Nach dem Bestseller 'Die Karte meiner Träume' endlich der neue, schräge Roman von Reif Larsen: 'Die Rettung des Horizonts' nimmt uns mit auf eine irrwitzige und spannende Reise rund um den Globus und durch das 20. Jahrhundert.
An einem Apriltag des Jahres 1975 erblickt Radar Radmanovic in New Jersey das Licht der Welt. Nicht weiter ungewöhnlich, hätte der Junge weiße Haut wie seine Eltern und nicht dunkle wie eine Aubergine. Kein Arzt in den USA kann diesen Störfall der Biologie erklären. In der Hoffnung auf Heilung reist die Familie in die norwegische Arktis zu einer mysteriösen Gemeinde von Puppenspielern. Dort experimentiert man mit bestimmten Formen der Elektroschockbehandlung, die es ermöglichen soll, Radars Hautfarbe tiefgreifend zu ändern. Nach der Behandlung ist seine Haut zwar heller, aber er ist Epileptiker, und ist, wie sich im Laufe der Jahre herausstellt, sehr empfänglich für alle Arten von Elektrizität.
Nach und nach finden an vielen Orten der Welt - in Bosnien während des Bürgerkriegs, im postdiktatorischen Kambodscha und im zusammenbrechenden Kongo - ungewöhnliche Kunstperformances statt, mit wie lebendig scheinenden Figuren und Vögeln, entwickelt von den unterschiedlichsten Menschen, die eine Gegenwelt zu Krieg und Gewalt aufbauen wollen. Und Radar, inzwischen erwachsen geworden, ist der ungewollte Mittelpunkt dieser verrückten Bewegung.
Ein reiches, sehr vergnügliches Leseabenteuer der besonderen Art - ein physikalischer Schelmenroman.
An einem Apriltag des Jahres 1975 erblickt Radar Radmanovic in New Jersey das Licht der Welt. Nicht weiter ungewöhnlich, hätte der Junge weiße Haut wie seine Eltern und nicht dunkle wie eine Aubergine. Kein Arzt in den USA kann diesen Störfall der Biologie erklären. In der Hoffnung auf Heilung reist die Familie in die norwegische Arktis zu einer mysteriösen Gemeinde von Puppenspielern. Dort experimentiert man mit bestimmten Formen der Elektroschockbehandlung, die es ermöglichen soll, Radars Hautfarbe tiefgreifend zu ändern. Nach der Behandlung ist seine Haut zwar heller, aber er ist Epileptiker, und ist, wie sich im Laufe der Jahre herausstellt, sehr empfänglich für alle Arten von Elektrizität.
Nach und nach finden an vielen Orten der Welt - in Bosnien während des Bürgerkriegs, im postdiktatorischen Kambodscha und im zusammenbrechenden Kongo - ungewöhnliche Kunstperformances statt, mit wie lebendig scheinenden Figuren und Vögeln, entwickelt von den unterschiedlichsten Menschen, die eine Gegenwelt zu Krieg und Gewalt aufbauen wollen. Und Radar, inzwischen erwachsen geworden, ist der ungewollte Mittelpunkt dieser verrückten Bewegung.
Ein reiches, sehr vergnügliches Leseabenteuer der besonderen Art - ein physikalischer Schelmenroman.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dass Larsen erzählen kann, hat er mit seinem Debüt "Die Karte meiner Träume" bewiesen, schreibt Rezensentin Sofia Glasl in ihrer sehr differenzierten Rezension zu Reif Larsens "Die Rettung des Horizont". In seinem zweiten Roman treibt er die erprobte Erzähltechnik so sehr auf die Spitze, dass dieser schließlich zu einem "langatmigen Kurzschluss" verkommt, lesen wir, was umso trauriger ist, da Larsens charmante Figuren laut Rezensentin von einer Vielschichtigkeit und Einzigartigkeit sind, wie man sie selten findet. Nur leider lässt er diesen Figuren und ihrer Entwicklung allzu viel Raum, meint Glasl, so viel Raum, dass man sich als Leser irgendwann nicht mehr zurecht findet zwischen Relevantem und Irrelevantem und all den wuchernden Zusammenhängen, die der Autor leider auf Teufel komm raus herstellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2017Flusslandschaft mit verschränkten Vögeln
Reif Larsen erzählt in seinem Roman "Die Rettung des Horizonts" die Schelmengeschichte eines funkwellenverliebten Sonderlings aus New Jersey, die von der Finnmark bis nach Kongo reicht.
Zwei Stromausfälle mit weitreichenden Folgen, drei brennende Bibliotheken, vier obskure Kunstaktionen, gedacht, um die Welt zu verändern, und eine fünfte, vor der dieser siebenhundertsechzig Seiten starke Roman sein jähes Ende findet, um den Kopf des Lesers noch eine Weile weiterzubeschäftigen: Was Reif Larsen, der mit seinem Debüt "Die Karte meiner Träume" vor acht Jahren international Erfolge feierte, in seinem zweiten Roman "Die Rettung des Horizonts" auffährt, kann sich sehen lassen. Und fühlen und riechen und schmecken, wie es die Creative-Writing-Schulen amerikanischer Prägung empfehlen: Lass deine Helden ihre Welt mit einem der Sinne besonders eindrücklich erleben, heißt es da. Und statte sie mit kulturellen Eigenheiten aus, die sprachliche und motivatorische Evidenz begründen.
Derart energisch versieht Reif Larsen seine Figuren mit ungewöhnlichen Fähigkeiten und seine Szenarien mit ungewohnten Eigenheiten, dass der empfindliche Leser, der nicht derart mit Malerischem gemästet werden will, mit ersten Trotzreaktionen zu kämpfen hat. Und dann nimmt ihn die Geschichte doch hinterrücks für sich ein.
Der Strom fällt aus, als Radar Radmanovic in einer Aprilnacht 1975 im Krankenhaus von Elizabeth, New Jersey, auf die Welt kommt, und er fällt aus, als sein Vater Kermin an einem Sommertag 2010 eine selbstgebaute Elektronenkanone zündet, um rückgängig zu machen, was seine Mutter Charlene mit ihm im nördlichsten Norwegen anstellen ließ, als Radar gerade einmal vier Jahre alt war. Als Kind hellhäutiger Eltern hat Radar von Geburt an die Farbe einer Aubergine. Kein Arzt, kein Wissenschaftler kann es erklären, geschweige denn ändern. Sehr zum Leidwesen der zunehmend angespannten Mutter. Die, zum Leidwesen wiederum ihres Mannes, sich mit dem ungewöhnlichen Äußeren ihres Sohnes einfach nicht abfinden kann. Als die Familie mit dem Versprechen, Radar einer anderswo unbekannten, dabei ebenso wirkungsvollen wie schmerzfreien Behandlung zu unterziehen, nach Kirkenes, in einen seltsamen Streifen Niemandsland zwischen Norwegen und Finnland, eingeladen wird, gibt der Vater ein letztes Mal nach.
Die Gruppe von Physikern und Künstlern, die dort arbeitet, bietet an, Radars Unterhautschicht mit einem negativen elektromagnetischen Puls zu entladen und seinen Hautton so dem seiner Eltern anzunähern. Das mehr als zweifelhafte Ergebnis: Radar wird gelbstichig, kahl und zum Epileptiker. Um zumindest diesen Umstand umzukehren, entwickelt Kermin lange danach im Schuppen hinter dem Haus einen dem norwegischen Gerät ähnlichen Vircator - und sorgt für einen Stromausfall in der ganzen Gegend.
Auch wenn der Titel des Romans im amerikanischen Original, "I am Radar", den jungen Mann noch deutlicher in den Fokus nimmt als die deutsche Übersetzung: Die Geschichte des funkwellenverliebten Sonderlings aus New Jersey ist nur eine von drei ähnlich gelagerten Konstellationen des Buchs. Alle drei bilden das biographische Wurzelwerk für eine Geschichte intellektueller Eigenwilligkeit, für die sich auch ein Leser zur eigenen Überraschung noch empfänglich sieht, dem Larsens Hang zum Pittoresken schon auf die Nerven gegangen ist: Unter dem Namen Kirkenesferda haben jene Künstler und Physiker aus dem hohen Norden, nach Ansicht eines serbischen Neuzugangs "die wichtigste Gruppe in der Geschichte der Aktionskunst", im Abstand von rund anderthalb Jahrzehnten bislang gerade einmal vier Bevegelser inszeniert, die in ihrem künstlerischen Extremismus und ihrer Risikobereitschaft ihresgleichen suchen.
Die Überreste einer heimlichen Kernspaltungsinstallation bei Murmansk 1944 wurden erst Jahrzehnte später zufällig von Fischern entdeckt. 1961 blieb von einer Aktion auf der Insel Gåselandet während der größten Wasserstoffbombenexplosion der Geschichte nur ein Achtmillimeterfilm übrig, der die Zerstörung dokumentiert. Nach einer ersten Performance vor Publikum in einem Camp der Roten Khmer 1979 überlebte nur ein Beteiligter den nächtlichen Angriff der verstimmten Gastgeber. Und die Aktion Kirk Fire 1995 in den Ruinen der bosnischen Nationalbibliothek in Sarajevo hatte abgebrochen werden müssen, weil die Gefahr für das Publikum zu groß wurde.
Dass sein Vater nicht nur für den Stromausfall in der gesamten Gegend verantwortlich ist, sondern ohne Wissen der Familie für Kirkenesferda schon an den Vorbereitungen für Kirk Tre im kambodschanischen Dschungel beteiligt war und außerdem unmittelbar vor der Reise nach Kongo für die fünfte Bevegelse steht, bei der quantenmechanisch verschränkte künstliche Vögel eingesetzt werden sollen, erfährt Radar erst nach und nach. Kurzerhand - und nicht ohne es später zu bereuen - entschließt er sich, seinen Vater, der seit Beginn des Stromausfalls verschwunden ist, auf der Fahrt zu vertreten.
Schaubilder, Urkunden, Telegramme, ganze Bücher denkt sich der Autor Reif Larsen aus, um sie zur Beglaubigung seiner wundersamen Geschichte und zur Unterhaltung seiner Leser anzuführen. Und nähert sich mit diesem Aufwand, mit dieser Versenkung in ein Spiel, dessen Ausmaß allein er bestimmt, selbst den Künstlern in seiner Geschichte. Auf einer kulinarischen Ebene lebt "Die Rettung des Horizonts" von dieser Fülle an Figuren, Plätzen und Plänen. Auf der literarischen davon, dass der Erzähllust des Autors nur selten die erzählerische Sorgfalt als nötiges Gegengewicht fehlt. Und auf der gedanklichen dadurch, dass Reif Larsen in seinem zweiten Roman mit leichter Hand eine Reihe von Motiven variiert, die durchaus Gewicht haben: Der Halt, den verunsicherte Menschen noch in den seltsamsten Vorhaben finden, gehört dazu. Der zweifelhafte Zwang, dem Leben der eigenen Kinder eine bestimmte Richtung zu geben. Und die kuriose Verschränkung von Paaren, denen etwas genommen wird oder verwehrt bleibt.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Reif Larsen: "Die Rettung des Horizonts". Roman. Aus dem Englischen von Malte Krutzsch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 768 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reif Larsen erzählt in seinem Roman "Die Rettung des Horizonts" die Schelmengeschichte eines funkwellenverliebten Sonderlings aus New Jersey, die von der Finnmark bis nach Kongo reicht.
Zwei Stromausfälle mit weitreichenden Folgen, drei brennende Bibliotheken, vier obskure Kunstaktionen, gedacht, um die Welt zu verändern, und eine fünfte, vor der dieser siebenhundertsechzig Seiten starke Roman sein jähes Ende findet, um den Kopf des Lesers noch eine Weile weiterzubeschäftigen: Was Reif Larsen, der mit seinem Debüt "Die Karte meiner Träume" vor acht Jahren international Erfolge feierte, in seinem zweiten Roman "Die Rettung des Horizonts" auffährt, kann sich sehen lassen. Und fühlen und riechen und schmecken, wie es die Creative-Writing-Schulen amerikanischer Prägung empfehlen: Lass deine Helden ihre Welt mit einem der Sinne besonders eindrücklich erleben, heißt es da. Und statte sie mit kulturellen Eigenheiten aus, die sprachliche und motivatorische Evidenz begründen.
Derart energisch versieht Reif Larsen seine Figuren mit ungewöhnlichen Fähigkeiten und seine Szenarien mit ungewohnten Eigenheiten, dass der empfindliche Leser, der nicht derart mit Malerischem gemästet werden will, mit ersten Trotzreaktionen zu kämpfen hat. Und dann nimmt ihn die Geschichte doch hinterrücks für sich ein.
Der Strom fällt aus, als Radar Radmanovic in einer Aprilnacht 1975 im Krankenhaus von Elizabeth, New Jersey, auf die Welt kommt, und er fällt aus, als sein Vater Kermin an einem Sommertag 2010 eine selbstgebaute Elektronenkanone zündet, um rückgängig zu machen, was seine Mutter Charlene mit ihm im nördlichsten Norwegen anstellen ließ, als Radar gerade einmal vier Jahre alt war. Als Kind hellhäutiger Eltern hat Radar von Geburt an die Farbe einer Aubergine. Kein Arzt, kein Wissenschaftler kann es erklären, geschweige denn ändern. Sehr zum Leidwesen der zunehmend angespannten Mutter. Die, zum Leidwesen wiederum ihres Mannes, sich mit dem ungewöhnlichen Äußeren ihres Sohnes einfach nicht abfinden kann. Als die Familie mit dem Versprechen, Radar einer anderswo unbekannten, dabei ebenso wirkungsvollen wie schmerzfreien Behandlung zu unterziehen, nach Kirkenes, in einen seltsamen Streifen Niemandsland zwischen Norwegen und Finnland, eingeladen wird, gibt der Vater ein letztes Mal nach.
Die Gruppe von Physikern und Künstlern, die dort arbeitet, bietet an, Radars Unterhautschicht mit einem negativen elektromagnetischen Puls zu entladen und seinen Hautton so dem seiner Eltern anzunähern. Das mehr als zweifelhafte Ergebnis: Radar wird gelbstichig, kahl und zum Epileptiker. Um zumindest diesen Umstand umzukehren, entwickelt Kermin lange danach im Schuppen hinter dem Haus einen dem norwegischen Gerät ähnlichen Vircator - und sorgt für einen Stromausfall in der ganzen Gegend.
Auch wenn der Titel des Romans im amerikanischen Original, "I am Radar", den jungen Mann noch deutlicher in den Fokus nimmt als die deutsche Übersetzung: Die Geschichte des funkwellenverliebten Sonderlings aus New Jersey ist nur eine von drei ähnlich gelagerten Konstellationen des Buchs. Alle drei bilden das biographische Wurzelwerk für eine Geschichte intellektueller Eigenwilligkeit, für die sich auch ein Leser zur eigenen Überraschung noch empfänglich sieht, dem Larsens Hang zum Pittoresken schon auf die Nerven gegangen ist: Unter dem Namen Kirkenesferda haben jene Künstler und Physiker aus dem hohen Norden, nach Ansicht eines serbischen Neuzugangs "die wichtigste Gruppe in der Geschichte der Aktionskunst", im Abstand von rund anderthalb Jahrzehnten bislang gerade einmal vier Bevegelser inszeniert, die in ihrem künstlerischen Extremismus und ihrer Risikobereitschaft ihresgleichen suchen.
Die Überreste einer heimlichen Kernspaltungsinstallation bei Murmansk 1944 wurden erst Jahrzehnte später zufällig von Fischern entdeckt. 1961 blieb von einer Aktion auf der Insel Gåselandet während der größten Wasserstoffbombenexplosion der Geschichte nur ein Achtmillimeterfilm übrig, der die Zerstörung dokumentiert. Nach einer ersten Performance vor Publikum in einem Camp der Roten Khmer 1979 überlebte nur ein Beteiligter den nächtlichen Angriff der verstimmten Gastgeber. Und die Aktion Kirk Fire 1995 in den Ruinen der bosnischen Nationalbibliothek in Sarajevo hatte abgebrochen werden müssen, weil die Gefahr für das Publikum zu groß wurde.
Dass sein Vater nicht nur für den Stromausfall in der gesamten Gegend verantwortlich ist, sondern ohne Wissen der Familie für Kirkenesferda schon an den Vorbereitungen für Kirk Tre im kambodschanischen Dschungel beteiligt war und außerdem unmittelbar vor der Reise nach Kongo für die fünfte Bevegelse steht, bei der quantenmechanisch verschränkte künstliche Vögel eingesetzt werden sollen, erfährt Radar erst nach und nach. Kurzerhand - und nicht ohne es später zu bereuen - entschließt er sich, seinen Vater, der seit Beginn des Stromausfalls verschwunden ist, auf der Fahrt zu vertreten.
Schaubilder, Urkunden, Telegramme, ganze Bücher denkt sich der Autor Reif Larsen aus, um sie zur Beglaubigung seiner wundersamen Geschichte und zur Unterhaltung seiner Leser anzuführen. Und nähert sich mit diesem Aufwand, mit dieser Versenkung in ein Spiel, dessen Ausmaß allein er bestimmt, selbst den Künstlern in seiner Geschichte. Auf einer kulinarischen Ebene lebt "Die Rettung des Horizonts" von dieser Fülle an Figuren, Plätzen und Plänen. Auf der literarischen davon, dass der Erzähllust des Autors nur selten die erzählerische Sorgfalt als nötiges Gegengewicht fehlt. Und auf der gedanklichen dadurch, dass Reif Larsen in seinem zweiten Roman mit leichter Hand eine Reihe von Motiven variiert, die durchaus Gewicht haben: Der Halt, den verunsicherte Menschen noch in den seltsamsten Vorhaben finden, gehört dazu. Der zweifelhafte Zwang, dem Leben der eigenen Kinder eine bestimmte Richtung zu geben. Und die kuriose Verschränkung von Paaren, denen etwas genommen wird oder verwehrt bleibt.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Reif Larsen: "Die Rettung des Horizonts". Roman. Aus dem Englischen von Malte Krutzsch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 768 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Meisterwerk eines Nerds. The Washington Post
Auch ein Kurzschluss kann sich hinziehen
Reif Larsen eifert in seinem neuen Roman den großen postmodernen Autoren nach
Mit seinem Roman „The Selected Works of T. S. Spivet – Die Karte meiner Träume“ legte Reif Larsen 2009 ein überzeugendes Debüt vor, das gleich zum Bestseller wurde. Er schilderte darin die Reise des zwölfjährigen Kartografen T. S. Spivet zum Smithsonian Museum in Washington als scheinbar undurchdringliches erzählerisches und typografisches Netzwerk aus Americana-Nostalgie und RoadmovieAnleihen. Mit detailreichen Zeichnungen, Randnotizen und Verweisen des Ich-Erzählers entwickelte sich der Roman zu einem Labyrinth aus Text, Bild und Anmerkungen. Diese Strategie verfolgt Larsen nun auch in seinem zweiten Roman „I Am Radar – Die Rettung des Horizonts“, in dem er wieder mehrere Erzählstränge multimedial ineinander verwebt.
Protagonist ist Radar Radmanovic, der in den Siebzigerjahren in den USA als schwarzes Kind weißer Eltern geboren wird. Niemand wagt für diese genetische Abweichung das Wort „Krankheit“ in den Mund zu nehmen, es steht aber übergroß im Raum, ebenso der latente Rassismus der ihm entgegenschlägt. Auf der Suche nach den Ursachen der Abweichung stößt Radars Mutter Charlene auf eine Künstlerenklave in Norwegen. Diese experimentiert mit Elektrizität und Tier-Automaten und glaubt, Radar helfen, also seine Haut weiß umfärben zu können. Ganz ohne Nebenwirkungen funktioniert das nicht, Radar fallen bei der Aktion sämtliche Haare aus, und er erleidet fortan regelmäßig epileptische Anfälle. Sein Vater Kermin hilft dem Kollektiv mit weiteren Kunstaktionen, sein Fachwissen als Miniaturfernsehtechniker und Funker ist dabei von Vorteil.
Dieser Ansatz eines schrägen Bildungsromans wird durch die Chronik der serbischen Familie Danilovich ergänzt, deren Sohn Miroslav sich ebenfalls mit Automaten beschäftigt und Theaterstücke mit selbstentwickelten Robotern inszeniert. Ebenso parallel dazu verläuft die Geschichte von Raksmey Raksmey, dem angeblich ersten indischen Quantenphysiker und eine Kunstaktion der Norweger im Kongo.
Larsen beweist auch in seinem zweiten Roman eindrücklich, dass er ein Händchen für Figurenzeichnung hat. Mit viel Menschlichkeit, Empathie und Humor lässt er jede einzelne Person mit ihrem ganz eigenen Charakter und ihren Macken erstehen – Radar, den Außenseiter, der sich auf dem Weg des geringsten Widerstandes durchs Leben laviert, oder seine Mutter, die Menschen sehr treffend anhand ihrer Bücherregale zu beschreiben vermag. Larsens Welten sind bevölkert von liebenswert-verschrobenen Fachidioten.
Die verschiedenen Stränge der Handlung verknüpft Larsen mit Genreanleihen sowie direkten und indirekten Zitaten zu einem undurchdringlichen Gewebe aus Verweisen. Gleich zu Beginn erwähnt er Thomas Pynchon und macht keinen Hehl daraus, dass er diesem Vorbild nachstrebt. Er vernäht seine Handlung fein säuberlich mit Zitaten und Reminiszenzen: Kleists Aufsatz über das Marionettentheater wird immer wieder herangezogen, wenn es um die Arbeit an den Automaten geht. Die Reise in den Kongo wird per Schiff auf dem Fluss absolviert, Anleihen an Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ sind unverkennbar. Die Truppe begegnet einem gewissen Professor Funes, der nicht nur aus Jorge Luis Borges Erzählung „Das unerbittliche Gedächtnis“ entsprungen zu sein scheint, sondern haargenau diese als seine Lebensgeschichte ausgibt. Funes’ Bürde ist, dass er sich seit einem Unfall an alles, das ihm jemals widerfahren ist, erinnern kann. So wie Funes nichts vergessen kann, so will Larsen scheinbar alles notieren, was seinen Figuren zustößt, auch Irrelevantes. Die Strategie ist klar, das Leben an sich soll möglichst detailgetreu dargestellt werden. Die Ereignisse werden aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet – die Beziehung von Beobachtetem und Beobachtendem wird zum Leitthema, das Verhältnis von Kunst und Realität. Doch scheint Larsen dabei aus den Augen zu verlieren, dass bei einer solch akribischen Chronik der Leser vor lauter Dauer-Input irgendwann nicht mehr unterscheiden kann und will, welche Nebenhandlungen überhaupt relevant sind oder werden. Die Betonung von Erzählenswertem, das Kürzen von Belanglosem, das Herausschälen einer Erzählung aus der Chronik wäre hier essenziell gewesen, um den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten. Aufgrund der schieren Länge des Romans droht die eklektizistische Struktur zu zerfallen und die einfühlsam erzählten Figuren zu erdrücken.
So wächst „Die Rettung des Horizonts“ schnell zu einem Mammutwerk an, zusammengewürfelt aus hübschen kleinen Textideen und charmanten Figuren. Erstaunlich, dass Larsen gerade die Formen des Essays und der Kurzgeschichte zitiert und dennoch versucht, auf Biegen und Brechen Zusammenhang zu erzwingen, wo einfach nur der Zufall regiert. Es hätte dem Roman gutgetan, stünden auch die novellenartigen Handlungsstränge nur locker hingetupft nebeneinander.
Larsen verfällt demselben Kontrollzwang wie seine Figuren, alles muss mit allem zusammenhängen: die Selbstkontrolle, die Kontrolle über andere Menschen und die Automaten, die Kontrolle der Vergangenheit über die Zukunft, die Kontrolle über Wissen und Elektrizität – all das legt den Roman letztendlich in einem langatmigen Kurzschluss lahm.
SOFIA GLASL
Reif Larsen: Die Rettung des Horizonts. Roman. Aus dem Englischen von Malte Krutzsch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 768 Seiten, 26 Euro. E-Book 24,99 Euro.
Auf Biegen und Brechen wird
ein Zusammenhang erzwungen,
wo einfach nur Zufall regiert
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Reif Larsen eifert in seinem neuen Roman den großen postmodernen Autoren nach
Mit seinem Roman „The Selected Works of T. S. Spivet – Die Karte meiner Träume“ legte Reif Larsen 2009 ein überzeugendes Debüt vor, das gleich zum Bestseller wurde. Er schilderte darin die Reise des zwölfjährigen Kartografen T. S. Spivet zum Smithsonian Museum in Washington als scheinbar undurchdringliches erzählerisches und typografisches Netzwerk aus Americana-Nostalgie und RoadmovieAnleihen. Mit detailreichen Zeichnungen, Randnotizen und Verweisen des Ich-Erzählers entwickelte sich der Roman zu einem Labyrinth aus Text, Bild und Anmerkungen. Diese Strategie verfolgt Larsen nun auch in seinem zweiten Roman „I Am Radar – Die Rettung des Horizonts“, in dem er wieder mehrere Erzählstränge multimedial ineinander verwebt.
Protagonist ist Radar Radmanovic, der in den Siebzigerjahren in den USA als schwarzes Kind weißer Eltern geboren wird. Niemand wagt für diese genetische Abweichung das Wort „Krankheit“ in den Mund zu nehmen, es steht aber übergroß im Raum, ebenso der latente Rassismus der ihm entgegenschlägt. Auf der Suche nach den Ursachen der Abweichung stößt Radars Mutter Charlene auf eine Künstlerenklave in Norwegen. Diese experimentiert mit Elektrizität und Tier-Automaten und glaubt, Radar helfen, also seine Haut weiß umfärben zu können. Ganz ohne Nebenwirkungen funktioniert das nicht, Radar fallen bei der Aktion sämtliche Haare aus, und er erleidet fortan regelmäßig epileptische Anfälle. Sein Vater Kermin hilft dem Kollektiv mit weiteren Kunstaktionen, sein Fachwissen als Miniaturfernsehtechniker und Funker ist dabei von Vorteil.
Dieser Ansatz eines schrägen Bildungsromans wird durch die Chronik der serbischen Familie Danilovich ergänzt, deren Sohn Miroslav sich ebenfalls mit Automaten beschäftigt und Theaterstücke mit selbstentwickelten Robotern inszeniert. Ebenso parallel dazu verläuft die Geschichte von Raksmey Raksmey, dem angeblich ersten indischen Quantenphysiker und eine Kunstaktion der Norweger im Kongo.
Larsen beweist auch in seinem zweiten Roman eindrücklich, dass er ein Händchen für Figurenzeichnung hat. Mit viel Menschlichkeit, Empathie und Humor lässt er jede einzelne Person mit ihrem ganz eigenen Charakter und ihren Macken erstehen – Radar, den Außenseiter, der sich auf dem Weg des geringsten Widerstandes durchs Leben laviert, oder seine Mutter, die Menschen sehr treffend anhand ihrer Bücherregale zu beschreiben vermag. Larsens Welten sind bevölkert von liebenswert-verschrobenen Fachidioten.
Die verschiedenen Stränge der Handlung verknüpft Larsen mit Genreanleihen sowie direkten und indirekten Zitaten zu einem undurchdringlichen Gewebe aus Verweisen. Gleich zu Beginn erwähnt er Thomas Pynchon und macht keinen Hehl daraus, dass er diesem Vorbild nachstrebt. Er vernäht seine Handlung fein säuberlich mit Zitaten und Reminiszenzen: Kleists Aufsatz über das Marionettentheater wird immer wieder herangezogen, wenn es um die Arbeit an den Automaten geht. Die Reise in den Kongo wird per Schiff auf dem Fluss absolviert, Anleihen an Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ sind unverkennbar. Die Truppe begegnet einem gewissen Professor Funes, der nicht nur aus Jorge Luis Borges Erzählung „Das unerbittliche Gedächtnis“ entsprungen zu sein scheint, sondern haargenau diese als seine Lebensgeschichte ausgibt. Funes’ Bürde ist, dass er sich seit einem Unfall an alles, das ihm jemals widerfahren ist, erinnern kann. So wie Funes nichts vergessen kann, so will Larsen scheinbar alles notieren, was seinen Figuren zustößt, auch Irrelevantes. Die Strategie ist klar, das Leben an sich soll möglichst detailgetreu dargestellt werden. Die Ereignisse werden aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet – die Beziehung von Beobachtetem und Beobachtendem wird zum Leitthema, das Verhältnis von Kunst und Realität. Doch scheint Larsen dabei aus den Augen zu verlieren, dass bei einer solch akribischen Chronik der Leser vor lauter Dauer-Input irgendwann nicht mehr unterscheiden kann und will, welche Nebenhandlungen überhaupt relevant sind oder werden. Die Betonung von Erzählenswertem, das Kürzen von Belanglosem, das Herausschälen einer Erzählung aus der Chronik wäre hier essenziell gewesen, um den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten. Aufgrund der schieren Länge des Romans droht die eklektizistische Struktur zu zerfallen und die einfühlsam erzählten Figuren zu erdrücken.
So wächst „Die Rettung des Horizonts“ schnell zu einem Mammutwerk an, zusammengewürfelt aus hübschen kleinen Textideen und charmanten Figuren. Erstaunlich, dass Larsen gerade die Formen des Essays und der Kurzgeschichte zitiert und dennoch versucht, auf Biegen und Brechen Zusammenhang zu erzwingen, wo einfach nur der Zufall regiert. Es hätte dem Roman gutgetan, stünden auch die novellenartigen Handlungsstränge nur locker hingetupft nebeneinander.
Larsen verfällt demselben Kontrollzwang wie seine Figuren, alles muss mit allem zusammenhängen: die Selbstkontrolle, die Kontrolle über andere Menschen und die Automaten, die Kontrolle der Vergangenheit über die Zukunft, die Kontrolle über Wissen und Elektrizität – all das legt den Roman letztendlich in einem langatmigen Kurzschluss lahm.
SOFIA GLASL
Reif Larsen: Die Rettung des Horizonts. Roman. Aus dem Englischen von Malte Krutzsch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 768 Seiten, 26 Euro. E-Book 24,99 Euro.
Auf Biegen und Brechen wird
ein Zusammenhang erzwungen,
wo einfach nur Zufall regiert
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