo und wie dieser Faktor aktuell präsent ist, und strittig bleibt, wie man dieses religiöse Erbe der europäischen Kultur normativ zurechnen darf oder muss. Schon die mögliche Wortwahl „reformatorisch”, „evangelisch”, „protestantisch” signalisiert hier Ambivalenz. Was war also und bewirkte „die Reformation”?
Dieser Frage widmet sich der Kieler Historiker Olaf Mörke im Rahmen der „Enzyklopädie deutscher Geschichte”. Er bietet zunächst einen Überblick über den „Ereigniskomplex Reformation” im deutschen Reich - von 1517, dem Thesenanschlag Luthers, bis 1555, dem Augsburger Religionsfrieden. Bis 1525 stehen die theologischen Anliegen Luthers und Zwinglis im Vordergrund; bis 1530 der Bauernkrieg, die reichspolitische Dimension des religiösen Impulses und die Institutionalisierung des neuen Glaubens; bis 1548 die Formierung politisch-konfessioneller Blöcke, das Täuferreich Münster und das Scheitern letzter Einigungsversuche; und bis 1555 Fürstenkrieg und Religionsfriede. Präzis, kompakt, doch gut lesbar wird hier der Stand des Wissens der neueren, interdisziplinären und internationalen Forschung vorgestellt.
Der Leser wird keineswegs mit der Illusion beruhigt, dass die gängige Platzierung der „Reformation” zwischen 1517 und 1555 schon hinreichend bestimme, um was es sich dabei handle. Da die Chronologie ein heuristisches Konstrukt ist, eröffnet uns der Autor den „Kommunikationszusammenhang Reformation”. Er akzeptiert also das Neben-, Mit-, ja Gegeneinander auf jenen Handlungs- und Diskursfeldern, die man als „die Reformation” bezeichnen kann: „Glaube”, „Gesellschaft”, „Politik”. Das ist also, im Sinne des cultural turn, der politisch-institutionelle Kommunikationsraum Deutschland und die nicht an Institutionen gebundene Kommunikation von Ideen und ihren Trägern. So lassen sich die Handlungsfelder, die politische Bedeutung der causa religionis, aber auch das uns so rigide erscheinende Ordnungsverständnis nachvollziehen, das Altgläubigen und Reformatoren, etwa gegenüber den Wiedertäufern, gemeinsam war.
Glauben und Wissensdynamik
Diese Perspektivik des Erinnerns wird noch geschärft durch die in dieser Reihe des Verlags Oldenbourg übliche Darstellung der Forschungslage. Die Reformationsforschung hat ja inzwischen die Reformation als Epoche und die Kohärenz ihres Prozesses zur Diskussion gestellt. Der Zusammenhang spätmittelalterlicher und reformatorischer Frömmigkeit, die Verflechtung von Reformation und gesellschaftlicher Struktur (Stadt, Land, Adel, Territorien), die Kirchenkritik der Laien, der Zusammenhang von Frömmigkeit und kulturellem Wandel, der Konnex von Reformation, Öffentlichkeit und Medien - all dies hat die Forschung zur Dynamisierung des Epochenbegriffs genötigt. Dabei gehen Profan- und Kirchengeschichte einig in ihrer Einschätzung der reformatorischen Dynamik als einer religiösen, in der Wahrnehmung der Pluralität der Reformation und in der schärferen Unterscheidung zwischen ihrer „Durchsetzung” nach 1525 und ihrer „Wirkungsgeschichte”.
Ganz anders stellt Martin Greschat „lebendige Vergangenheit” vor. Der Gießener Kirchenhistoriker erinnert in seinem Buch „Protestantismus in Europa” in acht Kapiteln an Voraussetzungen und Perioden der gemeinsamen, wenn auch in Brechungen verlaufenen Geschichte der Protestanten in Europa, um nach ihrer Zukunft zu fragen - mit der Worten des Religionssoziologen Jean Baubérot: „Muss der Protestantismus sterben?”
Diese Frage lenkt den Blick der Erinnerung über 1517 zurück auf die Gesamterscheinung des Christentums: eine Botschaft, die plural überliefert und, anders als der Islam, in immer neue kulturelle Kontexte übersetzt wurde. Und als „Grundgebenheiten Europas” (es ist immer Westeuropa, die alte „Christianitas” gemeint) nimmt Greschat an, was seit Augustin immer neu thematisiert wurde: die Unterscheidung von weltlicher Macht und Kirche, die Bedeutung des Individuums, seiner Freiheit und Verantwortung, sowie die Fähigkeit der Vernunft, den Glauben denkend zu erfassen und so eine Dynamik des Wissens in Gang zu setzen.
Vor diesem Hintergrund beschreibt das Buch die Reformation, die Aufklärung, die Erweckungen und die ökumenische Bewegung. Weniger die historische Periode als vielmehr die wirkmächtige Bewegung ist gemeint; so werden etwa - mit Recht - Aufklärung und Erweckung als so gut wie zeitgleiche Phänomene des 17. bis 19. Jahrhunderts dargestellt. Eingeschoben sind die Verflechtungen des Protestantismus mit den west- und osteuropäischen Nationalismen, besonders auch die Rolle der deutschen, seit 1789 politisch verunsicherten Theologie bis zu den Wunschträumen von 1933. Diese Beschreibungen lesen sich plausibel; sie setzen mit vielsagenden historischen Szenen ein und greifen nicht selten in anschauliche Details aus (der Nachweis der Zitate lässt allerdings zu wünschen übrig). Die nationalen Unterschiede werden ebenso notiert wie strukturelle Gemeinsamkeiten des „Protestantismus”.
Kein Platz für J. S. Bach?
Während die nationalistischen Fixierungen sich vielerorts aufgelöst haben, konstatiert der Autor als ein gemeinsames Vermächtnis von Aufklärung und Erweckung die Autonomie des Individuums gegenüber den Institutionen sowie die Autonomie der Gesellschaft, die „mündige Welt” - beides Voraussetzungen sowohl der spezifisch protestantischen Existenzgewissheit als auch des politischen Liberalismus mit der Forderung der Toleranz und der Annahme vorstaatlicher Grundrechte.
Die aus erwecklichem Geist gespeiste ökumenische Bewegung stellt für Greschat in ihrem überkonfessionellen und internationalen Charakter, aber auch in ihrer nichttheologischen, sozial engagierten Dynamik ebenfalls ein Positivum für die Zukunft des Protestantismus dar. Die Reformation kommt da zu stehen als die rechtfertigungstheologische Stärkung des in seinem Gewissen freien Individuums und als ein mächtiger Schub zur Diesseitigkeit in Beruf und Politik.
Diese sympathischen Stilisierungen dürften manchen Leser dennoch einseitig anmuten. Etwa dem Historiker: Das Zeitalter der Konfessionalisierung ist bei Greschat nur am Rande dargestellt, ganz im Zeichen der konfessionellen Selbstdisziplinierung nach innen und der Intoleranz nach außen; nur zögernd spricht Greschat von „protestantischer Kultur”, und bei der „Diesseitigkeit” vermisst man den Blick auf Naturwissenschaft und Technik. Aber auch der Laie - ob innerhalb oder außerhalb der Kirche - wird sich wundern, dass die Erinnerung an die dichterische und musikalische Tradition abhanden gekommen ist - sollten die Lieder von Paul Gerhardt oder die Kirchenmusik von J. S. Bach nicht auch in zur Zukunft des Protestantismus gehören? Und wie steht es mit den existierenden evangelischen Kirchen?
Von diesen verfassten Institutionen hält der Autor nun allerdings nicht viel, auch nichts von ökumenischen Bemühungen auf kirchenleitender Ebene. Mit der „Leuenberger Konkordie” von 1973 hätten die „Laien” bislang nichts im Sinn, so Greschat, und die mit den Katholiken 1999 formulierte „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre” bedrohe die Identität des numerisch ohnedies minoritären europäischen Protestantismus.
Statt fragwürdiger Bündnisse, so die Botschaft, ist die theologische Konfrontation mit der Moderne nötig, wenn der Protestantismus nicht sterben soll. Im nachchristlichen Europa, geprägt durch die Abkehr von Ideologien, durch Selbstbestimmung des Einzelnen und Diesseitigkeit, muss der Protestantismus sein Profil schärfen: So wird er wird sich im Wettbewerb mit anderen Sinnangeboten und Weltanschauungen behaupten. Denn sein Profil besteht genau in dem zu kritisch-aktiver Freiheit befähigenden Rechtfertigungsglauben des Einzelnen und in seiner „tiefen Diesseitigkeit” in einer säkularen Welt, wie Greschat mit Dietrich Bonhoeffer pointiert. Und was wäre die Alternative zu Kirchenleitungskonferenzen? Ein europäisches Netz von „Partnerschaften von Ortsgemeinden, . . . unabhängig von ihrer Leitung”. Nun, das klingt schön, lässt uns aber fragen: Ob ein solches Netz die Strukturschwäche des Protestantismus, die Gestaltung der Institution Kirche, wirklich beseitigt?
WALTER SPARN
OLAF MÖRKE: Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung. Enzyklopädie deutscher Geschichte, Band 74. Oldenbourg, München 2005. 184 Seiten, 34,80 Euro.
MARTIN GRESCHAT: Protestantismus in Europa. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005. 175 Seiten, 29,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Die Reformation und ihre Zukunft in Europa
Zweifelsohne ist die Gestalt des Christentums, die von der Reformation des 16. Jahrhunderts ausging, zusammen mit dem römischen Katholizismus und der östlichen Orthodoxie ein wesentlicher Faktor des Werdens des modernen Europa. Zweifelhaft ist dagegen, wo und wie dieser Faktor aktuell präsent ist, und strittig bleibt, wie man dieses religiöse Erbe der europäischen Kultur normativ zurechnen darf oder muss. Schon die mögliche Wortwahl „reformatorisch”, „evangelisch”, „protestantisch” signalisiert hier Ambivalenz. Was war also und bewirkte „die Reformation”?
Dieser Frage widmet sich der Kieler Historiker Olaf Mörke im Rahmen der „Enzyklopädie deutscher Geschichte”. Er bietet zunächst einen Überblick über den „Ereigniskomplex Reformation” im deutschen Reich - von 1517, dem Thesenanschlag Luthers, bis 1555, dem Augsburger Religionsfrieden. Bis 1525 stehen die theologischen Anliegen Luthers und Zwinglis im Vordergrund; bis 1530 der Bauernkrieg, die reichspolitische Dimension des religiösen Impulses und die Institutionalisierung des neuen Glaubens; bis 1548 die Formierung politisch-konfessioneller Blöcke, das Täuferreich Münster und das Scheitern letzter Einigungsversuche; und bis 1555 Fürstenkrieg und Religionsfriede. Präzis, kompakt, doch gut lesbar wird hier der Stand des Wissens der neueren, interdisziplinären und internationalen Forschung vorgestellt.
Der Leser wird keineswegs mit der Illusion beruhigt, dass die gängige Platzierung der „Reformation” zwischen 1517 und 1555 schon hinreichend bestimme, um was es sich dabei handle. Da die Chronologie ein heuristisches Konstrukt ist, eröffnet uns der Autor den „Kommunikationszusammenhang Reformation”. Er akzeptiert also das Neben-, Mit-, ja Gegeneinander auf jenen Handlungs- und Diskursfeldern, die man als „die Reformation” bezeichnen kann: „Glaube”, „Gesellschaft”, „Politik”. Das ist also, im Sinne des cultural turn, der politisch-institutionelle Kommunikationsraum Deutschland und die nicht an Institutionen gebundene Kommunikation von Ideen und ihren Trägern. So lassen sich die Handlungsfelder, die politische Bedeutung der causa religionis, aber auch das uns so rigide erscheinende Ordnungsverständnis nachvollziehen, das Altgläubigen und Reformatoren, etwa gegenüber den Wiedertäufern, gemeinsam war.
Glauben und Wissensdynamik
Diese Perspektivik des Erinnerns wird noch geschärft durch die in dieser Reihe des Verlags Oldenbourg übliche Darstellung der Forschungslage. Die Reformationsforschung hat ja inzwischen die Reformation als Epoche und die Kohärenz ihres Prozesses zur Diskussion gestellt. Der Zusammenhang spätmittelalterlicher und reformatorischer Frömmigkeit, die Verflechtung von Reformation und gesellschaftlicher Struktur (Stadt, Land, Adel, Territorien), die Kirchenkritik der Laien, der Zusammenhang von Frömmigkeit und kulturellem Wandel, der Konnex von Reformation, Öffentlichkeit und Medien - all dies hat die Forschung zur Dynamisierung des Epochenbegriffs genötigt. Dabei gehen Profan- und Kirchengeschichte einig in ihrer Einschätzung der reformatorischen Dynamik als einer religiösen, in der Wahrnehmung der Pluralität der Reformation und in der schärferen Unterscheidung zwischen ihrer „Durchsetzung” nach 1525 und ihrer „Wirkungsgeschichte”.
Ganz anders stellt Martin Greschat „lebendige Vergangenheit” vor. Der Gießener Kirchenhistoriker erinnert in seinem Buch „Protestantismus in Europa” in acht Kapiteln an Voraussetzungen und Perioden der gemeinsamen, wenn auch in Brechungen verlaufenen Geschichte der Protestanten in Europa, um nach ihrer Zukunft zu fragen - mit der Worten des Religionssoziologen Jean Baubérot: „Muss der Protestantismus sterben?”
Diese Frage lenkt den Blick der Erinnerung über 1517 zurück auf die Gesamterscheinung des Christentums: eine Botschaft, die plural überliefert und, anders als der Islam, in immer neue kulturelle Kontexte übersetzt wurde. Und als „Grundgebenheiten Europas” (es ist immer Westeuropa, die alte „Christianitas” gemeint) nimmt Greschat an, was seit Augustin immer neu thematisiert wurde: die Unterscheidung von weltlicher Macht und Kirche, die Bedeutung des Individuums, seiner Freiheit und Verantwortung, sowie die Fähigkeit der Vernunft, den Glauben denkend zu erfassen und so eine Dynamik des Wissens in Gang zu setzen.
Vor diesem Hintergrund beschreibt das Buch die Reformation, die Aufklärung, die Erweckungen und die ökumenische Bewegung. Weniger die historische Periode als vielmehr die wirkmächtige Bewegung ist gemeint; so werden etwa - mit Recht - Aufklärung und Erweckung als so gut wie zeitgleiche Phänomene des 17. bis 19. Jahrhunderts dargestellt. Eingeschoben sind die Verflechtungen des Protestantismus mit den west- und osteuropäischen Nationalismen, besonders auch die Rolle der deutschen, seit 1789 politisch verunsicherten Theologie bis zu den Wunschträumen von 1933. Diese Beschreibungen lesen sich plausibel; sie setzen mit vielsagenden historischen Szenen ein und greifen nicht selten in anschauliche Details aus (der Nachweis der Zitate lässt allerdings zu wünschen übrig). Die nationalen Unterschiede werden ebenso notiert wie strukturelle Gemeinsamkeiten des „Protestantismus”.
Kein Platz für J. S. Bach?
Während die nationalistischen Fixierungen sich vielerorts aufgelöst haben, konstatiert der Autor als ein gemeinsames Vermächtnis von Aufklärung und Erweckung die Autonomie des Individuums gegenüber den Institutionen sowie die Autonomie der Gesellschaft, die „mündige Welt” - beides Voraussetzungen sowohl der spezifisch protestantischen Existenzgewissheit als auch des politischen Liberalismus mit der Forderung der Toleranz und der Annahme vorstaatlicher Grundrechte.
Die aus erwecklichem Geist gespeiste ökumenische Bewegung stellt für Greschat in ihrem überkonfessionellen und internationalen Charakter, aber auch in ihrer nichttheologischen, sozial engagierten Dynamik ebenfalls ein Positivum für die Zukunft des Protestantismus dar. Die Reformation kommt da zu stehen als die rechtfertigungstheologische Stärkung des in seinem Gewissen freien Individuums und als ein mächtiger Schub zur Diesseitigkeit in Beruf und Politik.
Diese sympathischen Stilisierungen dürften manchen Leser dennoch einseitig anmuten. Etwa dem Historiker: Das Zeitalter der Konfessionalisierung ist bei Greschat nur am Rande dargestellt, ganz im Zeichen der konfessionellen Selbstdisziplinierung nach innen und der Intoleranz nach außen; nur zögernd spricht Greschat von „protestantischer Kultur”, und bei der „Diesseitigkeit” vermisst man den Blick auf Naturwissenschaft und Technik. Aber auch der Laie - ob innerhalb oder außerhalb der Kirche - wird sich wundern, dass die Erinnerung an die dichterische und musikalische Tradition abhanden gekommen ist - sollten die Lieder von Paul Gerhardt oder die Kirchenmusik von J. S. Bach nicht auch in zur Zukunft des Protestantismus gehören? Und wie steht es mit den existierenden evangelischen Kirchen?
Von diesen verfassten Institutionen hält der Autor nun allerdings nicht viel, auch nichts von ökumenischen Bemühungen auf kirchenleitender Ebene. Mit der „Leuenberger Konkordie” von 1973 hätten die „Laien” bislang nichts im Sinn, so Greschat, und die mit den Katholiken 1999 formulierte „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre” bedrohe die Identität des numerisch ohnedies minoritären europäischen Protestantismus.
Statt fragwürdiger Bündnisse, so die Botschaft, ist die theologische Konfrontation mit der Moderne nötig, wenn der Protestantismus nicht sterben soll. Im nachchristlichen Europa, geprägt durch die Abkehr von Ideologien, durch Selbstbestimmung des Einzelnen und Diesseitigkeit, muss der Protestantismus sein Profil schärfen: So wird er wird sich im Wettbewerb mit anderen Sinnangeboten und Weltanschauungen behaupten. Denn sein Profil besteht genau in dem zu kritisch-aktiver Freiheit befähigenden Rechtfertigungsglauben des Einzelnen und in seiner „tiefen Diesseitigkeit” in einer säkularen Welt, wie Greschat mit Dietrich Bonhoeffer pointiert. Und was wäre die Alternative zu Kirchenleitungskonferenzen? Ein europäisches Netz von „Partnerschaften von Ortsgemeinden, . . . unabhängig von ihrer Leitung”. Nun, das klingt schön, lässt uns aber fragen: Ob ein solches Netz die Strukturschwäche des Protestantismus, die Gestaltung der Institution Kirche, wirklich beseitigt?
WALTER SPARN
OLAF MÖRKE: Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung. Enzyklopädie deutscher Geschichte, Band 74. Oldenbourg, München 2005. 184 Seiten, 34,80 Euro.
MARTIN GRESCHAT: Protestantismus in Europa. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005. 175 Seiten, 29,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Was war die Reformation, und wie wirkt sie in die Gegenwart hinein? Walter Sparn empfiehlt zur Beantwortung dieser Fragen die fundierte Studie des Historikers Olaf Mörke, der einem "kompakten" Überblick über den "Ereigniskomplex Reformation" eine Untersuchung des "Kommunikationszusammenhangs Reformation" - die heterogene Wirkung der neuen Lehren in den verschiedenen gesellschaftlichen "Handlungs- und Diskursfeldern" innerhalb und außerhalb von Institutionen, vom Glauben bis zur Politik - zur Seite stellt. Außerdem hebt Sparn positiv hervor, dass Mörke die Ergebnisse der aktuellen Forschung referiert, da die "Kohärenz" der Reformation als historischer Prozess längst nicht mehr unumstritten ist - eine "Dynamisierung des Epochenbegriffs" hat stattgefunden und wird in der vorliegenden Studie nach Ansicht des Rezensenten nachvollzogen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH