Albrecht Müller analysiert die Reformwut und sagt: Der Kaiser ist nackt. Was uns die politische Klasse als prächtiges Reformpaket verkauft, enthält nur leere Versprechungen und falsche Annahmen. Die Folgen sind katastrophal. Seit Jahr und Tag zeichnen Politiker und Wirtschaftsexperten ein Schreckensszenario: "Die Lohnnebenkosten sind zu hoch", "Wir leben über unsere Verhältnisse", "Der Generationenvertrag trägt nicht mehr". Alle sind sich einig: Es muss etwas geschehen. Doch was? Das Land taumelt von einer Reform zur nächsten. Es geht auch anders. Fundiert und faktenreich entlarvt der Nationalökonom Albrecht Müller die gängigen Klischees über den Zustand unseres Landes als eiskalte Lügen. Das Ziel: die soziale Gerechtigkeit soll ausgehebelt werden. Den Nutzen haben einige wenige, die Zeche zahlen wir alle. Ein wichtiges Buch, das schlagende Argumente gegen die Reform-Propaganda liefert und Alternativen zum sozialen Ausverkauf aufzeigt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2004Verschwörung der Profis
Albrecht Müller sieht in der Reformdebatte nur eine konzertierte Lügenaktion
Albrecht Müller: Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren. Verlag Droemer Knaur, München 2004, 240 Seiten, 19,90 Euro.
Eine Lüge - ausweislich des Wörterbuchs ist das eine "absichtlich falsche Aussage". Wer wider besseres Wissen unrichtige Sachverhalte als Wahrheit verbreitet, muß demgemäß als Lügner gelten. Schenkt man Albrecht Müller Glauben, so sind fast alle Politiker, Wissenschaftler und Journalisten Lügner: Schließlich erzählen sie wider besseres Wissen unwahre Dinge. Oder aber sie sind naive Opfer einer raffiniert angelegten Kampagne einer Allianz von Profis, deren Ziel es ist, der Bundesrepublik unsinnige und unnötige Reformen zu oktroyieren. Insgesamt 40 Aussagen oder Argumente zur Lage der Bundesrepublik hat der frühere Redenschreiber von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller zusammengetragen, die er allesamt für Lügen hält. Wir haben ein demographisches Problem? Glatte Lüge. Inflation ist unsozial? Gelogen. Wer spart, baut Schulden ab? Die reine Unwahrheit. Leistung muß sich wieder lohnen? Wer das behauptet, lügt. Die lautere Wahrheit: Deutschland hat überhaupt keine Probleme, sondern wird nur schlechtgeredet. So einfach kann die Welt sein.
Ein solch provokantes Buch muß man dem Autor ja aus den Händen reißen - wenn schon nicht aus der vom Buchtitel gerne genährten Hoffnung, daß am Ende doch alles gut wird, und zwar ohne schmerzliche Einschnitte, dann aus intellektuellem Interesse daran, wie Müller seine Anti-Reform-Polemik begründet. Auf den ersten Blick macht er das gar nicht schlecht. Was auch immer das Problem ist, Müller findet Zahlen, die es als Scheinproblem entlarven. Wo auch immer ein Hindernis ist, hat Müller ein Argument, das darüber hinwegzuhelfen scheint. Doch auf den zweiten Blick sind Müllers Argumente mehr als enttäuschend und halten einem näheren Blick selten stand. Sie atmen fast alle den Geist des von der modernen Wirtschaftswissenschaft längst auf den Speicher verbannten Vulgärkeynesianismus, mit dem man in den siebziger Jahren noch glaubte, Ökonomie als Wunschkonzert betreiben zu können. Dieser Wunschkonzertökonomie paßt Müller auch seine Analyse an, wählt eklektizistisch die dazu passenden Statistiken und Kennziffern aus, läßt andere Zahlen weg und garniert das Ganze dann noch mit Polemik.
Wo Müller selektive Statistik und interpretatorische Kreativität im Stich lassen, wählt er Naivität: An manchen Stellen des Buches ist es atemberaubend, wie wenig er sich auf Argumente der "Reformlügner" einlassen, sie stellenweise offenbar sogar mißverstehen will, um seine Lügenparade weiter defilieren zu lassen. Exemplarisch dafür ist sein Umgang mit der Reformlüge Nummer 20: "Wir können nur das verteilen, was wir vorher erwirtschaftet haben." Natürlich eine Lüge, meint der Autor: Der Verteilungsprozeß geschehe automatisch im Einklang mit dem Produktionsprozeß. So naiv kann Müller gar nicht sein, als daß er diesen Satz und seinen intendierten Bezug zu der Sekundärverteilung und ihren Folgen nicht willentlich mißversteht.
Der Schlachtenlärm der ideologischen Grabenkämpfe ist laut, und Müller hat sich diesem Geräuschpegel angepaßt - wer gehört werden will, muß nicht gut, sondern laut argumentieren. Müller ist da keinen Deut besser als viele seiner von ihm so bezeichneten Lügen-Gegenspieler, denen er jene Einseitigkeit und ideologische Voreingenommenheit attestiert, unter der er selbst leidet, wenngleich mit entgegengesetzten Vorzeichen. Was Müllers Buch aber enervierend macht, ist die Monotonie seiner Ursachenanalyse und die Penetranz, mit der er dem Leser Keynesianismus in seiner vulgärsten Form als alleinseligmachende Lösung aller Probleme verkauft: Was auch immer das Problem ist, die Ursache liegt in der mangelnden Kapazitätsauslastung, und die Lösung findet sich in der Mottenkiste der aktiven Konjunkturpolitik.
Daß Müller dabei auch innerhalb seines eigenen Theoriegebäudes ins Schwimmen kommt, scheint ihn nicht zu bremsen: Wenn wir nur unter einer Unterauslastung der Kapazitäten leiden, wie er postuliert, dann dürfte eine aktive Konjunkturpolitik eigentlich nicht zu inflationären Prozessen führen, die er unter Hinweis auf das alte Helmut-Schmidt-Diktum von der Austauschbarkeit von 5 Prozent Arbeitslosigkeit gegen 5 Prozent Inflation als "leichten Preisanstieg" verniedlicht. Und wenn er, wie unter Denkfehler Nummer 18 postuliert, Inflation braucht, um "dem Bewegungsdrang der Ökonomie ein wenig Raum zu geben", so deckt sich das zudem nicht mit seiner Diagnose, daß den höheren Preisen schließlich auch höhere nominale Zinsen und Löhne gegenüberstehen, weswegen Inflation harmlos sei. Das ist äußerst diskussionswürdig: Wenn Inflation ohne Auswirkung auf die realen Größen bleibt, wie soll sie dann beschäftigungswirksam werden?
Was dem Leser das Buch komplett verleidet, ist der polemische, stellenweise beleidigende Stil: Müller ist zynisch, er greift Kontrahenten persönlich an, er scheut sich nicht, Befürworter einer niedrigeren Staatsquote in die Nähe der Wegbereiter rechtsextremer Parteien zu rücken - spätestens hier reißt er mühelos die zuvor von ihm bereits recht niedrig gehängte Latte des guten Geschmacks. Müller klagt über das niedrige Niveau der politischen Debatte - und leistet einen Beitrag dazu, selbiges noch eine Etage tiefer zu legen. Mit mehr Ausgewogenheit, weniger Emotion und mehr Souveränität hätte es Müller vielleicht gelingen können, ein kontroverses, ernstzunehmendes Buch zu schreiben. Schade, daß es dazu nicht gekommen ist.
HANNO BECK
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Albrecht Müller sieht in der Reformdebatte nur eine konzertierte Lügenaktion
Albrecht Müller: Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren. Verlag Droemer Knaur, München 2004, 240 Seiten, 19,90 Euro.
Eine Lüge - ausweislich des Wörterbuchs ist das eine "absichtlich falsche Aussage". Wer wider besseres Wissen unrichtige Sachverhalte als Wahrheit verbreitet, muß demgemäß als Lügner gelten. Schenkt man Albrecht Müller Glauben, so sind fast alle Politiker, Wissenschaftler und Journalisten Lügner: Schließlich erzählen sie wider besseres Wissen unwahre Dinge. Oder aber sie sind naive Opfer einer raffiniert angelegten Kampagne einer Allianz von Profis, deren Ziel es ist, der Bundesrepublik unsinnige und unnötige Reformen zu oktroyieren. Insgesamt 40 Aussagen oder Argumente zur Lage der Bundesrepublik hat der frühere Redenschreiber von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller zusammengetragen, die er allesamt für Lügen hält. Wir haben ein demographisches Problem? Glatte Lüge. Inflation ist unsozial? Gelogen. Wer spart, baut Schulden ab? Die reine Unwahrheit. Leistung muß sich wieder lohnen? Wer das behauptet, lügt. Die lautere Wahrheit: Deutschland hat überhaupt keine Probleme, sondern wird nur schlechtgeredet. So einfach kann die Welt sein.
Ein solch provokantes Buch muß man dem Autor ja aus den Händen reißen - wenn schon nicht aus der vom Buchtitel gerne genährten Hoffnung, daß am Ende doch alles gut wird, und zwar ohne schmerzliche Einschnitte, dann aus intellektuellem Interesse daran, wie Müller seine Anti-Reform-Polemik begründet. Auf den ersten Blick macht er das gar nicht schlecht. Was auch immer das Problem ist, Müller findet Zahlen, die es als Scheinproblem entlarven. Wo auch immer ein Hindernis ist, hat Müller ein Argument, das darüber hinwegzuhelfen scheint. Doch auf den zweiten Blick sind Müllers Argumente mehr als enttäuschend und halten einem näheren Blick selten stand. Sie atmen fast alle den Geist des von der modernen Wirtschaftswissenschaft längst auf den Speicher verbannten Vulgärkeynesianismus, mit dem man in den siebziger Jahren noch glaubte, Ökonomie als Wunschkonzert betreiben zu können. Dieser Wunschkonzertökonomie paßt Müller auch seine Analyse an, wählt eklektizistisch die dazu passenden Statistiken und Kennziffern aus, läßt andere Zahlen weg und garniert das Ganze dann noch mit Polemik.
Wo Müller selektive Statistik und interpretatorische Kreativität im Stich lassen, wählt er Naivität: An manchen Stellen des Buches ist es atemberaubend, wie wenig er sich auf Argumente der "Reformlügner" einlassen, sie stellenweise offenbar sogar mißverstehen will, um seine Lügenparade weiter defilieren zu lassen. Exemplarisch dafür ist sein Umgang mit der Reformlüge Nummer 20: "Wir können nur das verteilen, was wir vorher erwirtschaftet haben." Natürlich eine Lüge, meint der Autor: Der Verteilungsprozeß geschehe automatisch im Einklang mit dem Produktionsprozeß. So naiv kann Müller gar nicht sein, als daß er diesen Satz und seinen intendierten Bezug zu der Sekundärverteilung und ihren Folgen nicht willentlich mißversteht.
Der Schlachtenlärm der ideologischen Grabenkämpfe ist laut, und Müller hat sich diesem Geräuschpegel angepaßt - wer gehört werden will, muß nicht gut, sondern laut argumentieren. Müller ist da keinen Deut besser als viele seiner von ihm so bezeichneten Lügen-Gegenspieler, denen er jene Einseitigkeit und ideologische Voreingenommenheit attestiert, unter der er selbst leidet, wenngleich mit entgegengesetzten Vorzeichen. Was Müllers Buch aber enervierend macht, ist die Monotonie seiner Ursachenanalyse und die Penetranz, mit der er dem Leser Keynesianismus in seiner vulgärsten Form als alleinseligmachende Lösung aller Probleme verkauft: Was auch immer das Problem ist, die Ursache liegt in der mangelnden Kapazitätsauslastung, und die Lösung findet sich in der Mottenkiste der aktiven Konjunkturpolitik.
Daß Müller dabei auch innerhalb seines eigenen Theoriegebäudes ins Schwimmen kommt, scheint ihn nicht zu bremsen: Wenn wir nur unter einer Unterauslastung der Kapazitäten leiden, wie er postuliert, dann dürfte eine aktive Konjunkturpolitik eigentlich nicht zu inflationären Prozessen führen, die er unter Hinweis auf das alte Helmut-Schmidt-Diktum von der Austauschbarkeit von 5 Prozent Arbeitslosigkeit gegen 5 Prozent Inflation als "leichten Preisanstieg" verniedlicht. Und wenn er, wie unter Denkfehler Nummer 18 postuliert, Inflation braucht, um "dem Bewegungsdrang der Ökonomie ein wenig Raum zu geben", so deckt sich das zudem nicht mit seiner Diagnose, daß den höheren Preisen schließlich auch höhere nominale Zinsen und Löhne gegenüberstehen, weswegen Inflation harmlos sei. Das ist äußerst diskussionswürdig: Wenn Inflation ohne Auswirkung auf die realen Größen bleibt, wie soll sie dann beschäftigungswirksam werden?
Was dem Leser das Buch komplett verleidet, ist der polemische, stellenweise beleidigende Stil: Müller ist zynisch, er greift Kontrahenten persönlich an, er scheut sich nicht, Befürworter einer niedrigeren Staatsquote in die Nähe der Wegbereiter rechtsextremer Parteien zu rücken - spätestens hier reißt er mühelos die zuvor von ihm bereits recht niedrig gehängte Latte des guten Geschmacks. Müller klagt über das niedrige Niveau der politischen Debatte - und leistet einen Beitrag dazu, selbiges noch eine Etage tiefer zu legen. Mit mehr Ausgewogenheit, weniger Emotion und mehr Souveränität hätte es Müller vielleicht gelingen können, ein kontroverses, ernstzunehmendes Buch zu schreiben. Schade, daß es dazu nicht gekommen ist.
HANNO BECK
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Atemberaubend ist diese Abrechnung mit den Reformlügen, die unser Land schlechter machen als es ist, atemberaubend naiv, ereifert sich der entgeisterte und enttäuschte Hanno Beck. Dabei hat Albrecht Müllers Naivität, mit der er sich den "40 Denkfehlern, Mythen und Legenden" von Politik und Wirtschaft entgegen stellt, durchaus Methode, denn wer im lauten "Schlachtenlärm der ideologischen Grabenkämpfe" gehört werden will, muss nicht gut, sondern laut argumentieren. Und das tut Müller nach allen Regeln der Kunst: er bedient sich selektiv und eklektizistisch passender Statistiken und Kennziffern, lässt die Zahlen weg, die ihm nicht ins Konzept passen und "garniert das Ganze noch mit Polemik", beschreibt der Kritiker die Rezeptur des Buchs. Der Polemiker bewege sich damit auf dem gleichen Niveau wie viele seiner der Einseitigkeit und Voreingenommenheit bezichtigten "Lügen-Gegenspieler". Richtig enervierend sei die "Monotonie seiner Ursachenanalyse und die Penetranz", mit denen er seinen Lesern Keyensianismus, den er theoretisch noch nicht mal richtig beherrscht, in seiner vulgärsten Form als "alleinseligmachende Lösung aller Probleme" verkaufe. Spätestens, wenn Müller Befürworter einer niedrigen Staatsquote in die Nähe von Wegbereitern rechtsextremer Parteien stellt, dann "reißt er mühelos die zuvor von ihm bereits recht niedrig gehängte Latte des guten Geschmacks", lamentiert Beck und sein Hände-über-dem-Kopf-Zusammenschlagen klingt noch lange nach.
© Perlentaucher Medien GmbH
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