Minsk im Sommer 2020. Eine junge Frau im ärmellosen weißen Hemd tänzelt vor einer schwarzen Mauer aus martialisch vermummten Sondereinsatzkräften: Bilder wie diese gingen um die Welt. Der Brutalität des Regimes setzen Hunderttausende mutige Bürgerinnen und Bürger aller gesellschaftlicher Schichten Gewaltfreiheit, kreative Vielfalt und dezentrale Selbstorganisation entgegen. Was sich seit den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 in Belarus abspielt, geht über eine regionale Protestbewegung gegen gefälschte Wahlen weit hinaus. In Minsk und vielen anderen Städten des weithin unbekannten Landes zwischen Russland und der EU wird Geschichte geschrieben. Weiblich, friedlich, postnational - so charakterisiert die Autorin die Umwälzung in ihrem Land und stellt die Ereignisse in den Kontext europäischer und globaler Emanzipationsbewegungen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Franziska Davies liest das Buch der belarussischen Philosophin und engagierten Frauenrechtlerin Olga Shparaga über die Rolle der Frauen bei den Protesten gegen Lukaschenko mit Spannung. Dass die Autorin selbst an den Protesten beteiligt war, kommt dem Buch Davies zufolge zugute. Die Autorin kennt den Weg der Frauenbewegung, ihre Milieus, ihre Symbole genau, erklärt Davies. Den Weg der "weiblichen Subjektwerdung zur politischen Akteurin" einer Tichanowskaja zeichnet die Autorin der Rezensentin auf erhellende Weise nach.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.10.2021Ein kurzer Sommer
der Hoffnung
Zwei Bücher über den Aufstand der Frauen in Belarus
Belarus ist weitgehend aus den deutschen Medien verschwunden. Mehr als ein Jahr, nachdem die Massenproteste gegen die Wahlfälschungen von Präsident Alexander Lukaschenko begonnen hatten, ebbt das Interesse an dem Land allmählich ab. Dabei wäre es für die Menschen in Belarus so ungemein wichtig, dass die Welt sie nicht vergisst. Denn obwohl große Proteste gegen das Regime inzwischen ausbleiben, so hat sich doch die belarussische Gesellschaft seit dem vorigen Jahr fundamental verändert, darin sind sich die belarussische Philosophin Olga Shparaga und die deutsche Journalistin Alice Bota einig.
Beide haben wichtige Bücher über die Frauen von Belarus geschrieben. Shparaga als Beteiligte und Interpretin der Proteste, Bota als ausgesprochen gut informierte Beobachterin aus der Außenperspektive. Shparaga war schon lange, bevor die Frauen in Belarus die Bühne betraten, jemand, die sich für Frauenrechte und Gendergerechtigkeit in Belarus engagierte. Die tieferen Ursachen für das Erwachen der Zivilgesellschaft 2020 sieht sie vor allem in zwei Milieus, die sich etwa in den letzten zehn Jahren in Belarus gebildete hatten: das künstlerische Milieu und die IT-Branche. Hier sammelten sich Menschen, die für sich und andere Freiräume schaffen wollten und denen dies auch gelang. Hier war der Nukleus für die Mobilisierung der Gesellschaft, die nach den gefälschten Wahlen ihren Höhepunkt erreichte.
Bota kommt aber auf der Grundlage vieler Gespräche mit Frauen, die sich auf unterschiedliche Weise engagierten, zu demselben Schluss. Sie erinnert daran, dass – anders als etwa in Deutschland – Frauen in Belarus als Programmiererinnen in der IT-Branche sehr zahlreich sind. Wie Shparaga macht sie auch den Umgang Lukaschenkos mit der Corona-Pandemie als einen Wendepunkt aus. Der Staat war ganz offensichtlich überfordert, die Krankenhäuser füllten sich, Ärzte und Ärztinnen arbeiteten über die eigene Belastungsgrenze hinaus. Es waren die vielen Freiwilligen, die durch unermüdlichen Einsatz diese Mängel linderten. Die Regierung aber log, dass alles unter Kontrolle sei, hielt Informationen über das wahre Ausmaß der Pandemie zurück. Und vielleicht am schlimmsten: Der Präsident verhöhnte die Menschen, die an der Krankheit gestorben waren.
Dann machte Lukaschenko einen weiteren Fehler, als er nämlich die Frau des verhinderten Präsidentschaftskandidaten Sergej Tichanowski, Swetlana Tichanowskaja, als Kandidatin zuließ. Vereinfacht ausgedrückt konnte sich der Macho Lukaschenko schlicht nicht vorstellen, dass ihm eine Frau gefährlich werden konnte. Stattdessen wurden ihm drei Frauen gefährlich: schnell bildete Tichanowskaja ein Team mit der Managerin Weronika Zepkalo, deren Ehemann ebenfalls an der Kandidatur gehindert worden war, und der Musikerin Maria Kolesnikowa. Die Auftritte der drei zogen Abertausende Menschen an.
Dabei, so analysieren es Shparaga und auch Bota, setzten sie der eindeutig männlich konnotierten, patriarchischen Selbstdarstellung Lukaschenkos eine dezidiert weibliche Symbolik entgegen. Sie zelebrierten die Liebe und die Gemeinschaft. Darin offenbart sich aber auch das Paradox der weiblichen belarussischen Revolution: zwar werden die Frauen zu Politikerinnen, aber insbesondere Tichanowskaja tut dies mit Rückgriff auf traditionelle Geschlechterrollen, sie positioniert sich als Mutter und Ehefrau. Im Wahlkampf thematisierte sie nicht die häusliche Gewalt oder die Diskriminierungen, die Frauen ausgesetzt sind. Aber dennoch, so argumentiert Shparaga überzeugend, handelt es sich hierbei um eine weibliche Subjektwerdung zur politischen Akteurin. Die Sprache und Symbole, die Feministinnen und die LGBTQI-Gemeinschaft entwickelt haben, werden auch zur Ausdrucksform der Proteste nach den gefälschten Wahlen.
Diese ließ Lukaschenko brutal niederknüppeln. Die tiefen körperlichen und seelischen Folgen dieser Gewalt stellt insbesondere Bota eindrücklich dar, indem sie den Opfern eine Stimme gibt. Die sensiblen Porträts einzelner Aktivistinnen – bekannter wie unbekannter – sind überhaupt ein großer Verdienst dieses sehr gut lesbaren Buchs, mit dem sich Bota in erster Linie an ein deutsches Publikum richtet. Man kann der Autorin nur zustimmen, dass das geringe Interesse deutscher Feministinnen an Belarus irritierend ist. Zutreffend ist auch, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Belarus in Deutschland noch lange nicht aufgearbeitet ist. Wie viele Deutsche wissen davon, wie Wehrmacht und Einsatzgruppen einen erbarmungslosen Vernichtungskampf gegen vermeintliche und tatsächliche Partisanen dort führten? Wie sie ganze Dörfer verbrannten ohne irgendeine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung? Dass sich der „Holocaust durch Kugeln“ zu ganz erheblichen Teilen auf belarussischem Boden vollzog? Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund haben die Menschen, die in Belarus heute für ihre Würde kämpfen, unsere Solidarität verdient.
FRANZISKA DAVIES
Eindrücklich sind die Stimmen
der Opfer, die Lukaschenko
niederknüppeln ließ
Alice Bota:
Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit. Berlin-Verlag, Berlin 2021. 240 Seiten, 18 Euro.
E-Book: 17,99 Euro.
Olga Shparaga:
Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus. Aus dem Russischen von Volker Weichsel. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2021.
234 Seiten, 13 Euro.
E-Book: 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Hoffnung
Zwei Bücher über den Aufstand der Frauen in Belarus
Belarus ist weitgehend aus den deutschen Medien verschwunden. Mehr als ein Jahr, nachdem die Massenproteste gegen die Wahlfälschungen von Präsident Alexander Lukaschenko begonnen hatten, ebbt das Interesse an dem Land allmählich ab. Dabei wäre es für die Menschen in Belarus so ungemein wichtig, dass die Welt sie nicht vergisst. Denn obwohl große Proteste gegen das Regime inzwischen ausbleiben, so hat sich doch die belarussische Gesellschaft seit dem vorigen Jahr fundamental verändert, darin sind sich die belarussische Philosophin Olga Shparaga und die deutsche Journalistin Alice Bota einig.
Beide haben wichtige Bücher über die Frauen von Belarus geschrieben. Shparaga als Beteiligte und Interpretin der Proteste, Bota als ausgesprochen gut informierte Beobachterin aus der Außenperspektive. Shparaga war schon lange, bevor die Frauen in Belarus die Bühne betraten, jemand, die sich für Frauenrechte und Gendergerechtigkeit in Belarus engagierte. Die tieferen Ursachen für das Erwachen der Zivilgesellschaft 2020 sieht sie vor allem in zwei Milieus, die sich etwa in den letzten zehn Jahren in Belarus gebildete hatten: das künstlerische Milieu und die IT-Branche. Hier sammelten sich Menschen, die für sich und andere Freiräume schaffen wollten und denen dies auch gelang. Hier war der Nukleus für die Mobilisierung der Gesellschaft, die nach den gefälschten Wahlen ihren Höhepunkt erreichte.
Bota kommt aber auf der Grundlage vieler Gespräche mit Frauen, die sich auf unterschiedliche Weise engagierten, zu demselben Schluss. Sie erinnert daran, dass – anders als etwa in Deutschland – Frauen in Belarus als Programmiererinnen in der IT-Branche sehr zahlreich sind. Wie Shparaga macht sie auch den Umgang Lukaschenkos mit der Corona-Pandemie als einen Wendepunkt aus. Der Staat war ganz offensichtlich überfordert, die Krankenhäuser füllten sich, Ärzte und Ärztinnen arbeiteten über die eigene Belastungsgrenze hinaus. Es waren die vielen Freiwilligen, die durch unermüdlichen Einsatz diese Mängel linderten. Die Regierung aber log, dass alles unter Kontrolle sei, hielt Informationen über das wahre Ausmaß der Pandemie zurück. Und vielleicht am schlimmsten: Der Präsident verhöhnte die Menschen, die an der Krankheit gestorben waren.
Dann machte Lukaschenko einen weiteren Fehler, als er nämlich die Frau des verhinderten Präsidentschaftskandidaten Sergej Tichanowski, Swetlana Tichanowskaja, als Kandidatin zuließ. Vereinfacht ausgedrückt konnte sich der Macho Lukaschenko schlicht nicht vorstellen, dass ihm eine Frau gefährlich werden konnte. Stattdessen wurden ihm drei Frauen gefährlich: schnell bildete Tichanowskaja ein Team mit der Managerin Weronika Zepkalo, deren Ehemann ebenfalls an der Kandidatur gehindert worden war, und der Musikerin Maria Kolesnikowa. Die Auftritte der drei zogen Abertausende Menschen an.
Dabei, so analysieren es Shparaga und auch Bota, setzten sie der eindeutig männlich konnotierten, patriarchischen Selbstdarstellung Lukaschenkos eine dezidiert weibliche Symbolik entgegen. Sie zelebrierten die Liebe und die Gemeinschaft. Darin offenbart sich aber auch das Paradox der weiblichen belarussischen Revolution: zwar werden die Frauen zu Politikerinnen, aber insbesondere Tichanowskaja tut dies mit Rückgriff auf traditionelle Geschlechterrollen, sie positioniert sich als Mutter und Ehefrau. Im Wahlkampf thematisierte sie nicht die häusliche Gewalt oder die Diskriminierungen, die Frauen ausgesetzt sind. Aber dennoch, so argumentiert Shparaga überzeugend, handelt es sich hierbei um eine weibliche Subjektwerdung zur politischen Akteurin. Die Sprache und Symbole, die Feministinnen und die LGBTQI-Gemeinschaft entwickelt haben, werden auch zur Ausdrucksform der Proteste nach den gefälschten Wahlen.
Diese ließ Lukaschenko brutal niederknüppeln. Die tiefen körperlichen und seelischen Folgen dieser Gewalt stellt insbesondere Bota eindrücklich dar, indem sie den Opfern eine Stimme gibt. Die sensiblen Porträts einzelner Aktivistinnen – bekannter wie unbekannter – sind überhaupt ein großer Verdienst dieses sehr gut lesbaren Buchs, mit dem sich Bota in erster Linie an ein deutsches Publikum richtet. Man kann der Autorin nur zustimmen, dass das geringe Interesse deutscher Feministinnen an Belarus irritierend ist. Zutreffend ist auch, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Belarus in Deutschland noch lange nicht aufgearbeitet ist. Wie viele Deutsche wissen davon, wie Wehrmacht und Einsatzgruppen einen erbarmungslosen Vernichtungskampf gegen vermeintliche und tatsächliche Partisanen dort führten? Wie sie ganze Dörfer verbrannten ohne irgendeine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung? Dass sich der „Holocaust durch Kugeln“ zu ganz erheblichen Teilen auf belarussischem Boden vollzog? Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund haben die Menschen, die in Belarus heute für ihre Würde kämpfen, unsere Solidarität verdient.
FRANZISKA DAVIES
Eindrücklich sind die Stimmen
der Opfer, die Lukaschenko
niederknüppeln ließ
Alice Bota:
Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit. Berlin-Verlag, Berlin 2021. 240 Seiten, 18 Euro.
E-Book: 17,99 Euro.
Olga Shparaga:
Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus. Aus dem Russischen von Volker Weichsel. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2021.
234 Seiten, 13 Euro.
E-Book: 12,99 Euro.
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»Das Buch hält mehr, als der Titel verspricht. ... Die gut lesbare Mischung aus Analyse, theoretischer Einordnung und eigener Anschauung [spricht] auch Leser_innen an, die sich bisher wenig oder gar nicht mit Belarus beschäftigt haben.« Barbara Oertel taz. die tageszeitung 20210725