Ein großer Klassiker, eine herrliche Satire, ein jüdischer Don Quijote. Das berühmteste Werk von Scholem J. Abramowitsch in einer kommentierten Neuübersetzung
Benjamin lebt in einem ukrainischen Nest. Er hasst die Enge seines Dorfes und seiner Ehe, liebt alte Reiseberichte und träumt von einer eigenen triumphalen Reise auf den Spuren Alexanders des Großen, von der er berühmt und als Erlöser der russischen Juden zurückkehren wird. Er überredet seinen Freund Senderl, mit ihm auszubüxen, und zusammen reisen sie wie Don Quichote und Sancho Pansa, von Missgeschicken verfolgt, durch die jüdische Provinz. Als der witzige Roman 1878 in Wilna erschien, erkannten jiddische Leser sofort, dass es sich hier um eine riskante politische Satire handelte. Das elegante Nachwort von Susanne Klingenstein skizziert das historische und literarische Umfeld und zeigt, warum Abramowitsch zu den großen Autoren europäischer Literatur gehört.
Benjamin lebt in einem ukrainischen Nest. Er hasst die Enge seines Dorfes und seiner Ehe, liebt alte Reiseberichte und träumt von einer eigenen triumphalen Reise auf den Spuren Alexanders des Großen, von der er berühmt und als Erlöser der russischen Juden zurückkehren wird. Er überredet seinen Freund Senderl, mit ihm auszubüxen, und zusammen reisen sie wie Don Quichote und Sancho Pansa, von Missgeschicken verfolgt, durch die jüdische Provinz. Als der witzige Roman 1878 in Wilna erschien, erkannten jiddische Leser sofort, dass es sich hier um eine riskante politische Satire handelte. Das elegante Nachwort von Susanne Klingenstein skizziert das historische und literarische Umfeld und zeigt, warum Abramowitsch zu den großen Autoren europäischer Literatur gehört.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2019Ritter vom traurigen Schicksal
Ein jiddischer Roman als literarisches Ereignis: Scholem Jankew Abramowitschs "Die Reisen Benjamins des Dritten" kann endlich auf Deutsch wiederentdeckt werden
Die jiddische Literatur hat bedeutende Werke geschaffen, aber sie finden nur selten gebührende Anerkennung. Wie die großen Romane der Engländer, Franzosen und Russen entstanden auch die jiddischen zuerst im neunzehnten Jahrhundert, doch ihre Leser hatten damals schon keine Zukunft mehr. Die Welt der Ostjuden war zum Untergang verurteilt, und kaum zwei Generationen später wurde sie von Hitler vernichtet.
Ein Autor wie Scholem Alejchem ist uns heute weniger durch seine Werke bekannt als durch das Musical "Anatevka", das das osteuropäische Schtetl nostalgisch romantisiert. Und Isaac Bashevis Singer ist zwar noch mit dem Nobelpreis geehrt worden, aber seine Bücher schrieb er schon in Amerika. Bekannt wurden sie nicht im jiddischen Original, sondern in englischen Versionen, die er zur gleichen Zeit herausbrachte.
Daher ist es ein Ereignis, wenn die Klassiker-Reihe des Hanser Verlags jetzt "Die Reisen Benjamins des Dritten" veröffentlicht, einen Roman aus dem Jahr 1878 von Scholem Jankew Abramowitsch, einem in Deutschland fast unbekannten Autor. Die Reihe bringt prinzipiell nur Neuübersetzungen, und auch hier ist es so. Erstmals auf Deutsch, damals übersetzt von Efraim Frisch, erschien der Roman 1937 in der Bücherei des Schocken-Verlags. Unter Hitler suchten Deutschlands Juden nach einem geistigen Erbe, das sie in Zeiten vermeintlicher Sicherheit vernachlässigt hatten, und in den Bänden dieser Reihe wurde es ihnen geboten. Abramowitschs Roman erzählt von einem jungen Mann namens Benjamin, dem es in seinem Schtetl zu eng wird. Er will auf eine lange Reise gehen, um sein jüdisches Volk von den Qualen des Exils zu erlösen, und 1937, am Vorabend der Katastrophe, wirkte das auf deutsch-jüdische Leser wie ein geheimes Signal. Eine Erlösung hat es freilich nicht gegeben, weder im Roman noch in der historischen Wirklichkeit.
Nun legt Susanne Klingenstein eine neue, vorzügliche Übersetzung vor, die sich wie die gesamte Klassiker-Reihe an ein anderes Publikum wendet und andere Ziele verfolgt. Unter Hitler hatte die Schocken-Bücherei für die deutschen Juden eine verlorene jüdische Identität wiederfinden wollen, bei der Klassiker-Reihe ist es umgekehrt. Auch den deutschen Lesern soll ein Kulturerbe vermittelt werden, doch ist es nicht partikular, sondern universal: Die Übersetzungen sollen deutschen Lesern große Werke der Weltliteratur nahebringen.
Abramowitsch (1835 bis 1917) ist einer der jiddischen Autoren, denen darin ein Platz gebührt. Er lebte in verschiedenen Städten der Ukraine, die einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil hatten, leitete viele Jahre eine jüdische Schule in Odessa, und bekannt wurde er unter seinem Schriftstellernamen Mendele Moícher Sfúrim (Mendele der Buchverkäufer). So heißt eine fiktive Erzählerfigur, die in mehreren seiner Werke auftritt und uns die Welt, die Abramowitsch beschreibt, durch seine Augen sehen lässt.
Diese Welt ist in der Schoa untergegangen, und deutsche Leser erfüllt das mit Schuldgefühlen, die ihnen mehr oder weniger bewusst sind. Historisch sind sie nachvollziehbar, sie behindern aber ein adäquates Verständnis dieser Literatur. Die neue Übersetzung des Romans stellt die Lektüre jetzt auf eine solide Grundlage, denn wie alle Bände der Klassiker-Reihe ist sie zugleich eine sorgfältige Edition. Klingenstein ist Jiddistin, 2014 erschien "Mendele der Buchhändler", ihre umfangreiche Monographie über Abramowitsch, und im Anhang der "Reisen Benjamins des Dritten" annotiert sie den Roman ausführlich. Ein langes, gut lesbares Nachwort verortet ihn historisch, verweist auf Deutungsansätze und zeichnet ein vielschichtiges Porträt des Autors.
Dessen Lebensdaten umspannen Jahrzehnte eines sozialen und wirtschaftlichen Niedergangs, der die Juden im Zarenreich nicht nur verarmen ließ, sondern auch politisch gefährdete. Seit den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts kam es häufig zu Pogromen, die massive Auswanderungen nach sich zogen und den Zionismus zu einer glaubwürdigen Option machten. Vor diesem Hintergrund lässt Abramowitsch seinen Benjamin auf eine Reise gehen, die Erlösung bringen soll.
Sie bringt aber keine Erlösung. Nur zum Lachen bringt sie uns, denn Mendele ist ein witziger Erzähler, und Benjamin ist ein komischer Held. In Deutschland liebt man den jüdischen Humor und nennt ihn zuweilen "köstlich", weil das hilft, die Schuldgefühle zu ertragen. Doch Mendeles Humor ist gar nicht köstlich, er ist kritisch, und seine jiddischen Leser will er nicht unterhalten, sondern er will ihnen die Augen öffnen. Mendele ist ein Satiriker: Die tiefe Misere, in die seine jüdischen Zeitgenossen geraten sind, legt er nicht nur der Außenwelt zur Last, sondern ebenso ihrer geistigen Trägheit, die sie überwinden müssen.
Im neunzehnten Jahrhundert, historisch etwas verspätet, hatte die Aufklärung auch das Ostjudentum ergriffen. Hier hieß sie Haskalah, und Abramowitsch war einer ihrer bedeutendsten Vertreter. Nicht zufällig leitete er eine Schule, und mit seinem literarischen Werk verfolgte er didaktische Ziele. Benjamins Reise, die zum Scheitern verurteilt ist, statuiert ein Exempel, aus dem sich lernen lässt.
Bis zu seiner Reise hat Benjamin das Schtetl nie verlassen. Er kennt nur die heiligen Texte der Tradition und einige jüdische Reiseberichte. Diese Bücher erfüllen ihn mit Enthusiasmus, und ihn überkommt der Wunsch, sein Volk aus der Not zu befreien. Das jüdische Exil begann schon vor Jahrtausenden, als die Assyrer zehn der zwölf Stämme Israels verschleppten. Seither gelten sie als verschollen, und Benjamin will sie finden, um die Erlösung einzuleiten.
In ihren Anmerkungen weist Susanne Klingenstein auf zahlreiche interkulturelle Bezüge hin, die der Aufklärer Abramowitsch in den Roman einstreute. Damit wollte er den Lesern einen geistigen Horizont eröffnen, der sie über die Enge des Schtetls hinausführt, und einer solchen Spur gehen wir ein Stück weit nach.
Benjamins Unterfangen erinnert an die Abenteuer des edlen Ritters Don Quijote, und vieles im Text spielt darauf an. Ein Mann namens Senderl geht mit ihm auf die Reise, ist sein Gehilfe wie Sancho Pansa; für den Tag ihres heimlichen Aufbruchs verabreden sie sich an der Windmühle vor dem Schtetl; die erste Nacht verbringen sie in einer Schenke, und dort - wie vor ihm Don Quijote - erwacht auch Benjamin im Dunkeln und löst einen Tumult aus.
Subtil nimmt Abramowitsch das Motiv der getäuschten Imagination auf. Einmal besteigen die beiden Männer ein Boot. Benjamin stellt dem Fährmann allerlei Fragen, und da er kein Russisch kann, dolmetscht Senderl für ihn. Plötzlich sieht er weibliche Gestalten in den Wellen, er erinnert sich an die "Meermenschen", von denen er in seinen Büchern gelesen hat, und Mendele teilt uns mit, wie Benjamin selbst die Szene festgehalten hat: "Erstaunt zeigte ich die Jungfrauen dem Fährmann. Er aber wies auf Wäscherinnen, die am Ufer ihrer Arbeit nachgingen. Ich zeigte ins Wasser, er wies aufs Ufer. Und da keiner die Sprache des anderen verstand, wusste er nicht, was ich ihm, und ich nicht, was er mir zeigen wollte."
Die Welt bleibt Benjamin fremd, doch Klingenstein warnt uns davor, seine Texte mit den Ritterromanen des Don Quijote gleichzusetzen. Nie würde es dem Aufklärer Abramowitsch einfallen, die heiligen Schriften aus dem Fenster zu werfen, wie Cervantes es den Büchern seines traurigen Helden widerfahren lässt. Sie verleiten Benjamin indessen zu sinnlosen Handlungen, und in der Ironie, mit der hier erzählt wird, schwingt unüberhörbar eine Ambivalenz mit. Wenn dem Leser die Komödie dieser Reise wie eine Tragödie erscheint, so geht er kaum fehl.
"Ich wollte", schreibt Susanne Klingenstein über ihre Arbeit, "Abramowitsch eine metzeíve errichten." Das Wort ist Jiddisch, kommt aus dem Hebräischen und bezeichnet ursprünglich einen Grabstein. Metaphorisch aber ist es ein Denkmal, und die neue Übersetzung des Romans ist beides in einem. Sie lässt uns nicht vergessen, dass diese Welt brutal vernichtet worden ist - und erhebt sie im Kunstwerk zur Unsterblichkeit.
JAKOB HESSING
Scholem Jankew Abramowitsch: "Die Reisen Benjamins des Dritten". Roman.
Hrsg. und aus dem Jiddischen von Susanne Klingenstein. Hanser Verlag, München 2019. 285 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein jiddischer Roman als literarisches Ereignis: Scholem Jankew Abramowitschs "Die Reisen Benjamins des Dritten" kann endlich auf Deutsch wiederentdeckt werden
Die jiddische Literatur hat bedeutende Werke geschaffen, aber sie finden nur selten gebührende Anerkennung. Wie die großen Romane der Engländer, Franzosen und Russen entstanden auch die jiddischen zuerst im neunzehnten Jahrhundert, doch ihre Leser hatten damals schon keine Zukunft mehr. Die Welt der Ostjuden war zum Untergang verurteilt, und kaum zwei Generationen später wurde sie von Hitler vernichtet.
Ein Autor wie Scholem Alejchem ist uns heute weniger durch seine Werke bekannt als durch das Musical "Anatevka", das das osteuropäische Schtetl nostalgisch romantisiert. Und Isaac Bashevis Singer ist zwar noch mit dem Nobelpreis geehrt worden, aber seine Bücher schrieb er schon in Amerika. Bekannt wurden sie nicht im jiddischen Original, sondern in englischen Versionen, die er zur gleichen Zeit herausbrachte.
Daher ist es ein Ereignis, wenn die Klassiker-Reihe des Hanser Verlags jetzt "Die Reisen Benjamins des Dritten" veröffentlicht, einen Roman aus dem Jahr 1878 von Scholem Jankew Abramowitsch, einem in Deutschland fast unbekannten Autor. Die Reihe bringt prinzipiell nur Neuübersetzungen, und auch hier ist es so. Erstmals auf Deutsch, damals übersetzt von Efraim Frisch, erschien der Roman 1937 in der Bücherei des Schocken-Verlags. Unter Hitler suchten Deutschlands Juden nach einem geistigen Erbe, das sie in Zeiten vermeintlicher Sicherheit vernachlässigt hatten, und in den Bänden dieser Reihe wurde es ihnen geboten. Abramowitschs Roman erzählt von einem jungen Mann namens Benjamin, dem es in seinem Schtetl zu eng wird. Er will auf eine lange Reise gehen, um sein jüdisches Volk von den Qualen des Exils zu erlösen, und 1937, am Vorabend der Katastrophe, wirkte das auf deutsch-jüdische Leser wie ein geheimes Signal. Eine Erlösung hat es freilich nicht gegeben, weder im Roman noch in der historischen Wirklichkeit.
Nun legt Susanne Klingenstein eine neue, vorzügliche Übersetzung vor, die sich wie die gesamte Klassiker-Reihe an ein anderes Publikum wendet und andere Ziele verfolgt. Unter Hitler hatte die Schocken-Bücherei für die deutschen Juden eine verlorene jüdische Identität wiederfinden wollen, bei der Klassiker-Reihe ist es umgekehrt. Auch den deutschen Lesern soll ein Kulturerbe vermittelt werden, doch ist es nicht partikular, sondern universal: Die Übersetzungen sollen deutschen Lesern große Werke der Weltliteratur nahebringen.
Abramowitsch (1835 bis 1917) ist einer der jiddischen Autoren, denen darin ein Platz gebührt. Er lebte in verschiedenen Städten der Ukraine, die einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil hatten, leitete viele Jahre eine jüdische Schule in Odessa, und bekannt wurde er unter seinem Schriftstellernamen Mendele Moícher Sfúrim (Mendele der Buchverkäufer). So heißt eine fiktive Erzählerfigur, die in mehreren seiner Werke auftritt und uns die Welt, die Abramowitsch beschreibt, durch seine Augen sehen lässt.
Diese Welt ist in der Schoa untergegangen, und deutsche Leser erfüllt das mit Schuldgefühlen, die ihnen mehr oder weniger bewusst sind. Historisch sind sie nachvollziehbar, sie behindern aber ein adäquates Verständnis dieser Literatur. Die neue Übersetzung des Romans stellt die Lektüre jetzt auf eine solide Grundlage, denn wie alle Bände der Klassiker-Reihe ist sie zugleich eine sorgfältige Edition. Klingenstein ist Jiddistin, 2014 erschien "Mendele der Buchhändler", ihre umfangreiche Monographie über Abramowitsch, und im Anhang der "Reisen Benjamins des Dritten" annotiert sie den Roman ausführlich. Ein langes, gut lesbares Nachwort verortet ihn historisch, verweist auf Deutungsansätze und zeichnet ein vielschichtiges Porträt des Autors.
Dessen Lebensdaten umspannen Jahrzehnte eines sozialen und wirtschaftlichen Niedergangs, der die Juden im Zarenreich nicht nur verarmen ließ, sondern auch politisch gefährdete. Seit den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts kam es häufig zu Pogromen, die massive Auswanderungen nach sich zogen und den Zionismus zu einer glaubwürdigen Option machten. Vor diesem Hintergrund lässt Abramowitsch seinen Benjamin auf eine Reise gehen, die Erlösung bringen soll.
Sie bringt aber keine Erlösung. Nur zum Lachen bringt sie uns, denn Mendele ist ein witziger Erzähler, und Benjamin ist ein komischer Held. In Deutschland liebt man den jüdischen Humor und nennt ihn zuweilen "köstlich", weil das hilft, die Schuldgefühle zu ertragen. Doch Mendeles Humor ist gar nicht köstlich, er ist kritisch, und seine jiddischen Leser will er nicht unterhalten, sondern er will ihnen die Augen öffnen. Mendele ist ein Satiriker: Die tiefe Misere, in die seine jüdischen Zeitgenossen geraten sind, legt er nicht nur der Außenwelt zur Last, sondern ebenso ihrer geistigen Trägheit, die sie überwinden müssen.
Im neunzehnten Jahrhundert, historisch etwas verspätet, hatte die Aufklärung auch das Ostjudentum ergriffen. Hier hieß sie Haskalah, und Abramowitsch war einer ihrer bedeutendsten Vertreter. Nicht zufällig leitete er eine Schule, und mit seinem literarischen Werk verfolgte er didaktische Ziele. Benjamins Reise, die zum Scheitern verurteilt ist, statuiert ein Exempel, aus dem sich lernen lässt.
Bis zu seiner Reise hat Benjamin das Schtetl nie verlassen. Er kennt nur die heiligen Texte der Tradition und einige jüdische Reiseberichte. Diese Bücher erfüllen ihn mit Enthusiasmus, und ihn überkommt der Wunsch, sein Volk aus der Not zu befreien. Das jüdische Exil begann schon vor Jahrtausenden, als die Assyrer zehn der zwölf Stämme Israels verschleppten. Seither gelten sie als verschollen, und Benjamin will sie finden, um die Erlösung einzuleiten.
In ihren Anmerkungen weist Susanne Klingenstein auf zahlreiche interkulturelle Bezüge hin, die der Aufklärer Abramowitsch in den Roman einstreute. Damit wollte er den Lesern einen geistigen Horizont eröffnen, der sie über die Enge des Schtetls hinausführt, und einer solchen Spur gehen wir ein Stück weit nach.
Benjamins Unterfangen erinnert an die Abenteuer des edlen Ritters Don Quijote, und vieles im Text spielt darauf an. Ein Mann namens Senderl geht mit ihm auf die Reise, ist sein Gehilfe wie Sancho Pansa; für den Tag ihres heimlichen Aufbruchs verabreden sie sich an der Windmühle vor dem Schtetl; die erste Nacht verbringen sie in einer Schenke, und dort - wie vor ihm Don Quijote - erwacht auch Benjamin im Dunkeln und löst einen Tumult aus.
Subtil nimmt Abramowitsch das Motiv der getäuschten Imagination auf. Einmal besteigen die beiden Männer ein Boot. Benjamin stellt dem Fährmann allerlei Fragen, und da er kein Russisch kann, dolmetscht Senderl für ihn. Plötzlich sieht er weibliche Gestalten in den Wellen, er erinnert sich an die "Meermenschen", von denen er in seinen Büchern gelesen hat, und Mendele teilt uns mit, wie Benjamin selbst die Szene festgehalten hat: "Erstaunt zeigte ich die Jungfrauen dem Fährmann. Er aber wies auf Wäscherinnen, die am Ufer ihrer Arbeit nachgingen. Ich zeigte ins Wasser, er wies aufs Ufer. Und da keiner die Sprache des anderen verstand, wusste er nicht, was ich ihm, und ich nicht, was er mir zeigen wollte."
Die Welt bleibt Benjamin fremd, doch Klingenstein warnt uns davor, seine Texte mit den Ritterromanen des Don Quijote gleichzusetzen. Nie würde es dem Aufklärer Abramowitsch einfallen, die heiligen Schriften aus dem Fenster zu werfen, wie Cervantes es den Büchern seines traurigen Helden widerfahren lässt. Sie verleiten Benjamin indessen zu sinnlosen Handlungen, und in der Ironie, mit der hier erzählt wird, schwingt unüberhörbar eine Ambivalenz mit. Wenn dem Leser die Komödie dieser Reise wie eine Tragödie erscheint, so geht er kaum fehl.
"Ich wollte", schreibt Susanne Klingenstein über ihre Arbeit, "Abramowitsch eine metzeíve errichten." Das Wort ist Jiddisch, kommt aus dem Hebräischen und bezeichnet ursprünglich einen Grabstein. Metaphorisch aber ist es ein Denkmal, und die neue Übersetzung des Romans ist beides in einem. Sie lässt uns nicht vergessen, dass diese Welt brutal vernichtet worden ist - und erhebt sie im Kunstwerk zur Unsterblichkeit.
JAKOB HESSING
Scholem Jankew Abramowitsch: "Die Reisen Benjamins des Dritten". Roman.
Hrsg. und aus dem Jiddischen von Susanne Klingenstein. Hanser Verlag, München 2019. 285 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer meinte einmal, das Jiddische enthalte Vitamine, die man in keiner anderen Sprache finde. ... Der Hanser Verlag hat nun den jiddischen Klassiker von Scholem J. Abramowitsch in einer Neuübersetzung von Susanne Klingenstein herausgebracht. Und die Vitamine des Jiddischen haben den Pasteurisierungsvorgang des Übersetzens sehr gut überstanden." Birthe Mühlhoff, Süddeutsche Zeitung, 22.11.19
"Ein jiddischer Roman als literarisches Ereignis: Scholem Jankew Abramowitschs 'Die Reisen Benjamnins des Dritten' kann endlich auf Deutsch wiederentdeckt werden... Susanne Klingenstein legt nun eine neue, vorzügliche Übersetzung vor." Jakob Hessing, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.09.19
"Susanne Klingenstein hat dieses Meisterwerk der jiddischen Literatur jetzt neu herausgegeben und übersetzt, die Komik und teils barocke Fabulierlust dieses satirischen Romans in ein farbiges Deutsch übertragen und dem eher schmalen Textkorpus - der Romanumfasst knapp 160 Seiten - ebenso umfangreiche wie unerlässliche Anmerkungen, Interpretationshilfen und biographische Angaben hinzugefügt. Eine mustergültige Edition." Wolfgang Seibel, ORF Ex Libris, 10.11.19
"Ein jiddischer Roman als literarisches Ereignis: Scholem Jankew Abramowitschs 'Die Reisen Benjamnins des Dritten' kann endlich auf Deutsch wiederentdeckt werden... Susanne Klingenstein legt nun eine neue, vorzügliche Übersetzung vor." Jakob Hessing, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.09.19
"Susanne Klingenstein hat dieses Meisterwerk der jiddischen Literatur jetzt neu herausgegeben und übersetzt, die Komik und teils barocke Fabulierlust dieses satirischen Romans in ein farbiges Deutsch übertragen und dem eher schmalen Textkorpus - der Romanumfasst knapp 160 Seiten - ebenso umfangreiche wie unerlässliche Anmerkungen, Interpretationshilfen und biographische Angaben hinzugefügt. Eine mustergültige Edition." Wolfgang Seibel, ORF Ex Libris, 10.11.19