Produktdetails
- Verlag: Rotbuch Verlag
- Originaltitel: The Valparaiso Voyage
- Seitenzahl: 442
- Deutsch
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 525g
- ISBN-13: 9783434531081
- ISBN-10: 3434531084
- Artikelnr.: 11257962
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2003Hauptstadt mit Windpocken
Geld verdirbt eben doch: Dermot Bolger reist zurück nach Dublin
Dermot Bolgers Irland ist längst nicht mehr das Land der grünen Idylle, der Träume und Geschichten. In seinem Roman "Die Reise nach Valparaiso" fehlen einsame Hügellandschaften und die Guinness-Seligkeit großherziger Menschen, die jedem Unglück, vor allem der Armut, tapfer ins Gesicht lachen. Seine Figuren sind nicht mehr arm, vielmehr handeln einige von ihnen mit dreistelligen Millionensummen. Dabei scheint ihnen auch der oft beschworene keltische Sinn für Humor abhanden gekommen zu sein. Der Roman verzichtet zwar nicht auf einige Grundfesten irischer Belletristik - Familie, Friedhof und ein ausgeprägtes Bewußtsein für Schuld und Sünde -, aber im Grunde hält er eine neue Geschichte bereit: die des irischen Wirtschaftswunders, mit dem ein sozialer Wandel einherging, der in Europa seinesgleichen sucht.
Erzählt wird aus der Froschperspektive eines Mannnes, der es nicht geschafft hat, der mit um so kritischer - und neidischer - geschärftem Bewußtsein vor den Toren des großen Wohlstands steht. Brendan Brogan ist ein Spieler, der immer aufs falsche Pferd setzt und auch sonst regelmäßig die falsche Entscheidung trifft, ein Verlierer par excellence, aber keiner, der dennoch fasziniert. Zu den Qualitäten dieses Romans gehört der offenbar ganz und gar fehlende Ehrgeiz des Erzählers, den Leser für sich einzunehmen, zur Identifikation einzuladen, zu verführen. Der blasse Antiheld verachtet sich selbst, wünscht sich, einmal in die Haut eines anderen zu schlüpfen - und tut das schließlich auch.
Nach einem Zugunglück täuscht er den eigenen Tod vor, läßt Frau und Sohn zurück und taucht mit dem Paß seines verstorbenen Bruders unter. Er macht sich auf, das verlorene Paradies zu suchen, von dem ein Lied, "Die Reise nach Valparaiso", erzählt. Zehn Jahre später erfährt er vom Tod seines Vaters und kehrt zurück - wie ein Gespenst aus der Vergangenheit, für andere unkenntlich geworden durch äußere Veränderungen. Die Flucht ins vermeintliche Dorado war ebenso ernüchternd, wie es die Heimkehr nun ist. Am Grab des Vaters erinnert er sich an die Katastrophen seiner Kindheit und die Geschichte seiner Familie, die der Roman geschickt mit Facetten irischer Politik und Geschichte verknüpft.
In seiner Vergangenheit hatte Brogan vor allem Gelegenheit, den vermeintlichen Gewinnern der boomenden Baubranche mit ihren explodierenden Miet- und Grundstückspreisen bei ihren Geschäften zuzusehen. Der Vater war Planungsbeamter der Grafschaft Meath. Er ließ sich von einem mafiosen Netz lokaler Grundstücksbesitzer und Politiker in krumme Geschäfte verwickeln, verteidigte nach außen hin aber die Fassade bürgerlicher Anständigkeit. Er bewahrte nicht nur die Geheimnisse krimineller Geld- und Grundstücksgeschäfte. Auch unschöne Vorgänge in der eigenen Familie sollten verborgen bleiben: Nach dem Unfalltod seiner Frau heiratete er wieder und verbannte den Sohn in den ehemaligen Hühnerstall am Rand seines Gartens, der jahrelang zum trübseligen, einsamen Kinderzimmer werden sollte. Der Erzähler erinnert sich, wie er zum Gespött der Nachbarn und zum Prügelknaben der Stiefmutter und seiner Altersgenossen auf dem Schulhof wurde.
Später findet er heraus, daß die Identität seines Stiefbruders auf einer Lüge beruhte und daß der Tod seiner Mutter möglicherweise kein Unfalltod war. Er wächst in einem Nebel von Geheimnissen, Lügen und Täuschungen auf, die alle Lebensbereiche durchdringen. In der Welt, in der er aufgewachsen ist, sei "Betrug mehr wert als alles andere" gewesen: "Betrüge den Grafschaftsrat, das Finanzamt, den Steuerprüfer, deine Frau, deine Freunde, deine Nachbarn, dich selbst. So gewann man Respekt, je gerissener, desto besser, je hinterhältiger man war, um so weiter brachte man es." Auch der ungeliebte Sohn lernt zu lügen, zu betrügen und zurückzuschlagen: Mit trauriger Überzeugungskraft erzählt der Roman die Entwicklungsgeschichte eines mißhandelten Kindes zum mißhandelnden Erwachsenen, verknüpft mit dem sozialen Szenario einer Gesellschaft, in der alle "faule Geschäfte" machten. Der Rückblick auf das korrupte Irland von gestern ist so ernüchternd wie die Wahrnehmung der irischen veränderten Gegenwart.
Zur Zeit von Brendans Rückkehr nach Irland und seiner mühsamen Läuterung, die sich schließlich anbahnt, fliegen auf politischer Ebene die Korruptionsaffären auf und werden in Tribunalen seziert. Der Ruf der Politiker gerät ins Zwielicht, die Mächtigen müssen sich rechtfertigen. Ganz beiläufig zeigt der Roman, wie der wirtschaftliche Aufschwung Irlands die Öffnung der Gesellschaft mit sich bringt und die Zersplitterung von Autorität, Herrschaft und Respekt: Auch in Brendans Rückschau auf die Familienmisere verliert die Gestalt des Vaters an bedrohlicher Größe. Dessen Unternehmungen schrumpfen zu jämmerlichen Handlangerdiensten für "Freunde", die zwar unterdessen bis an die Spitzen der Regierung gelangten, aber ebenfalls für ihre Verbrechen bestraft werden. Das Hauptthema dieses im Grunde moralischen Romans ist gerade nicht der Mangel an Geld (der lange Zeit in der irischen Literatur omnipräsent war), sondern umgekehrt dessen plötzliche Gegenwart.
Fast nichts und niemand erscheint aus der Perspektive des Erzählers ohne Makel, auch nicht Dublin, "die unansehnlichste Hauptstadt, die sich immer weiter ausbreitet wie Windpocken", deren Sackgassen ausgestattet sind mit "Vorsicht Kinder-Schildern". Ohne in eine Verklärung der Vergangenheit zu verfallen, beschreibt er die Gesellschaft der neuen Zeit als materialistischer, anonymer, ideal- und illusionsärmer bis zum Verlust dieser Werte. Selbst die Probleme, die die massive Immigration anstelle der ehemals gewohnten Emigration mit sich bringt, werden in einer Nebenhandlung akzentuiert, ebenso wie die stigmatisierte Homosexualität.
Dabei erscheint der manchmal allzu mustergültig sozialkritische Ton des Romans als fast trotziger Versuch einer Entmystifizierung der immer noch schwärmerisch so genannten "grünen Insel". Der Roman steht geradezu exemplarisch für den Imagewandel des Landes, das besonders aus deutscher Perspektive traditionell mit der Sehnsucht nach Romantik verbunden zu sein schien. Der Autor, 1959 im Dubliner Stadtteil Finglas geboren, gehört mit Schriftstellern wie Roddy Doyle zu einer Generation irischer Autoren, die ein realistisches Bild des veränderten, heutigen Irland anstreben, das zwangsläufig auch zu einer neuen Selbstwahrnehmung führt.
MARION LÖHNDORF
Dermot Bolger: "Die Reise nach Valparaiso". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Gunkel. Rotbuch Verlag, Hamburg 2003. 443 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geld verdirbt eben doch: Dermot Bolger reist zurück nach Dublin
Dermot Bolgers Irland ist längst nicht mehr das Land der grünen Idylle, der Träume und Geschichten. In seinem Roman "Die Reise nach Valparaiso" fehlen einsame Hügellandschaften und die Guinness-Seligkeit großherziger Menschen, die jedem Unglück, vor allem der Armut, tapfer ins Gesicht lachen. Seine Figuren sind nicht mehr arm, vielmehr handeln einige von ihnen mit dreistelligen Millionensummen. Dabei scheint ihnen auch der oft beschworene keltische Sinn für Humor abhanden gekommen zu sein. Der Roman verzichtet zwar nicht auf einige Grundfesten irischer Belletristik - Familie, Friedhof und ein ausgeprägtes Bewußtsein für Schuld und Sünde -, aber im Grunde hält er eine neue Geschichte bereit: die des irischen Wirtschaftswunders, mit dem ein sozialer Wandel einherging, der in Europa seinesgleichen sucht.
Erzählt wird aus der Froschperspektive eines Mannnes, der es nicht geschafft hat, der mit um so kritischer - und neidischer - geschärftem Bewußtsein vor den Toren des großen Wohlstands steht. Brendan Brogan ist ein Spieler, der immer aufs falsche Pferd setzt und auch sonst regelmäßig die falsche Entscheidung trifft, ein Verlierer par excellence, aber keiner, der dennoch fasziniert. Zu den Qualitäten dieses Romans gehört der offenbar ganz und gar fehlende Ehrgeiz des Erzählers, den Leser für sich einzunehmen, zur Identifikation einzuladen, zu verführen. Der blasse Antiheld verachtet sich selbst, wünscht sich, einmal in die Haut eines anderen zu schlüpfen - und tut das schließlich auch.
Nach einem Zugunglück täuscht er den eigenen Tod vor, läßt Frau und Sohn zurück und taucht mit dem Paß seines verstorbenen Bruders unter. Er macht sich auf, das verlorene Paradies zu suchen, von dem ein Lied, "Die Reise nach Valparaiso", erzählt. Zehn Jahre später erfährt er vom Tod seines Vaters und kehrt zurück - wie ein Gespenst aus der Vergangenheit, für andere unkenntlich geworden durch äußere Veränderungen. Die Flucht ins vermeintliche Dorado war ebenso ernüchternd, wie es die Heimkehr nun ist. Am Grab des Vaters erinnert er sich an die Katastrophen seiner Kindheit und die Geschichte seiner Familie, die der Roman geschickt mit Facetten irischer Politik und Geschichte verknüpft.
In seiner Vergangenheit hatte Brogan vor allem Gelegenheit, den vermeintlichen Gewinnern der boomenden Baubranche mit ihren explodierenden Miet- und Grundstückspreisen bei ihren Geschäften zuzusehen. Der Vater war Planungsbeamter der Grafschaft Meath. Er ließ sich von einem mafiosen Netz lokaler Grundstücksbesitzer und Politiker in krumme Geschäfte verwickeln, verteidigte nach außen hin aber die Fassade bürgerlicher Anständigkeit. Er bewahrte nicht nur die Geheimnisse krimineller Geld- und Grundstücksgeschäfte. Auch unschöne Vorgänge in der eigenen Familie sollten verborgen bleiben: Nach dem Unfalltod seiner Frau heiratete er wieder und verbannte den Sohn in den ehemaligen Hühnerstall am Rand seines Gartens, der jahrelang zum trübseligen, einsamen Kinderzimmer werden sollte. Der Erzähler erinnert sich, wie er zum Gespött der Nachbarn und zum Prügelknaben der Stiefmutter und seiner Altersgenossen auf dem Schulhof wurde.
Später findet er heraus, daß die Identität seines Stiefbruders auf einer Lüge beruhte und daß der Tod seiner Mutter möglicherweise kein Unfalltod war. Er wächst in einem Nebel von Geheimnissen, Lügen und Täuschungen auf, die alle Lebensbereiche durchdringen. In der Welt, in der er aufgewachsen ist, sei "Betrug mehr wert als alles andere" gewesen: "Betrüge den Grafschaftsrat, das Finanzamt, den Steuerprüfer, deine Frau, deine Freunde, deine Nachbarn, dich selbst. So gewann man Respekt, je gerissener, desto besser, je hinterhältiger man war, um so weiter brachte man es." Auch der ungeliebte Sohn lernt zu lügen, zu betrügen und zurückzuschlagen: Mit trauriger Überzeugungskraft erzählt der Roman die Entwicklungsgeschichte eines mißhandelten Kindes zum mißhandelnden Erwachsenen, verknüpft mit dem sozialen Szenario einer Gesellschaft, in der alle "faule Geschäfte" machten. Der Rückblick auf das korrupte Irland von gestern ist so ernüchternd wie die Wahrnehmung der irischen veränderten Gegenwart.
Zur Zeit von Brendans Rückkehr nach Irland und seiner mühsamen Läuterung, die sich schließlich anbahnt, fliegen auf politischer Ebene die Korruptionsaffären auf und werden in Tribunalen seziert. Der Ruf der Politiker gerät ins Zwielicht, die Mächtigen müssen sich rechtfertigen. Ganz beiläufig zeigt der Roman, wie der wirtschaftliche Aufschwung Irlands die Öffnung der Gesellschaft mit sich bringt und die Zersplitterung von Autorität, Herrschaft und Respekt: Auch in Brendans Rückschau auf die Familienmisere verliert die Gestalt des Vaters an bedrohlicher Größe. Dessen Unternehmungen schrumpfen zu jämmerlichen Handlangerdiensten für "Freunde", die zwar unterdessen bis an die Spitzen der Regierung gelangten, aber ebenfalls für ihre Verbrechen bestraft werden. Das Hauptthema dieses im Grunde moralischen Romans ist gerade nicht der Mangel an Geld (der lange Zeit in der irischen Literatur omnipräsent war), sondern umgekehrt dessen plötzliche Gegenwart.
Fast nichts und niemand erscheint aus der Perspektive des Erzählers ohne Makel, auch nicht Dublin, "die unansehnlichste Hauptstadt, die sich immer weiter ausbreitet wie Windpocken", deren Sackgassen ausgestattet sind mit "Vorsicht Kinder-Schildern". Ohne in eine Verklärung der Vergangenheit zu verfallen, beschreibt er die Gesellschaft der neuen Zeit als materialistischer, anonymer, ideal- und illusionsärmer bis zum Verlust dieser Werte. Selbst die Probleme, die die massive Immigration anstelle der ehemals gewohnten Emigration mit sich bringt, werden in einer Nebenhandlung akzentuiert, ebenso wie die stigmatisierte Homosexualität.
Dabei erscheint der manchmal allzu mustergültig sozialkritische Ton des Romans als fast trotziger Versuch einer Entmystifizierung der immer noch schwärmerisch so genannten "grünen Insel". Der Roman steht geradezu exemplarisch für den Imagewandel des Landes, das besonders aus deutscher Perspektive traditionell mit der Sehnsucht nach Romantik verbunden zu sein schien. Der Autor, 1959 im Dubliner Stadtteil Finglas geboren, gehört mit Schriftstellern wie Roddy Doyle zu einer Generation irischer Autoren, die ein realistisches Bild des veränderten, heutigen Irland anstreben, das zwangsläufig auch zu einer neuen Selbstwahrnehmung führt.
MARION LÖHNDORF
Dermot Bolger: "Die Reise nach Valparaiso". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Gunkel. Rotbuch Verlag, Hamburg 2003. 443 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Marion Löhndorf ist ziemlich beeindruckt, dass in diesem Roman einmal nicht die Romantik des armen aber idyllischen Irlands beschworen wird, sondern vielmehr die verderblichen Auswirkungen des wirtschaftlichen Wachstums auf die Insel. Als eine besondere "Qualität" des Buches beschreibt die Rezensentin, dass der Autor sich nicht um Sympathien für seine Hauptfigur bemüht, die ein "blasser Antiheld" bleibt. In dem Roman besorgt sich der Protagonist eine falsche Identität und verschwindet nach Valparaiso, von wo er nach 10 Jahren desillusioniert nach Dublin zurückkehrt, fasst Löhndorf zusammen. Sie findet es faszinierend, wie "geschickt" es dem irischen Autor gelingt, die Darstellung einer unglücklichen Kindheit und eines misslungenen Lebens mit "Politik und Geschichte" zu verknüpfen. Geradezu "beiläufig" stellt Bolger den moralischen Niedergang bei gleichzeitigem wirtschaftlichem Aufschwung dar, so die Rezensentin begeistert. Manchmal allerdings ist ihr der "sozialkritische" Tonfall des Buches allzu "mustergültig", räumt sie ein, wenn sie es auch sehr begrüßenswert findet, dass in diesem Buch eine "Entmystifizierung" Irlands betrieben wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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