Das Leben am Beginn des Industriezeitalters war hart, und viele Menschen tranken Unmengen von Alkohol, um das Elend zu vergessen so lautet die gängige Forschungsmeinung. Dass alles ganz anders war, belegt die Studie von Gunther Hirschfelder. Mit seiner Untersuchung der Trinkgewohnheiten nimmt der Autor den Kulturwandel der Zeit zwischen 1700 und 1850 in den Blick. Im Fokus stehen die beiden frühneuzeitlichen Zentren schlechthin: das rheinische Aachen und das nordenglische Manchester, die erste Fabrikstadt der Welt. Als einbändige Ausgabe ist das Werk schon im Frühjahr 2002 angekündigt worden. Wegen zahlreicher Überarbeitungen wird es jetzt in zwei Bänden vorgelegt, die sukzessive erscheinen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2004Der Wandel beim Bechern in Aachen
Einer sitzt daheim, trinkt ein Bier, denkt: Schaut ja keiner zu, und trinkt noch eins. Aber eben denkste. Der Wissenschaftler vor dem Fenster auf dem Trockenen steht, reckt seinen Hals und macht sich Notizen. Gunther Hirschfelder hat das Ergebnis seiner Beobachtungen in dem belebenden Buch "Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700 bis 1850). Die Region Aachen" (Böhlau Verlag, Köln 2004. 375 S., geb., 44, 90 [Euro]) vorgelegt. Es handelt sich um den zweiten Band einer vergleichenden Studie, deren erster Band den Alkoholfluß in Manchester in jenen Jahrzehnten behandelt hat. Eine Schnaps-Idee? Ein Desiderat der Forschung. Schauen wir nach Aachen, wo es auch nur ähnlich herging wie in Manchester. Die stolze Domstadt war ein Zentrum der Industrialisierung im Westen Deutschlands. Früher hingen die Rheinländer in der Kneipe. Schätzungen zufolge kam in der Region Aachen im achtzehnten Jahrhundert eine Gaststätte auf 46 Einwohner. Der Aachener fand ohne Drängelei seinen angestammten Platz. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gingen doppelt so viele Aachener rein. Dann kam der Sommer, die Gaststätten waren bis 23 Uhr geöffnet - im Winter bis 22 Uhr. Wenn es nach der Sperrstunde hoch herging, schaute ein Wachtmeister vorbei und machte dem Treiben der Trinker ein Ende, auch abrupt. Wir ersparen uns Auszüge aus den Polizeiberichten. Der Aachener in der Kneipe war nicht nur stumm vorm Glas und sank grübelnd in sich hinein. Es gab Musik, mitunter wurde getanzt und gesungen, die Karten wurden gezückt und die Würfel auf den Tisch geknallt. Man schaue sich heute um, wer singt in der Kneipe noch, wer tanzt? Der Landarbeiter bekam Bier zum Durstlöschen, meistens nur zur Mittagszeit. Der Bauer in der Region Aachen langte höchstens bei der Ernte öfter zum Becher hin. Die Fabrikarbeiter fanden in vielen Fabriken keinen Tropfen Alkohol mehr. 1844 schlossen die Behörden die Schankwirtschaften in den Produktionsstätten und beendeten den Getränkehandel durch die Unternehmer.
Mit dem öffentlichen Saufen war es nun endgültig vorbei. Wer etwas auf sich hielt, der betrank sich nicht mehr vor aller Augen. Nur die Elendstrinker, so Hirschfelder, im Desiderat ausharrend, schämten sich ihres Dusels nicht und kippten öffentlich ihre Schnapskannen leer. Wer so tief auf keinen Fall sinken wollte, der trat zum Trinken seinen Rückzug ins Wohnzimmer an und mußte sich dabei nicht grämen, denn er war dort gelandet, wo die Aachener Mittel- und Oberschichten standen und prosteten. In deren Kellern lagerte ein breitgefächertes Sortiment von Getränken - das fing beim holländischen Genever an, ging über zum französischen Champagner und durch den portugiesischen Likörwein und mündete in die Leckereien aus der Karibik. Jetzt überrascht Hirschfelder mit dem Hinweis: Bis über die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hinaus braute sich in den Köpfen dieser Schichten nur ein mittlerer Rausch zusammen. Ein Vollrausch habe in den zur Verfügung stehenden Quellen keinen Niederschlag gefunden. Das aber hätte Fahrtwind in die Desideratenstudie gebracht. Sozial oben wurde gerne getrunken, manchmal sogar heftiger als unten. Die Kurgäste gingen den Einheimischen als ein Beispiel für einen exzessiven Lebenswandel voran. Aachen zählte zu den führenden Badeorten Europas, es kamen viele Gäste, die waren prominent, und sie zeigten der einheimischen Oberschicht, was es hieß, ein Gelage zu feiern.
In den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, als der Mann daheim saß und sein Bier trank, könnten, wieder vorsichtigen Schätzungen zufolge, in Aachen pro Kopf rund zehn Liter Wein, knapp zehn Liter Branntwein und rund achtzig Liter Bier jährlich die Kehle hinuntergeflossen sein. So wenig Wein. Dabei war der Wein im Rheinland am Anfang der Frühen Neuzeit neben Wasser doch das wichtigste Getränk gewesen. Die katholische Kirche drückte aber vor dem trinkenden Rheinländer beide Augen zu, statt sie dem Aachener zu öffnen. Zum einen nehme der Wein, so Hirschfelder, einen festen Platz in der Liturgie ein. Welcher Pfarrer wollte da über den Weingenuß außerhalb der Kirche schimpfen? Zum anderen hätte die Kirche ihr seelsorgerisches Versagen bekundet, wenn sie sich eingestanden hätte, daß in Aachen aus irdischer Not das randvolle Glas gehoben wurde. Die katholische Kirche hat sich dem protestantischen preußischen Staat in dessen Kampagne gegen das Saufen nicht angeschlossen: Der wahre Glaube kennt keine Kompromisse.Luther hatte schon 1534 geklagt, daß ein "solcher ewiger durst" eine Plage für ganz Deutschland sein werde. In Klöstern wurde Bier gebraut und Wein hergestellt und mit beiden Gaben Handel getrieben. Der Segen über der Droge, die nicht nur in Aachen Unheil anrichtete, hing schief. Als der Vater anfing, daheim zu trinken, fing die Mutter an, abends zur Polizei zu laufen, weil der Vater ab einem gewissen Maß an Alkohol eben anfing zu randalieren und auf die Mutter und die Kinder einzuschlagen. Als er in der Kneipe trank, prügelte er sich dort, was denen daheim egal sein konnte. Früher hatten Frauen auch bereitwillig getrunken, dann aber galt das nicht mehr als schick, die Frauen zügelten sich oder wechselten zum Kaffee über. Die betrunkene rheinländische Frau, so Hirschfelder wieder, sei nicht so aggressiv gewesen wie der betrunkene rheinländische Mann. Das mag für die Bayern oder die Sachsen auch gelten. Vergleichende Studien stehen aus. Bodentief in die Flasche sah manche arme Frau, die zwar Kinder, aber keinen Mann mehr hatte und sich selbst und die Brut durchbringen mußte. Trunkenes Schicksal und Trinker in allen Schichten, Aachen für alle: Damit schließen wir die Tür zur Desideratenkammer der Forschung.
EBERHARD RATHGEB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einer sitzt daheim, trinkt ein Bier, denkt: Schaut ja keiner zu, und trinkt noch eins. Aber eben denkste. Der Wissenschaftler vor dem Fenster auf dem Trockenen steht, reckt seinen Hals und macht sich Notizen. Gunther Hirschfelder hat das Ergebnis seiner Beobachtungen in dem belebenden Buch "Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700 bis 1850). Die Region Aachen" (Böhlau Verlag, Köln 2004. 375 S., geb., 44, 90 [Euro]) vorgelegt. Es handelt sich um den zweiten Band einer vergleichenden Studie, deren erster Band den Alkoholfluß in Manchester in jenen Jahrzehnten behandelt hat. Eine Schnaps-Idee? Ein Desiderat der Forschung. Schauen wir nach Aachen, wo es auch nur ähnlich herging wie in Manchester. Die stolze Domstadt war ein Zentrum der Industrialisierung im Westen Deutschlands. Früher hingen die Rheinländer in der Kneipe. Schätzungen zufolge kam in der Region Aachen im achtzehnten Jahrhundert eine Gaststätte auf 46 Einwohner. Der Aachener fand ohne Drängelei seinen angestammten Platz. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gingen doppelt so viele Aachener rein. Dann kam der Sommer, die Gaststätten waren bis 23 Uhr geöffnet - im Winter bis 22 Uhr. Wenn es nach der Sperrstunde hoch herging, schaute ein Wachtmeister vorbei und machte dem Treiben der Trinker ein Ende, auch abrupt. Wir ersparen uns Auszüge aus den Polizeiberichten. Der Aachener in der Kneipe war nicht nur stumm vorm Glas und sank grübelnd in sich hinein. Es gab Musik, mitunter wurde getanzt und gesungen, die Karten wurden gezückt und die Würfel auf den Tisch geknallt. Man schaue sich heute um, wer singt in der Kneipe noch, wer tanzt? Der Landarbeiter bekam Bier zum Durstlöschen, meistens nur zur Mittagszeit. Der Bauer in der Region Aachen langte höchstens bei der Ernte öfter zum Becher hin. Die Fabrikarbeiter fanden in vielen Fabriken keinen Tropfen Alkohol mehr. 1844 schlossen die Behörden die Schankwirtschaften in den Produktionsstätten und beendeten den Getränkehandel durch die Unternehmer.
Mit dem öffentlichen Saufen war es nun endgültig vorbei. Wer etwas auf sich hielt, der betrank sich nicht mehr vor aller Augen. Nur die Elendstrinker, so Hirschfelder, im Desiderat ausharrend, schämten sich ihres Dusels nicht und kippten öffentlich ihre Schnapskannen leer. Wer so tief auf keinen Fall sinken wollte, der trat zum Trinken seinen Rückzug ins Wohnzimmer an und mußte sich dabei nicht grämen, denn er war dort gelandet, wo die Aachener Mittel- und Oberschichten standen und prosteten. In deren Kellern lagerte ein breitgefächertes Sortiment von Getränken - das fing beim holländischen Genever an, ging über zum französischen Champagner und durch den portugiesischen Likörwein und mündete in die Leckereien aus der Karibik. Jetzt überrascht Hirschfelder mit dem Hinweis: Bis über die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hinaus braute sich in den Köpfen dieser Schichten nur ein mittlerer Rausch zusammen. Ein Vollrausch habe in den zur Verfügung stehenden Quellen keinen Niederschlag gefunden. Das aber hätte Fahrtwind in die Desideratenstudie gebracht. Sozial oben wurde gerne getrunken, manchmal sogar heftiger als unten. Die Kurgäste gingen den Einheimischen als ein Beispiel für einen exzessiven Lebenswandel voran. Aachen zählte zu den führenden Badeorten Europas, es kamen viele Gäste, die waren prominent, und sie zeigten der einheimischen Oberschicht, was es hieß, ein Gelage zu feiern.
In den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, als der Mann daheim saß und sein Bier trank, könnten, wieder vorsichtigen Schätzungen zufolge, in Aachen pro Kopf rund zehn Liter Wein, knapp zehn Liter Branntwein und rund achtzig Liter Bier jährlich die Kehle hinuntergeflossen sein. So wenig Wein. Dabei war der Wein im Rheinland am Anfang der Frühen Neuzeit neben Wasser doch das wichtigste Getränk gewesen. Die katholische Kirche drückte aber vor dem trinkenden Rheinländer beide Augen zu, statt sie dem Aachener zu öffnen. Zum einen nehme der Wein, so Hirschfelder, einen festen Platz in der Liturgie ein. Welcher Pfarrer wollte da über den Weingenuß außerhalb der Kirche schimpfen? Zum anderen hätte die Kirche ihr seelsorgerisches Versagen bekundet, wenn sie sich eingestanden hätte, daß in Aachen aus irdischer Not das randvolle Glas gehoben wurde. Die katholische Kirche hat sich dem protestantischen preußischen Staat in dessen Kampagne gegen das Saufen nicht angeschlossen: Der wahre Glaube kennt keine Kompromisse.Luther hatte schon 1534 geklagt, daß ein "solcher ewiger durst" eine Plage für ganz Deutschland sein werde. In Klöstern wurde Bier gebraut und Wein hergestellt und mit beiden Gaben Handel getrieben. Der Segen über der Droge, die nicht nur in Aachen Unheil anrichtete, hing schief. Als der Vater anfing, daheim zu trinken, fing die Mutter an, abends zur Polizei zu laufen, weil der Vater ab einem gewissen Maß an Alkohol eben anfing zu randalieren und auf die Mutter und die Kinder einzuschlagen. Als er in der Kneipe trank, prügelte er sich dort, was denen daheim egal sein konnte. Früher hatten Frauen auch bereitwillig getrunken, dann aber galt das nicht mehr als schick, die Frauen zügelten sich oder wechselten zum Kaffee über. Die betrunkene rheinländische Frau, so Hirschfelder wieder, sei nicht so aggressiv gewesen wie der betrunkene rheinländische Mann. Das mag für die Bayern oder die Sachsen auch gelten. Vergleichende Studien stehen aus. Bodentief in die Flasche sah manche arme Frau, die zwar Kinder, aber keinen Mann mehr hatte und sich selbst und die Brut durchbringen mußte. Trunkenes Schicksal und Trinker in allen Schichten, Aachen für alle: Damit schließen wir die Tür zur Desideratenkammer der Forschung.
EBERHARD RATHGEB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main