Die Vorlesungen, die Michel Foucault in den Jahren 1979 und 1980 am Collège de France gehalten hat, haben in seinem Werk eine Scharnierfunktion. Nach der Untersuchung der politischen Wahrheitsregime, die im Zentrum der großen Vorlesungen zur Gouvernementalität standen, treten hier nun die ethischen Wahrheitsregime, die Selbsttechnologien, ganz in den Fokus von Foucaults Forschungen. Ein Thema, das ihn bis zu seinem Tod beschäftigt hat.Wie kommt es, so Foucaults zentrale Frage, dass in der christlich-abendländischen Kultur von den Menschen nicht mehr nur Akte des Gehorsams und der Unterwerfung, sondern auch »Akte der Wahrheit«, des Wahrsprechens über sich selbst, über ihre Fehler, Wünsche und den Zustand ihrer Seele, verlangt werden? Zur Beantwortung dieser Frage unterzieht Foucault zunächst Sophokles' König Ödipus einer neuen Lektüre, wendet sich aber dann dem Urchristentum und dessen Praktiken der Taufe, Gewissensprüfung und Buße zu. In diesen Ritualen wird eine pastorale Ökonomie sichtbar, die um das öffentliche Geständnis kreist. Im Gegensatz zu dieser Ethik der Reinigung war die antike, heidnische Moral noch durch eine »Kunst der Existenz« bestimmt, wie sich in einem abschließenden Vergleich zeigt.Mit Die Regierung der Lebenden liegen nun Foucaults erste Untersuchungen zu diesen Fragen der Ethik und Ästhetik der Existenz vor, die den fulminanten Auftakt zu seinem Spätwerk bilden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2014Die Macht allein macht es auch nicht
Wer heute den Sieg des Liberalismus verstehen will, sollte unbedingt Michel Foucaults Vorlesungen "Die Regierung der Lebenden" aus dem Jahr 1980 lesen
Warum ist man eigentlich selber schuld, wenn man unter Kommunikation etwas anderes als Werbung versteht? Oder mit dem Begriff Rhetorik immer etwas ganz anderes verbunden hat als die Kunst, Führungskräften der Wirtschaft das werbewirksame Reden beizubringen? So könnten von heute aus, in einer extrem verschärften Periode der liberalen Regierungsform, die Fragen lauten, die Michel Foucault veranlassten, im akademischen Jahr 1979/80 seiner Vorlesung den Titel "Die Regierung der Lebenden" zu geben.
Foucault treibt dabei die Frage an, weshalb es in einer Gesellschaft wie der unseren eine so tiefe Verbindung zwischen der Ausübung von Macht und der Pflicht der Individuen gibt, sich bei den Verfahren der Wahrheitsmanifestationen, derer die Macht bedarf, selbst zu wesentlichen Akteuren zu machen. Oder einfacher gefragt: Warum gibt man sich selbst die Schuld, wenn es mit dem erfolgreichen Mitmachen am gesellschaftlichen Prozess nicht so klappt, wie es erwünscht ist oder man es sich selbst erhofft hat? Warum konnte der Foucault noch in den Ohren klingende Slogan der 68er-Revolte, "Macht kaputt, was euch kaputt macht", so schnell in eine Ära der Selbstzweifel und falschen Selbstvergewisserung in der körperökonomischen Selbstoptimierung umkippen?
Foucaults Antwort auf diese Fragen lautet: Weil es keine Macht ohne Wahrheit gibt. Jede Machtausübung ist oder verbindet sich selbst mit einer Wahrheitsproduktion. Mit einer bestimmten Form der Wahrheit, die immer über die bloße Form der Macht hinausreicht und dadurch die Regierten an etwas teilhaben lässt, das nicht allein die Macht ist. Es ist der von der Macht produzierte Überschuss der Wahrheit, der die Regierten im Bann der Macht hält. Foucault findet diesen Wahrheitsüberschuss selbst in den Terrorregimen des alten Ostblocks. Er nennt ihn das "Prinzip Solschenizyns". Nach dem russischen Schriftsteller und Dissidenten Alexander Solschenizyn konnten sich die sozialistischen Systeme genau deshalb halten, weil jedermann wusste; nicht weil die Regierten nicht wussten, was vor sich geht, sondern im Gegenteil, gerade weil sie wussten, was vor sich geht, bewegten sich die Dinge nicht. Das sei, so Foucault, das Prinzip des Terrors. Der Terror sei keine Regierungskunst, die ihre Ziele, ihre Motive und ihre Mechanismen geheim halte. Innerhalb des Terrors sei es gerade die Wahrheit und nicht die Lüge, die die Menschen und Umstände lähmte.
Foucault wendet diese kurze, aber sehr konzentrierte Charakteristik der östlichen Terrorregime gegen einen berühmten Satz von Rosa Luxemburg. "Wenn jedermann wüsste", hatte sie geschrieben, "würde sich die kapitalistische Ordnung keine vierundzwanzig Stunden halten." So wie Foucault diesen Satz, verbunden mit dem Prinzip Solschenizyns, vorführt, löst er sich zwar nicht in Luft auf, wird aber zum schreienden Kontrapunkt dessen, worauf es Foucault ankommt. Allein mit dem Wissen ändert sich gar nichts, im Gegenteil, gerade mit dem Wissen, das als Teil einer Wahrheit fungiert, funktioniert die Macht. Aber das sind nur Nebensachen. Man merkt hier in den Vorlesungen schon, dass Foucault dieser ganze reale Sozialismus nur noch nervt. Er erwähnt ihn nur der Vollständigkeit halber, schließlich gab es den Ostblock noch. Für Foucault sind das aber vergilbende oder schon vergilbte Angelegenheiten. Das Gleiche gilt für die klassische linke Ideologiekritik. Sie wird nur erwähnt, um sie abzulehnen.
Die Ideologiekritik scheitere schon an ihrem klassischen Beispiel, an der Religion. Es sei nämlich schlicht nicht wahr, dass die Menschen sich leichter im Diesseits regieren ließen, wenn man sie auf ein jenseitiges Paradies verwiese. Foucault erwähnt kurz den Zusammenhang von Religion und Revolution, ohne allerdings weiter darauf einzugehen, obwohl er damit in mehrfacher Hinsicht beim Kern seines Themas angekommen ist. Was er aber wahrscheinlich 1980 in Paris auch nicht musste, weil einer seiner größten politischen Fehler noch in Erinnerung war. Foucault hatte 1978 die iranisch-islamische Revolution des Ajatollah Chomeini begeistert begrüßt und mit einigen Texten begleitet, die ihm bis heute nachhängen. 1980 war aus der Begeisterung bereits kritische Ablehnung geworden, die ihn aber nicht zum Anti-Islamisten heutigen Typs werden ließ, sondern immer mehr in sein eigentliches Regierungsthema stürzte, das des Liberalismus.
Foucault fasste den Liberalismus nicht als Wirtschaftstheorie oder als politische Doktrin auf, sondern als eine bestimmte rationale Art des Regierens. Eine Art des Regierens, die genau in dem Sinn, in dem Foucault sie verstand, heute die gesamte westliche Welt beherrscht. Und genau in dem Versuch, den liberal-rationalen Typ der Regierung in seiner Herkunft zu beschreiben, liegt die schon ungeheuerlich zu nennende Aktualität dieser Vorlesungen.
Foucault war geradezu körperlich in die Macht des Liberalismus hineingezogen worden. Auch wenn er den Pariser Mai 1968 nicht erlebt hatte, weil er in Algerien lehrte, wurde er in dessen Folgen hineingezogen. Er gründete eine Gefängnisgruppe, die sich mit den Gefangenen selbst als Sprecher für eine Gefängnisreform einsetzte, und sympathisierte aktiv mit maoistischen Gruppen - bis diese linksradikale Phase im Deutschen Herbst 1977 am Savignyplatz in West-Berlin in einer kurzzeitigen Verhaftung kulminierte. Während des Hotelfrühstücks werden Foucault und sein Freund Daniel Defert sowie die Verleger des Merve-Verlags, Heidi Paris und Peter Gente, von fünfzehn Polizisten mit Maschinengewehren umstellt, kontrolliert und auf die Wache abgeführt. Der Grund war, dass ein Gast am Nachbartisch Heidi Paris mit einer RAF-Terroristin verwechselt hatte und die vier sich dazu noch über ein gerade in Paris erschienenes Buch von Ulrike Meinhof unterhalten hatten.
Für Foucault war mit dem deutschen Herbst aber nicht nur ein bestimmter radikaler Aktivismus gescheitert, für ihn hatten auch die Analysen der Radikalen ihr Objekt, die Regierungen verfehlt. Zwischen 1977 und 1979 hält er dann Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität. In der ersten Reihe setzt er sich dabei vor allem mit der Entstehung der modernen Staaten und deren Staatsräson im 17. und 18. Jahrhundert auseinander. In der zweiten Reihe macht er aber eine für sich entscheidende Entdeckung: den amerikanischen und westdeutschen Neoliberalismus der Nachkriegszeit. Dabei ist er vor allem von der westdeutschen Wirtschaftsdemokratie und deren Galionsfigur Ludwig Erhard so fasziniert, dass einige Interpreten nach dem Erscheinen der Vorlesung Foucault schon für einen Liberalen halten wollten.
Aber Foucault interessierte der Liberalismus nicht als westdeutsches Erfolgsmodell, sondern als erfolgreiche Machtstruktur. Ihn beschäftigte vor allem der hohe Grad der Zustimmung, den der westdeutsche Liberalismus erlangt hatte. Und die Art, wie sich der Liberalismus in den Köpfen festsetzte, sie zu leiten und ihr Verhalten so zu lenken verstand, dass diese Gesellschaft, die noch vor nicht so langer Zeit für die zivilisierte westliche Welt das Letzte war, wieder respektiert wurde und zu einer Führungsmacht aufstieg.
Der Witz von Foucaults Analyse ist, dass er den Erfolg des Erhardschen Liberalismus als Regierungsform in der Subjektivierung der Wahrheit findet. Indem der Liberalismus die Wahrheit auf Wohlstand und Erfolg der Individuen lenkt und sie daran misst, entzieht er die Individuen gleichzeitig der völkischen Tradition und macht Westdeutschland wieder reputationsfähig. Gleichzeitig wirft er die Menschen mit ihrer subjektiven Wahrheitsbindung aber auch auf sich selbst zurück, ohne sie aus der Regierung zu entlassen. Was Foucault Ende der siebziger Jahre schon ziemlich deutlich sieht: dass damit vor allem die Regierungen sich selbst sozial entlasten, ohne auch nur einen Hauch ihrer Macht zu verlieren. Foucault fragt daher, woher diese Ökonomie der Wahrheitsfindung im Selbst kommt. Und findet sie vor allem in den Texten des frühen Christentums von den Kirchenvätern bis zu den mittelalterlichen Theologen. Er ist damit nicht der Erste, aber wie er zum Beispiel am Bußsakrament herausarbeitet, wie es die subjektive Wahrheit installiert, ist schlicht wunderbar.
Das Bußsakrament umfasste drei Teile: die Reue, die Wiedergutmachung, das heißt den Akt, durch den man Buße tut. Und zwischen diesen beiden lag jener Teil, den die Theologen den "actus veritatis", den Wahrheitsakt, nennen. In diesem Akt bestätigte der zur Buße Angetretene seine Verfehlungen, indem er sie ausdrücklich formulierte. Der Wahrheitsakt ist in der Theologie der Buße also das Bekenntnis der eigenen Verfehlungen. Für Foucault wird daraus über einen hochkomplizierten Prozess der Ökonomisierung der Heilslehre der machtvolle Trick der liberalen Regierungsform. Jener Mechanismus, der noch in der größten Schuldlosigkeit die Subjekte die Wahrheit des Fehlers bei sich selbst suchen lässt.
CORD RIECHELMANN
Michel Foucault: "Die Regierung der Lebenden - Vorlesungen am Collège de France 1979-1980". Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp, 496 Seiten, 48 Euro
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Wer heute den Sieg des Liberalismus verstehen will, sollte unbedingt Michel Foucaults Vorlesungen "Die Regierung der Lebenden" aus dem Jahr 1980 lesen
Warum ist man eigentlich selber schuld, wenn man unter Kommunikation etwas anderes als Werbung versteht? Oder mit dem Begriff Rhetorik immer etwas ganz anderes verbunden hat als die Kunst, Führungskräften der Wirtschaft das werbewirksame Reden beizubringen? So könnten von heute aus, in einer extrem verschärften Periode der liberalen Regierungsform, die Fragen lauten, die Michel Foucault veranlassten, im akademischen Jahr 1979/80 seiner Vorlesung den Titel "Die Regierung der Lebenden" zu geben.
Foucault treibt dabei die Frage an, weshalb es in einer Gesellschaft wie der unseren eine so tiefe Verbindung zwischen der Ausübung von Macht und der Pflicht der Individuen gibt, sich bei den Verfahren der Wahrheitsmanifestationen, derer die Macht bedarf, selbst zu wesentlichen Akteuren zu machen. Oder einfacher gefragt: Warum gibt man sich selbst die Schuld, wenn es mit dem erfolgreichen Mitmachen am gesellschaftlichen Prozess nicht so klappt, wie es erwünscht ist oder man es sich selbst erhofft hat? Warum konnte der Foucault noch in den Ohren klingende Slogan der 68er-Revolte, "Macht kaputt, was euch kaputt macht", so schnell in eine Ära der Selbstzweifel und falschen Selbstvergewisserung in der körperökonomischen Selbstoptimierung umkippen?
Foucaults Antwort auf diese Fragen lautet: Weil es keine Macht ohne Wahrheit gibt. Jede Machtausübung ist oder verbindet sich selbst mit einer Wahrheitsproduktion. Mit einer bestimmten Form der Wahrheit, die immer über die bloße Form der Macht hinausreicht und dadurch die Regierten an etwas teilhaben lässt, das nicht allein die Macht ist. Es ist der von der Macht produzierte Überschuss der Wahrheit, der die Regierten im Bann der Macht hält. Foucault findet diesen Wahrheitsüberschuss selbst in den Terrorregimen des alten Ostblocks. Er nennt ihn das "Prinzip Solschenizyns". Nach dem russischen Schriftsteller und Dissidenten Alexander Solschenizyn konnten sich die sozialistischen Systeme genau deshalb halten, weil jedermann wusste; nicht weil die Regierten nicht wussten, was vor sich geht, sondern im Gegenteil, gerade weil sie wussten, was vor sich geht, bewegten sich die Dinge nicht. Das sei, so Foucault, das Prinzip des Terrors. Der Terror sei keine Regierungskunst, die ihre Ziele, ihre Motive und ihre Mechanismen geheim halte. Innerhalb des Terrors sei es gerade die Wahrheit und nicht die Lüge, die die Menschen und Umstände lähmte.
Foucault wendet diese kurze, aber sehr konzentrierte Charakteristik der östlichen Terrorregime gegen einen berühmten Satz von Rosa Luxemburg. "Wenn jedermann wüsste", hatte sie geschrieben, "würde sich die kapitalistische Ordnung keine vierundzwanzig Stunden halten." So wie Foucault diesen Satz, verbunden mit dem Prinzip Solschenizyns, vorführt, löst er sich zwar nicht in Luft auf, wird aber zum schreienden Kontrapunkt dessen, worauf es Foucault ankommt. Allein mit dem Wissen ändert sich gar nichts, im Gegenteil, gerade mit dem Wissen, das als Teil einer Wahrheit fungiert, funktioniert die Macht. Aber das sind nur Nebensachen. Man merkt hier in den Vorlesungen schon, dass Foucault dieser ganze reale Sozialismus nur noch nervt. Er erwähnt ihn nur der Vollständigkeit halber, schließlich gab es den Ostblock noch. Für Foucault sind das aber vergilbende oder schon vergilbte Angelegenheiten. Das Gleiche gilt für die klassische linke Ideologiekritik. Sie wird nur erwähnt, um sie abzulehnen.
Die Ideologiekritik scheitere schon an ihrem klassischen Beispiel, an der Religion. Es sei nämlich schlicht nicht wahr, dass die Menschen sich leichter im Diesseits regieren ließen, wenn man sie auf ein jenseitiges Paradies verwiese. Foucault erwähnt kurz den Zusammenhang von Religion und Revolution, ohne allerdings weiter darauf einzugehen, obwohl er damit in mehrfacher Hinsicht beim Kern seines Themas angekommen ist. Was er aber wahrscheinlich 1980 in Paris auch nicht musste, weil einer seiner größten politischen Fehler noch in Erinnerung war. Foucault hatte 1978 die iranisch-islamische Revolution des Ajatollah Chomeini begeistert begrüßt und mit einigen Texten begleitet, die ihm bis heute nachhängen. 1980 war aus der Begeisterung bereits kritische Ablehnung geworden, die ihn aber nicht zum Anti-Islamisten heutigen Typs werden ließ, sondern immer mehr in sein eigentliches Regierungsthema stürzte, das des Liberalismus.
Foucault fasste den Liberalismus nicht als Wirtschaftstheorie oder als politische Doktrin auf, sondern als eine bestimmte rationale Art des Regierens. Eine Art des Regierens, die genau in dem Sinn, in dem Foucault sie verstand, heute die gesamte westliche Welt beherrscht. Und genau in dem Versuch, den liberal-rationalen Typ der Regierung in seiner Herkunft zu beschreiben, liegt die schon ungeheuerlich zu nennende Aktualität dieser Vorlesungen.
Foucault war geradezu körperlich in die Macht des Liberalismus hineingezogen worden. Auch wenn er den Pariser Mai 1968 nicht erlebt hatte, weil er in Algerien lehrte, wurde er in dessen Folgen hineingezogen. Er gründete eine Gefängnisgruppe, die sich mit den Gefangenen selbst als Sprecher für eine Gefängnisreform einsetzte, und sympathisierte aktiv mit maoistischen Gruppen - bis diese linksradikale Phase im Deutschen Herbst 1977 am Savignyplatz in West-Berlin in einer kurzzeitigen Verhaftung kulminierte. Während des Hotelfrühstücks werden Foucault und sein Freund Daniel Defert sowie die Verleger des Merve-Verlags, Heidi Paris und Peter Gente, von fünfzehn Polizisten mit Maschinengewehren umstellt, kontrolliert und auf die Wache abgeführt. Der Grund war, dass ein Gast am Nachbartisch Heidi Paris mit einer RAF-Terroristin verwechselt hatte und die vier sich dazu noch über ein gerade in Paris erschienenes Buch von Ulrike Meinhof unterhalten hatten.
Für Foucault war mit dem deutschen Herbst aber nicht nur ein bestimmter radikaler Aktivismus gescheitert, für ihn hatten auch die Analysen der Radikalen ihr Objekt, die Regierungen verfehlt. Zwischen 1977 und 1979 hält er dann Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität. In der ersten Reihe setzt er sich dabei vor allem mit der Entstehung der modernen Staaten und deren Staatsräson im 17. und 18. Jahrhundert auseinander. In der zweiten Reihe macht er aber eine für sich entscheidende Entdeckung: den amerikanischen und westdeutschen Neoliberalismus der Nachkriegszeit. Dabei ist er vor allem von der westdeutschen Wirtschaftsdemokratie und deren Galionsfigur Ludwig Erhard so fasziniert, dass einige Interpreten nach dem Erscheinen der Vorlesung Foucault schon für einen Liberalen halten wollten.
Aber Foucault interessierte der Liberalismus nicht als westdeutsches Erfolgsmodell, sondern als erfolgreiche Machtstruktur. Ihn beschäftigte vor allem der hohe Grad der Zustimmung, den der westdeutsche Liberalismus erlangt hatte. Und die Art, wie sich der Liberalismus in den Köpfen festsetzte, sie zu leiten und ihr Verhalten so zu lenken verstand, dass diese Gesellschaft, die noch vor nicht so langer Zeit für die zivilisierte westliche Welt das Letzte war, wieder respektiert wurde und zu einer Führungsmacht aufstieg.
Der Witz von Foucaults Analyse ist, dass er den Erfolg des Erhardschen Liberalismus als Regierungsform in der Subjektivierung der Wahrheit findet. Indem der Liberalismus die Wahrheit auf Wohlstand und Erfolg der Individuen lenkt und sie daran misst, entzieht er die Individuen gleichzeitig der völkischen Tradition und macht Westdeutschland wieder reputationsfähig. Gleichzeitig wirft er die Menschen mit ihrer subjektiven Wahrheitsbindung aber auch auf sich selbst zurück, ohne sie aus der Regierung zu entlassen. Was Foucault Ende der siebziger Jahre schon ziemlich deutlich sieht: dass damit vor allem die Regierungen sich selbst sozial entlasten, ohne auch nur einen Hauch ihrer Macht zu verlieren. Foucault fragt daher, woher diese Ökonomie der Wahrheitsfindung im Selbst kommt. Und findet sie vor allem in den Texten des frühen Christentums von den Kirchenvätern bis zu den mittelalterlichen Theologen. Er ist damit nicht der Erste, aber wie er zum Beispiel am Bußsakrament herausarbeitet, wie es die subjektive Wahrheit installiert, ist schlicht wunderbar.
Das Bußsakrament umfasste drei Teile: die Reue, die Wiedergutmachung, das heißt den Akt, durch den man Buße tut. Und zwischen diesen beiden lag jener Teil, den die Theologen den "actus veritatis", den Wahrheitsakt, nennen. In diesem Akt bestätigte der zur Buße Angetretene seine Verfehlungen, indem er sie ausdrücklich formulierte. Der Wahrheitsakt ist in der Theologie der Buße also das Bekenntnis der eigenen Verfehlungen. Für Foucault wird daraus über einen hochkomplizierten Prozess der Ökonomisierung der Heilslehre der machtvolle Trick der liberalen Regierungsform. Jener Mechanismus, der noch in der größten Schuldlosigkeit die Subjekte die Wahrheit des Fehlers bei sich selbst suchen lässt.
CORD RIECHELMANN
Michel Foucault: "Die Regierung der Lebenden - Vorlesungen am Collège de France 1979-1980". Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp, 496 Seiten, 48 Euro
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»Wer heute den Sieg des Liberalismus verstehen will, sollte unbedingt Michel Foucaults Vorlesungen Die Regierung der Lebenden aus dem Jahr 1980 lesen.« Cord Riechelmann Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20140713