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Ende 1920er Jahre: Ein spanischer Tyrannentöter flieht als ukrainischer Kommunist in der Steppenlandschaft von Cherson vor mordlustigen Kurkulen. Ein italienisches Liebespaar in spe reist durch die Slobidische Schweiz und begegnet dort dem schlauen, mit Alkoholproblemen kämpfenden Bauer Schildkröt, dem für eine bessere Zukunft paukenden Studenten Perebyjnis und einem einstigen Holzfäller, der jetzt als guter Baumpflanzer mit zweifelhafter Biografie ein dürftiges Chalet auf den Höhen über dem Dinez bewohnt. Wird Leonardo Alceste für sich gewinnen können, und was hat es mit den ständigen…mehr

Produktbeschreibung
Ende 1920er Jahre: Ein spanischer Tyrannentöter flieht als ukrainischer Kommunist in der Steppenlandschaft von Cherson vor mordlustigen Kurkulen. Ein italienisches Liebespaar in spe reist durch die Slobidische Schweiz und begegnet dort dem schlauen, mit Alkoholproblemen kämpfenden Bauer Schildkröt, dem für eine bessere Zukunft paukenden Studenten Perebyjnis und einem einstigen Holzfäller, der jetzt als guter Baumpflanzer mit zweifelhafter Biografie ein dürftiges Chalet auf den Höhen über dem Dinez bewohnt. Wird Leonardo Alceste für sich gewinnen können, und was hat es mit den ständigen Einlassungen des Erzählers auf sich? Magie und Realismus, Menschlichkeit und politisches Spiegelkabinett sowie höchste Erzählkunst verweben sich zu einer überaus hellsichtigen Vision einer in den Fängen der Geschichte des 20sten Jahrhunderts gefangenen Ukraine. Vor dem Hintergrund einer ins Absurde überhöhten Handlung verhandelt Johansen leichtfüßig und gedankenschwer höchst aktuelle Themen. Mitseiner kunstvollen Einwebung der ukrainischen Landschaft, Geschichte und Bevölkerung in einen gesamteuropäischen Kontext (!) verdeutlicht er die Eigenständigkeit der ukrainischen Tradition, deren Bezeugung heute dringlicher denn je erscheint.
Autorenporträt
Mike Johansen (1895-1937), geboren als Mychajlo Herwasijowytsch Johansen, ist einer der wichtigsten Vertreter der als »Rosstriljane widrodschennja« (Hingerichtete Wiedergeburt) bezeichneten jungen ukrainischen Schriftsteller der 1920er Jahre, die im Terror Stalins ermordet wurden. Geleitet von der Vision einer in der westeuropäischen Tradition verankerten eigenständigen ukrainischen Literatur war er eine Schlüsselfigur seiner Zeit.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Christiane Pöhlmann genießt die ironische, unterhaltsame und kluge Erzählung des ukrainischen, 1973 erschossenen Schriftstellers Mike Johansen. Darin geht es, mit reichlich "Absurdität gewürzt", scheinbar um den "Tyrannentöter" Pereira und seine letzte Jagd in der Steppe, wo ein Sonnenstich für einige Wahrnehmungsverzerrungen in der Ich-Perspektive des Erzählers sorgt. Das Nachwort hingegen, verfasst vom selben Ich-Erzähler, gibt an, dass es dabei eigentlich um die Darstellung der Landschaft gehen soll, liest die Kritikerin - sie wiederum vermutet, dass sich hinter dieser Meta-Schichtung ein "Kommentar auf den 'Kamerad Proletariat'" verbirgt, in dem Johansen die Menschen zu Zeiten des politischen Umbruchs als bloße "Staffage" in den Hintergrund rücken lässt, wie Pöhlmann analysiert. Trotz dieser narrativen Komplexität, die auch immer wieder die Fiktion als solche kenntlich mache, handelt es sich für Pöhlmann aber um eine "vergnügliche" Lektüre. Auch die deutsche Übersetzung und die "sorgfältig" edierte Ausgabe lobt sie.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2023

Billard mit Majakowski
Ein burleskes Vexierspiel mit sehr langem Titel, verfasst von dem 1937 erschossenen Ukrainer Mike Johansen

Eine kleine Anekdote, die ein grelles Schlaglicht wirft: Wladimir Majakowski und Mike Johansen, zwei ausgewiesene Billardgrößen, traten einst zum Duell am grün befilzten Tisch an. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel, gekreidete Queues, ein stundenlanger Kampf. Schließlich trug Johansen den Sieg davon. Majakowski sollte unter den Tisch kriechen und von dort unten Gedichte Puschkins vortragen, doch wie er dann am Boden lag, Kopf und Füße unter dem Tisch hervorlugten, da führte Johansen einen wilden Tanz um dieses sonderbare Kunstwerk auf. Eine Unbeschwertheit, eine Albernheit, die für kurze Zeit nach der Oktoberrevolution in manchen literarischen Kreisen typisch war - bis sie ein jähes Ende fand: Majakowski begeht 1930 Selbstmord, Johansen wird 1937 erschossen.

Die beiden Schicksale sollten so exemplarisch werden, dass ein 1959 in Paris veröffentlichter Band mit ukrainischer Lyrik und Prosa den Titel trug: "Die erschossene Wiedergeburt". Hunderte ukrainische Angehörige der Intelligenzija wurden entweder hingerichtet oder wählten (im GULag) den Suizid.

Johansen war eine schillernde Gestalt und bewegte sich in mehreren Sprachen wie ein Fisch im Wasser. Bis 1917 schrieb er meist auf Deutsch oder Russisch, danach strikt auf Ukrainisch. Er konnte heute im Sportdress auftreten, morgen im Anzug und mit Fliege. Als passionierter Jäger besaß er einen rotfelligen irischen Setter, der in verschiedenen Gedichten, Kinderbüchern und Erzählungen von ihm auftaucht, so auch in "Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz". Darin leistet er als Rodolfo dem Tyrannentöter Pereira Gesellschaft, der vor seiner letzten Tat, dem Mord an Primo de Rivera, und dem unweigerlich anschließenden Galgentod noch einmal auf die Jagd gehen will. Rodolfo hatte "bereits des Öfteren ein erstaunliches Gespür in Jagdangelegenheiten bewiesen" und "tippte mit seiner Nase ohne Zögern auf die ferne Steppe". Dort schmurgelt die Sonne dem Tyrannentöter rasch das Gedächtnis weg, sodass er sich für einen gewissen Danko, "Mitglied des steppischen Bezirksverwaltungskomitees", hält. Die Jagdwaffe hatte dieser Herr Alias in Barcelona erstanden, wo ein gewisser Doktor Leonardo Pazzi sie verpfändet hatte. Später träumt Rodolfos Herrchen von Doktor Leonardo, Alceste und ihrem langen Weg zueinander . . .

Allein die knappe Wiedergabe des Inhalts lässt ahnen, dass es in diesem Text nicht um die Entwicklung einer Handlung geht. Der auktoriale Erzähler, der sich immer wieder direkt an die Leserschaft wendet und damit einer Illusionsdurchbrechung Vorschub leistet, behält allerdings die Fäden in der Hand, selbst wenn er seine Episoden noch so beherzt mit Absurdität würzt. Auf diese Weise etabliert er für seinen Text eigene Regeln: Mit einem tödlichen Axthieb ist längst nicht das letzte Wort gesprochen, denn Danko stirbt zwar, ersteht aber irgendwann auch wieder auf. Der Erzähler behauptet von sich, er "liebe und achte das Proletariat", weil es sein "erster Kamerad in der Kindheit war", der ihm zudem treu geblieben sei, während alle anderen Kameraden zu "Barbaren, Professoren, Buchhaltern oder Literaturhistorikern wurden". Im von ebendiesem Erzähler verfassten Nachwort räumt dieser ein, alle an der Nase herumgeführt zu haben, indem er vorgab, "echte Menschen und ihre echte Reisen" zu schildern, es ihm aber eigentlich darum ging, "die echten Landschaften der Steppe und der Waldsteppe" zu zeigen. Ein Schelm, wer Arges dabei wähnt.

Denn nicht nur, dass die Fiktion immer wieder als solche kenntlich gemacht wird - "wir haben viel Zeit, und die Gesetze der Handlung sind unerbittlich" -, nicht nur, dass "echte Menschen" im "echten Leben" eher selten wiederauferstehen, nein, dieses Anliegen könnte durchaus auch als Kommentar auf den "Kamerad Proletariat" verstanden werden: In Zeiten des großen Umbruchs und des Aufbaus geraten die Menschen bei Johansen zur dekorativen Staffage.

Für diese Lesart spricht einiges, aber sie drängt sich nicht auf, dazu ist Johansens Text nicht scharf genug. Er ist jedoch eine vergnügliche Lektüre und nimmt all die Phantasie in Anspruch, die Literatur durch den sozialistischen Realismus per Dekret genommen werden sollte. Die deutsche Übersetzung ist gelungen, die Ausgabe sorgfältig ediert. Damit ist wohl der Wunsch in Erfüllung gegangen, der im Nachwort genannt wird: "Und wenn Sie, verständiger Leser und schöne Leserin, dieses Landschaftsbuch bis zum Ende gelesen haben, ohne einzuschlafen", dann gilt dem Erzähler seine "Aufgabe als erfüllt (wenngleich er sich nicht mehr ganz sicher ist, ob es einen Sinn hatte, sich diese Aufgabe zu stellen)." Doch, es hatte, das sei versichert. CHRISTIANE PÖHLMANN

Mike Johansen: "Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz".

Aus dem Ukrainischen von Johannes Queck.

Secession Verlag, Zürich 2023. 220 S., geb., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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