Die Reise ins sagenumwobene Land Amanon wird für den 'Spion ' P. zu einem Abenteuer. Denn in diesem Land gibt es - wie P. erst nach und nach feststellt - nur Frauen. Die wenigen noch vorhandenen Männer sind sozial wie sexuell völlig unterjocht. Bald schon erliegt der spionierende Missionar dieser elektrisierenden Mischung aus Verführung und Sexualität, die jedoch auch zwischenmenschliche Probleme - im Grunde die Krise unserer heutigen Zivilisation - auf überraschend originelle Art zu lösen vermag.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2006Im Irrgarten des Systems
Amazonenstaat: Yumiko Kurahashis allegorische Japan-Satire
Yumiko Kurahashi, die im vergangenen Jahr im Alter von siebzig Jahren gestorben ist, gilt als eine Pionierin des postmodernen japanischen Romans. Als studentenbewegte Nachkriegsautorin wandte sie sich ab vom traditionellen, autobiographisch-introspektiven Ich-Roman. Die antirealistische Architektur ihrer gewissermaßen über die Hintertreppe gesellschaftskritischen Literatur wurde in den sechziger Jahren kontrovers diskutiert. Bereits ihr Erstlingswerk mit dem deutschen Titel "Partei" (1960), das von den Erfahrungen und Desillusionierungen einer jungen Aktivistin in einer revolutionären Partei erzählt, bezeugt Einflüsse ihrer Vorbilder Kafka, Sartre und Camus.
Immer wieder agiert die existentialistisch angehauchte Schriftstellerin als eine stilistische Normbrecherin und moralische Grenzgängerin, die im provokationslustigen Irrgarten ihrer Prosa vorbei an den Leseerwartungen den Fesseln des Daseins entflieht. Im Science-fiction-Roman "Die Reise nach Amanon" von 1986 reflektiert die Autorin, die sich Mitte der Sechziger für zwei Jahre in den Vereinigten Staaten aufhielt, die im Amerika der damaligen Zeit aufgekommenen radikalfeministischen Ideen.
Wie viele ihrer Geschichten beginnt auch dieser Roman mit einer Ankunftsszene: Ein christlicher Missionar namens P besucht per Raumschiff das legendäre Land Amanon. Als er bei seiner Reise quer durch das Universum auf einen "riesenhaften eizellenförmigen Mikrokosmos" zusteuert und durch einen schmalen Kanal in das Innere Amanons gelangt, erschließt sich ihm das Reich erst nach und nach als Amazonenstaat und beinahe männerloses Matriarchat. Die Reproduktion obliegt der Kontrolle einer staatlichen Samenbank, hinter deren Mauern zu diesem Zweck einige wenige genetisch vorteilhafte Männer gehalten werden. Heterosexuelle Liebe gilt als illegal. Lediglich einigen Eunuchen ist es im öffentlichen Leben gestattet, niedere Verwaltungstätigkeiten zu verrichten. Als ausländischer Besucher erhält P jedoch den Status eines Staatsgasts und Zugang zum inneren Kreis des undurchsichtigen, von intriganten Eliten und Interessengruppen dominierten politischen Systems.
Im phantastischen Gewand des Zukunftsromans finden sich Personen und Versatzstücke der zeitgenössischen japanischen Gesellschaft wieder. Topoi wie Kaiserkult, Lolita-Komplex, die Zensur von Geschichtsbüchern für die Schule, Euthanasie oder die in Form der "Immortalen" zur Sprache gebrachte Überalterung der Gesellschaft werden dabei satirisch persifliert. In expressiven Bildsequenzen evoziert die Autorin die sterile und labyrinthartige Struktur der Hauptstadt Amanons, "Tokiyo": "Ihm war immer noch nicht klar, ob es sich um Straßenzüge unter freiem Himmel handelte oder um geschlossene Passagen, die sich innerhalb verschachtelter Gebäudekomplexe ins Unendliche verzweigten."
Amanon wird letztlich zum Ort eines ideologisch erstarrten und die radikalfeministischen Theorien selbstironisch hinterfragenden Utopia. Virtuos verwebt die Autorin in der Anderswelt ihrer Romane Sexualität, Religion und Revolution. Kalkulierte Schockeffekte und eine grotesk-erotische Metaphorik kennzeichnen ihr weniger in der Erzählweise weiblich-sensibles als in einer strukturell-diskursiven Hinsicht feminines Werk.
Nachdem er mit konventionellen Mitteln wegen der Konkurrenz buddhistischer Sekten wenig ausrichten konnte, plant der Prediger zur Verkündigung der Botschaft der Liebe im gottes- und geschlechtslosen Universum Amanons eine Art "Männerrevolution": So wirbt der unkeusche Missionar in einem religiösen Fernsehprogramm, in dem er in Live-Sendungen mit diversen Studiopartnerinnen sein unorthodoxes Verständnis von Nächstenliebe kundtut, demonstrativ für die Erhöhung des Männeranteils und auch die Wiedereinführung des Konzepts der beiden Geschlechter.
Aber als sich mit der Popularität der Fernseh-Show auch der lange ersehnte Missionserfolg einzustellen scheint, wird Amanon von Naturkatastrophen und Vulkaneruptionen heimgesucht. Das an eine "Gebärmutter in den Wehen" erinnernde Staatswesen Amanon entpuppt sich im Epilog schließlich als gigantischer Uterus. Während die Idee eines autarken Amazonenstaats sich als Schimäre erweist, ist in dem viele Lesarten ermöglichenden Schluß aber auch das Experiment einer sexuellen Revolution in Form einer friedlichen Koexistenz der beiden Geschlechter letztlich zum Scheitern verurteilt, wie durch den dramatischen Exodus und darüber hinaus die Heimreise des Paters mit einigen seiner engsten Vertrauten symbolisiert wird.
In Kurahashis allegorischem, mit Macht, Manipulation und den Geschlechterrollen subversiv spielendem Buch werden gesellschaftliche Stereotypen geradezu systematisch ad absurdum geführt. In gekonnt aufscheinenden Entfremdungseffekten und Parodiemomenten hält Kurahashi der hedonistischen Nachkriegsgesellschaft und der Sinnkrise der Postmoderne ihren Zerrspiegel vor.
STEFFEN GNAM
Yumiko Kurahashi: "Die Reise nach Amanon". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Monika Wernitz-Sugimoto und Hiroshi Yamane. be.bra Verlag, Berlin 2006. 416 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Amazonenstaat: Yumiko Kurahashis allegorische Japan-Satire
Yumiko Kurahashi, die im vergangenen Jahr im Alter von siebzig Jahren gestorben ist, gilt als eine Pionierin des postmodernen japanischen Romans. Als studentenbewegte Nachkriegsautorin wandte sie sich ab vom traditionellen, autobiographisch-introspektiven Ich-Roman. Die antirealistische Architektur ihrer gewissermaßen über die Hintertreppe gesellschaftskritischen Literatur wurde in den sechziger Jahren kontrovers diskutiert. Bereits ihr Erstlingswerk mit dem deutschen Titel "Partei" (1960), das von den Erfahrungen und Desillusionierungen einer jungen Aktivistin in einer revolutionären Partei erzählt, bezeugt Einflüsse ihrer Vorbilder Kafka, Sartre und Camus.
Immer wieder agiert die existentialistisch angehauchte Schriftstellerin als eine stilistische Normbrecherin und moralische Grenzgängerin, die im provokationslustigen Irrgarten ihrer Prosa vorbei an den Leseerwartungen den Fesseln des Daseins entflieht. Im Science-fiction-Roman "Die Reise nach Amanon" von 1986 reflektiert die Autorin, die sich Mitte der Sechziger für zwei Jahre in den Vereinigten Staaten aufhielt, die im Amerika der damaligen Zeit aufgekommenen radikalfeministischen Ideen.
Wie viele ihrer Geschichten beginnt auch dieser Roman mit einer Ankunftsszene: Ein christlicher Missionar namens P besucht per Raumschiff das legendäre Land Amanon. Als er bei seiner Reise quer durch das Universum auf einen "riesenhaften eizellenförmigen Mikrokosmos" zusteuert und durch einen schmalen Kanal in das Innere Amanons gelangt, erschließt sich ihm das Reich erst nach und nach als Amazonenstaat und beinahe männerloses Matriarchat. Die Reproduktion obliegt der Kontrolle einer staatlichen Samenbank, hinter deren Mauern zu diesem Zweck einige wenige genetisch vorteilhafte Männer gehalten werden. Heterosexuelle Liebe gilt als illegal. Lediglich einigen Eunuchen ist es im öffentlichen Leben gestattet, niedere Verwaltungstätigkeiten zu verrichten. Als ausländischer Besucher erhält P jedoch den Status eines Staatsgasts und Zugang zum inneren Kreis des undurchsichtigen, von intriganten Eliten und Interessengruppen dominierten politischen Systems.
Im phantastischen Gewand des Zukunftsromans finden sich Personen und Versatzstücke der zeitgenössischen japanischen Gesellschaft wieder. Topoi wie Kaiserkult, Lolita-Komplex, die Zensur von Geschichtsbüchern für die Schule, Euthanasie oder die in Form der "Immortalen" zur Sprache gebrachte Überalterung der Gesellschaft werden dabei satirisch persifliert. In expressiven Bildsequenzen evoziert die Autorin die sterile und labyrinthartige Struktur der Hauptstadt Amanons, "Tokiyo": "Ihm war immer noch nicht klar, ob es sich um Straßenzüge unter freiem Himmel handelte oder um geschlossene Passagen, die sich innerhalb verschachtelter Gebäudekomplexe ins Unendliche verzweigten."
Amanon wird letztlich zum Ort eines ideologisch erstarrten und die radikalfeministischen Theorien selbstironisch hinterfragenden Utopia. Virtuos verwebt die Autorin in der Anderswelt ihrer Romane Sexualität, Religion und Revolution. Kalkulierte Schockeffekte und eine grotesk-erotische Metaphorik kennzeichnen ihr weniger in der Erzählweise weiblich-sensibles als in einer strukturell-diskursiven Hinsicht feminines Werk.
Nachdem er mit konventionellen Mitteln wegen der Konkurrenz buddhistischer Sekten wenig ausrichten konnte, plant der Prediger zur Verkündigung der Botschaft der Liebe im gottes- und geschlechtslosen Universum Amanons eine Art "Männerrevolution": So wirbt der unkeusche Missionar in einem religiösen Fernsehprogramm, in dem er in Live-Sendungen mit diversen Studiopartnerinnen sein unorthodoxes Verständnis von Nächstenliebe kundtut, demonstrativ für die Erhöhung des Männeranteils und auch die Wiedereinführung des Konzepts der beiden Geschlechter.
Aber als sich mit der Popularität der Fernseh-Show auch der lange ersehnte Missionserfolg einzustellen scheint, wird Amanon von Naturkatastrophen und Vulkaneruptionen heimgesucht. Das an eine "Gebärmutter in den Wehen" erinnernde Staatswesen Amanon entpuppt sich im Epilog schließlich als gigantischer Uterus. Während die Idee eines autarken Amazonenstaats sich als Schimäre erweist, ist in dem viele Lesarten ermöglichenden Schluß aber auch das Experiment einer sexuellen Revolution in Form einer friedlichen Koexistenz der beiden Geschlechter letztlich zum Scheitern verurteilt, wie durch den dramatischen Exodus und darüber hinaus die Heimreise des Paters mit einigen seiner engsten Vertrauten symbolisiert wird.
In Kurahashis allegorischem, mit Macht, Manipulation und den Geschlechterrollen subversiv spielendem Buch werden gesellschaftliche Stereotypen geradezu systematisch ad absurdum geführt. In gekonnt aufscheinenden Entfremdungseffekten und Parodiemomenten hält Kurahashi der hedonistischen Nachkriegsgesellschaft und der Sinnkrise der Postmoderne ihren Zerrspiegel vor.
STEFFEN GNAM
Yumiko Kurahashi: "Die Reise nach Amanon". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Monika Wernitz-Sugimoto und Hiroshi Yamane. be.bra Verlag, Berlin 2006. 416 S., geb., 26,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Schon immer sei Yumiko Kurahashi sowohl stilistisch als auch gesellschaftskritisch eine Provokateurin gewesen, informiert Steffen Gnam im Vorfeld seiner wohlwollenden Rezension. In der "Reise nach Amanon" verarbeite sie "virtuos" Erfahrungen, die sie in den 1960er Jahren mit dem Feminismus in Amerika gemacht hat, die sie aber nun in einem Utopia-Tokyo spielen lässt. In ihrer Darstellungsweise, so der Rezensent, liebe die Autorin Schockeffekte und groteske Übersteigerungen und sei alles andere als zart besaitet. Feminin beeinflusst sei Yumiko Kurahashis Science-Fiction Roman hingegen durch seine allegorisch vorgetragene Kritik an der japanischen Gesellschaft in den Bereichen Sexualität, Religion und Revolution. Der Schluss des Romans, verrät und lobt der Rezensent, lasse zudem viele Interpretationen über die Zukunft der Geschlechterrollen zu.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»In gekonnt aufscheinenden Entfremdungseffekten und Parodienmomenten hält Kurahashi der buddhistischen Nachkriegsgesellschaft und der Sinnkrise der Postmoderne ihren Zerrspiegel vor.« Frankfurter Allgemeine Zeitung »Eine originelle Satire auf das heutige Japan.« Ostthüringer Zeitung »Ein Sonderfall in ihrem Werk, schlitzohriges Phantasma durch und durch.« Leipziger Volkszeitung »Eine ebenso witzige wie eindrucksvolle Satire auf das moderne Japan ... wie auch eine recht eigensinnige Parabel auf das menschliche Zusammenleben. Lesenswert, wird aber wohl nur einen relativ kleinen Leserkreis ansprechen.« ekz-Informationsdienst