Der Roman beginnt mit einer Abrechnung mit der Elterngeneration, die Vesper im Folgenden verächtlich als >>vegetables<< bezeichnet. Im Verlauf des Romans wird transparent, dass er durch das Schreiben seinen inneren Konflikt zwischen der Liebe zum übermächtigen Vater und seiner eigenen radikalen politischen Überzeugung zu lösen versucht. Die Droge dient in diesem Zusammenhang der inneren Befreiung. Doch die dokumentierten LSD-Trips zeigen, wie illusionslos Vesper auch im Stadium des Rauschs seine Existenz beurteilt. Seine Lebensenergie scheint von einem unkontrollierten Hass (so auch der ursprünglich von ihm gewählte Titel des Romans) bestimmt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2005Hitlers Hippies
Ein Wahnsinn, dieses Buch: Bernward Vespers "Reise" wird wiederaufgelegt
Es war in München, wo die Reise des Bernward Vesper begann, es war Anfang August im Jahr 1969, und Barton war auch dabei, der Maler aus New York; sie hatten sich das LSD auf der Leopoldstraße besorgt, und im Englischen Garten, oben auf dem Monopterus, meinten beide, als ob sie blutige Anfänger wären, daß ja gar keine Wirkung zu spüren sei, nur die Türme und die Kuppeln der Stadt, da waren sie sich einig, leuchteten an diesem Abend besonders schön, und dann sind sie losgegangen, ohne ein Ziel, und im Hofgarten gestand Vesper seinem Begleiter, dem Juden Barton, daß er, Vesper, Adolf Hitler sei, und später, am frühen Morgen, als sie aus der Theatinerkirche heraustraten, war Vesper sich sicher, daß er Jesus sei, und er sprach zu seinem Vater, und er sprach von seinem Sohn, der seine Sonne sei, und morgens standen sie vor einer Wohnung in der Maxvorstadt, sie klingelten, und Uschi Obermaier machte auf, und Vesper schlief ein paar Stunden, im Kinderbett, und am Nachmittag war die Wirkung noch immer nicht vorbei, und abends hat er sich in seinen alten Volvo gesetzt, sein Ziel war Undingen, auf der Schwäbischen Alb, wo er seinen Sohn besuchen wollte, und wenn man das liest, ein Mann unterwegs durch die deutsche Provinz auf der Suche nach einem Ort, der tatsächlich Undingen heißt, wird man vom Lesen und von Deutschland selber ganz verrückt.
Bernward Vesper, die Romanfigur, ist von der Reise nie wirklich zurückgekommen, was daran lag, daß Bernward Vesper, der Autor, sein Buch nicht zu Ende geschrieben hat. Es ging seinem Kopf und seiner Seele nicht besonders gut in den Jahren 1970 und 1971, er war erst in Haar bei München, in der geschlossenen Psychiatrie, bis ihn Freunde nach Hamburg-Eppendorf brachten, wo man den Kranken besser behandelte, aber umgebracht hat er sich dann doch in Hamburg, und das unfertige Manuskript lag bei Jörg Schröder herum, dem März-Verleger, der dafür auch schon einen Vorschuß überwiesen hatte, es lag im Keller, bis sich, sechs Jahre später, Jörg Schröder daran erinnerte, es in Satz gab und einen schönen gelben März-Umschlag entwerfen ließ. "Die Reise" verkaufte sich nicht besonders gut, dann kam aber der deutsche Herbst, und Hanns-Martin Schleyer war tot, Andreas Baader war tot und Gudrun Ensslin auch, Bernward Vespers Ex-Verlobte, die Mutter seines Sohnes Felix, die Frau, um welche in der "Reise" so intensiv getrauert wird, weil sie den Helden, den traurigen Vesper, für Andreas Baader verlassen hat. Vespers Buch, das empfahl damals jeder Rezensent, war als Dokument zu lesen, als Protokoll des Scheiterns und Porträt einer verlorenen Generation.
Es gab Kritiker, die den toten Autor allen Ernstes lobten für seine Unversöhntheit mit den herrschenden Verhältnissen und für die vielen Drogen, für das LSD und das Haschisch, das immer wieder in kiloschweren Platten durch den Roman und die sommerheißen Münchner Straßen getragen wird, gab es aber strenge Rügen, weil die Droge, wie jeder kritische Kritiker weiß, ja keine Waffe des Widerstands ist, sondern bloß ein Mittel zur Flucht aus der Welt. Den allerdümmsten Artikel über "Die Reise" hat vermutlich Heinrich Böll geschrieben, in der Zeitschrift "Konkret", wo er "Die Reise" wie ein medizinisches Bulletin las, und die Krankheit, das waren naturgemäß die sogenannten deutschen Zustände, und als Therapie verschrieb er eine große Dosis Moral, und weil damit allein keine drei Seiten zu füllen sind, brachte Böll unterwegs wirklich alles durcheinander, die Morde der RAF, das Erschrecken beim Lesen von Vespers Text und die Erziehungsmethoden von Bernward Vespers Vater, der seinen Sohn offenbar tatsächlich zwang, den Teller leer zu essen: das alles war, irgendwie, Terror für Heinrich Böll.
Den zweitdümmsten Text hat, im "Spiegel", Christian Schultz-Gerstein geschrieben, im Jahr 1979, als Jörg Schröder eine erweiterte Fassung der "Reise" herausbrachte, mit Material über Bernward Vespers Kindheit und Jugend, Material, welches anscheinend belegte, daß Vesper nicht die ganze Wahrheit über sich und seinen Vater ausgebreitet habe, was Schultz-Gerstein, so als hätte "Die Reise" den Untertitel "meine Beichte" oder "ein Rechenschaftsbericht", dem toten Dichter nicht verzieh.
Vespers Vater hieß Will und wird, der Einfachheit halber, gern als Nazi-Dichter apostrophiert; tatsächlich war, was er so schrieb, schon während der Weimarer Republik, völkisch-protestantisch, provinziell und voller Haß auf die sogenannten Asphalt-Literaten, und so antisemitisch war Vesper, daß er nicht einmal Katzen, diese orientalischen Tiere, ausstehen konnte; seine Lyrik, die sich so sehnte nach dem Klang von Hölderlin, war der Travestie meistens näher als der Hommage. Während des Krieges und in den Jahren danach lebten die Vespers auf Triangel, einem Gut in der Nähe von Hannover, und es stimmt schon, daß in der "Reise" vom Leiden unter diesem Vater sehr viel die Rede ist und von der Loyalität und der Solidarität des Sohnes nicht ganz soviel - auch wenn die Szene, in welcher sich Bernward Vesper für Jesus hält und der Unterschied zwischen seinem Vater und Gottvater verschwimmt, zu den intensivsten Momenten der "Reise" gehört. Und unvergeßlich ist vermutlich allen Lesern der Moment, in dem das Buch davon erzählt, wie Bernward Vesper seinem sterbenden Vater den Namen Gudrun ins Ohr gehaucht habe; dann, so der Roman, habe Bernward zwei Wochen lang geheult.
Es liegt nahe, daß einer Bernward Vesper, den Autor, mit Bernward Vesper, der Romanfigur, verwechselt, und wenn man arbeitshypothetisch von der Identität beider Figuren ausginge, hätte man natürlich noch ein paar Fragen an das Buch, man würde fragen, was denn so los war in den Köpfen von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper, in den Jahren nach dem Tod des Vaters, als beide, einerseits, mit linken politischen Positionen sympathisierten und moderne Lyrik verlegten. Und gleichzeitig kämpften sie für die Rehabilitation Will Vespers und um eine Edition seiner gesammelten Werke, und dabei waren ihnen auch alte und neue Nazis als Verbündete immer gut genug. Und natürlich drängt sich der Verdacht auf, daß da die Kinder den Wahn der Eltern geerbt hätten; die Bundesrepublik in ihrer ganzen Normalität und Spießigkeit war Will Vespers Feind gewesen, so wie sie dann der Feind der RAF war. Und wenn der Roman-Bernward die Normalmenschen auf jeder zweiten Seite als "vegetables", als Gemüse beschimpft, dann traut man ihm durchaus zu, daß er ganz gerne die Kohlköpfe rollen ließe.
Aber "Die Reise" ist ein Roman und keine Beichte, und daß Schröder das Buch im Untertitel "Romanessay" nannte, ist nur dem Umstand geschuldet, daß der Versuch, einen Roman zu schreiben, nicht ganz vollendet wurde - und wie weit aber Vesper damit gekommen ist, das zeigen ganz eindrucksvoll jene Passagen, die den Trip des Bernward Vesper beschreiben. Man muß weder von den Drogen noch vom Schreiben allzuviel verstehen, um zu begreifen, daß man von so einem LSD-Erlebnis nicht einfach ein Protokoll anfertigen kann. Die Ströme des Bewußten und Unbewußten, der Fluß der Assoziationen und Impressionen: das alles läßt sich nicht so einfach in die Kanäle der Sprache leiten. Und wenn Vesper die abendliche Autofahrt von München nach Undingen buchstäblich und äußerst suggestiv als eine Odyssee beschreibt, als Irrfahrt durch eine Welt, auf der ein seltsamer, bedrohlicher Zauber liegt, dann ist das eher eine große Kunst als nur die Mitschrift dessen, was so vorgeht in einem Kopf, der an den Verhältnissen krank geworden ist.
Und wenn Vesper immer wieder zurückblendet, in seine Kindheit und Jugend auf dem Gut, wenn er den Vater zitiert, die Mutter viel schweigen läßt und sich selber als Fremden in einer fremden Welt beschreibt und das alles "einfache Berichte" nennt, dann spricht auch hier nicht die historische Wirklichkeit zum Leser; es ist eher ein enormer Stilwille, welcher allerdings einem wie Böll so gut wie nichts und Männern wie William S. Burroughs und Jack Kerouac um so mehr verdankt.
Natürlich ist es ein Wahnsinn, dieses Buch, das seinen Leser anstrengt, aufregt, manchmal hochgradig verwirrt, es ist ein Wahnsinn, so wie Rainald Goetz' "Irre" ein Wahnsinn ist und Christian Krachts "Faserland" auch - und natürlich bohrt es sich so tief hinein in die deutschen Seelen, die deutschen Köpfe, bis es an den Punkt gelangt, wo es furchtbar weh tut, bis es, in der schwärzesten Stunde einer Sommernacht, an dem Punkt ist, wo, mitten im fröhlichen Hippiemünchen, die Geister der Vergangenheit erscheinen und sich nicht verscheuchen lassen vom Haschischdunst am Monopteros, vom Lärm auf der Leopoldstraße, vom Lächeln Uschi Obermaiers am Morgen danach. Natürlich erzählt dieses Buch von einem sehr deutschen Wahnsinn und von einem sehr deutschen Leiden daran. Aber daß ihm das gelingt, ist nicht Bernward Vespers Wahn. Es ist Bernward Vespers Kunst.
CLAUDIUS SEIDL
Bernward Vesper: "Die Reise". Herausgegeben und mit einer Editionschronologie versehen von Jörg Schröder. Area-Verlag, Erftstadt 2005. 720 Seiten, 12,95 Euro.
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Ein Wahnsinn, dieses Buch: Bernward Vespers "Reise" wird wiederaufgelegt
Es war in München, wo die Reise des Bernward Vesper begann, es war Anfang August im Jahr 1969, und Barton war auch dabei, der Maler aus New York; sie hatten sich das LSD auf der Leopoldstraße besorgt, und im Englischen Garten, oben auf dem Monopterus, meinten beide, als ob sie blutige Anfänger wären, daß ja gar keine Wirkung zu spüren sei, nur die Türme und die Kuppeln der Stadt, da waren sie sich einig, leuchteten an diesem Abend besonders schön, und dann sind sie losgegangen, ohne ein Ziel, und im Hofgarten gestand Vesper seinem Begleiter, dem Juden Barton, daß er, Vesper, Adolf Hitler sei, und später, am frühen Morgen, als sie aus der Theatinerkirche heraustraten, war Vesper sich sicher, daß er Jesus sei, und er sprach zu seinem Vater, und er sprach von seinem Sohn, der seine Sonne sei, und morgens standen sie vor einer Wohnung in der Maxvorstadt, sie klingelten, und Uschi Obermaier machte auf, und Vesper schlief ein paar Stunden, im Kinderbett, und am Nachmittag war die Wirkung noch immer nicht vorbei, und abends hat er sich in seinen alten Volvo gesetzt, sein Ziel war Undingen, auf der Schwäbischen Alb, wo er seinen Sohn besuchen wollte, und wenn man das liest, ein Mann unterwegs durch die deutsche Provinz auf der Suche nach einem Ort, der tatsächlich Undingen heißt, wird man vom Lesen und von Deutschland selber ganz verrückt.
Bernward Vesper, die Romanfigur, ist von der Reise nie wirklich zurückgekommen, was daran lag, daß Bernward Vesper, der Autor, sein Buch nicht zu Ende geschrieben hat. Es ging seinem Kopf und seiner Seele nicht besonders gut in den Jahren 1970 und 1971, er war erst in Haar bei München, in der geschlossenen Psychiatrie, bis ihn Freunde nach Hamburg-Eppendorf brachten, wo man den Kranken besser behandelte, aber umgebracht hat er sich dann doch in Hamburg, und das unfertige Manuskript lag bei Jörg Schröder herum, dem März-Verleger, der dafür auch schon einen Vorschuß überwiesen hatte, es lag im Keller, bis sich, sechs Jahre später, Jörg Schröder daran erinnerte, es in Satz gab und einen schönen gelben März-Umschlag entwerfen ließ. "Die Reise" verkaufte sich nicht besonders gut, dann kam aber der deutsche Herbst, und Hanns-Martin Schleyer war tot, Andreas Baader war tot und Gudrun Ensslin auch, Bernward Vespers Ex-Verlobte, die Mutter seines Sohnes Felix, die Frau, um welche in der "Reise" so intensiv getrauert wird, weil sie den Helden, den traurigen Vesper, für Andreas Baader verlassen hat. Vespers Buch, das empfahl damals jeder Rezensent, war als Dokument zu lesen, als Protokoll des Scheiterns und Porträt einer verlorenen Generation.
Es gab Kritiker, die den toten Autor allen Ernstes lobten für seine Unversöhntheit mit den herrschenden Verhältnissen und für die vielen Drogen, für das LSD und das Haschisch, das immer wieder in kiloschweren Platten durch den Roman und die sommerheißen Münchner Straßen getragen wird, gab es aber strenge Rügen, weil die Droge, wie jeder kritische Kritiker weiß, ja keine Waffe des Widerstands ist, sondern bloß ein Mittel zur Flucht aus der Welt. Den allerdümmsten Artikel über "Die Reise" hat vermutlich Heinrich Böll geschrieben, in der Zeitschrift "Konkret", wo er "Die Reise" wie ein medizinisches Bulletin las, und die Krankheit, das waren naturgemäß die sogenannten deutschen Zustände, und als Therapie verschrieb er eine große Dosis Moral, und weil damit allein keine drei Seiten zu füllen sind, brachte Böll unterwegs wirklich alles durcheinander, die Morde der RAF, das Erschrecken beim Lesen von Vespers Text und die Erziehungsmethoden von Bernward Vespers Vater, der seinen Sohn offenbar tatsächlich zwang, den Teller leer zu essen: das alles war, irgendwie, Terror für Heinrich Böll.
Den zweitdümmsten Text hat, im "Spiegel", Christian Schultz-Gerstein geschrieben, im Jahr 1979, als Jörg Schröder eine erweiterte Fassung der "Reise" herausbrachte, mit Material über Bernward Vespers Kindheit und Jugend, Material, welches anscheinend belegte, daß Vesper nicht die ganze Wahrheit über sich und seinen Vater ausgebreitet habe, was Schultz-Gerstein, so als hätte "Die Reise" den Untertitel "meine Beichte" oder "ein Rechenschaftsbericht", dem toten Dichter nicht verzieh.
Vespers Vater hieß Will und wird, der Einfachheit halber, gern als Nazi-Dichter apostrophiert; tatsächlich war, was er so schrieb, schon während der Weimarer Republik, völkisch-protestantisch, provinziell und voller Haß auf die sogenannten Asphalt-Literaten, und so antisemitisch war Vesper, daß er nicht einmal Katzen, diese orientalischen Tiere, ausstehen konnte; seine Lyrik, die sich so sehnte nach dem Klang von Hölderlin, war der Travestie meistens näher als der Hommage. Während des Krieges und in den Jahren danach lebten die Vespers auf Triangel, einem Gut in der Nähe von Hannover, und es stimmt schon, daß in der "Reise" vom Leiden unter diesem Vater sehr viel die Rede ist und von der Loyalität und der Solidarität des Sohnes nicht ganz soviel - auch wenn die Szene, in welcher sich Bernward Vesper für Jesus hält und der Unterschied zwischen seinem Vater und Gottvater verschwimmt, zu den intensivsten Momenten der "Reise" gehört. Und unvergeßlich ist vermutlich allen Lesern der Moment, in dem das Buch davon erzählt, wie Bernward Vesper seinem sterbenden Vater den Namen Gudrun ins Ohr gehaucht habe; dann, so der Roman, habe Bernward zwei Wochen lang geheult.
Es liegt nahe, daß einer Bernward Vesper, den Autor, mit Bernward Vesper, der Romanfigur, verwechselt, und wenn man arbeitshypothetisch von der Identität beider Figuren ausginge, hätte man natürlich noch ein paar Fragen an das Buch, man würde fragen, was denn so los war in den Köpfen von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper, in den Jahren nach dem Tod des Vaters, als beide, einerseits, mit linken politischen Positionen sympathisierten und moderne Lyrik verlegten. Und gleichzeitig kämpften sie für die Rehabilitation Will Vespers und um eine Edition seiner gesammelten Werke, und dabei waren ihnen auch alte und neue Nazis als Verbündete immer gut genug. Und natürlich drängt sich der Verdacht auf, daß da die Kinder den Wahn der Eltern geerbt hätten; die Bundesrepublik in ihrer ganzen Normalität und Spießigkeit war Will Vespers Feind gewesen, so wie sie dann der Feind der RAF war. Und wenn der Roman-Bernward die Normalmenschen auf jeder zweiten Seite als "vegetables", als Gemüse beschimpft, dann traut man ihm durchaus zu, daß er ganz gerne die Kohlköpfe rollen ließe.
Aber "Die Reise" ist ein Roman und keine Beichte, und daß Schröder das Buch im Untertitel "Romanessay" nannte, ist nur dem Umstand geschuldet, daß der Versuch, einen Roman zu schreiben, nicht ganz vollendet wurde - und wie weit aber Vesper damit gekommen ist, das zeigen ganz eindrucksvoll jene Passagen, die den Trip des Bernward Vesper beschreiben. Man muß weder von den Drogen noch vom Schreiben allzuviel verstehen, um zu begreifen, daß man von so einem LSD-Erlebnis nicht einfach ein Protokoll anfertigen kann. Die Ströme des Bewußten und Unbewußten, der Fluß der Assoziationen und Impressionen: das alles läßt sich nicht so einfach in die Kanäle der Sprache leiten. Und wenn Vesper die abendliche Autofahrt von München nach Undingen buchstäblich und äußerst suggestiv als eine Odyssee beschreibt, als Irrfahrt durch eine Welt, auf der ein seltsamer, bedrohlicher Zauber liegt, dann ist das eher eine große Kunst als nur die Mitschrift dessen, was so vorgeht in einem Kopf, der an den Verhältnissen krank geworden ist.
Und wenn Vesper immer wieder zurückblendet, in seine Kindheit und Jugend auf dem Gut, wenn er den Vater zitiert, die Mutter viel schweigen läßt und sich selber als Fremden in einer fremden Welt beschreibt und das alles "einfache Berichte" nennt, dann spricht auch hier nicht die historische Wirklichkeit zum Leser; es ist eher ein enormer Stilwille, welcher allerdings einem wie Böll so gut wie nichts und Männern wie William S. Burroughs und Jack Kerouac um so mehr verdankt.
Natürlich ist es ein Wahnsinn, dieses Buch, das seinen Leser anstrengt, aufregt, manchmal hochgradig verwirrt, es ist ein Wahnsinn, so wie Rainald Goetz' "Irre" ein Wahnsinn ist und Christian Krachts "Faserland" auch - und natürlich bohrt es sich so tief hinein in die deutschen Seelen, die deutschen Köpfe, bis es an den Punkt gelangt, wo es furchtbar weh tut, bis es, in der schwärzesten Stunde einer Sommernacht, an dem Punkt ist, wo, mitten im fröhlichen Hippiemünchen, die Geister der Vergangenheit erscheinen und sich nicht verscheuchen lassen vom Haschischdunst am Monopteros, vom Lärm auf der Leopoldstraße, vom Lächeln Uschi Obermaiers am Morgen danach. Natürlich erzählt dieses Buch von einem sehr deutschen Wahnsinn und von einem sehr deutschen Leiden daran. Aber daß ihm das gelingt, ist nicht Bernward Vespers Wahn. Es ist Bernward Vespers Kunst.
CLAUDIUS SEIDL
Bernward Vesper: "Die Reise". Herausgegeben und mit einer Editionschronologie versehen von Jörg Schröder. Area-Verlag, Erftstadt 2005. 720 Seiten, 12,95 Euro.
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repräsentiert den Nachlaß einer ganzen generation --- in jeder Zeile ein Meisterwerk Die Weltwoche