Waren die Ereignisse von 1848/49 ein zusammenhängender Komplex, kann man von »der Revolution von 1848/49« sprechen? Wenn Handlungsformen und Wahrnehmungen der Beteiligten betrachtet werden, löst sich die Revolution in eine Vielzahl von Ereignissen, Wahrnehmungsformen, Verarbeitungsweisen, in »die Revolutionen von 1848/49« auf. Diese Sichtweise ist auch eine Folge des erfahrungsgeschichtlichen Wandels in der Geschichtswissenschaft.
Die Ereignisse 1848/49 waren noch stark von traditionalen Elementen geprägt, können aber zugleich als Beginn moderner Entwicklungen gelten: Die Revolutionen ermöglichten neuartige Erfahrungen, die ihrerseits die politischen Optionen und Handlungsmöglichkeiten, die soziale Geographie und kollektive Mentalität veränderten. Beispielsweise schufen die Ausweitung der Presse und die seit der Einführung der Eisenbahn erweiterten Reisemöglichkeiten einen größeren Erfahrungsraum, der die Idee des einheitlichen Vaterlandes greifbar werden ließ. Gerade mit Blick auf langfristige Entwicklungen ist also der Erfolg der Revolution positiver als bisher zu bewerten.
Die Beiträge des Bandes ordnen sich in dieses Koordinatensystem ein. Sie untersuchen die Erfahrungen, Sprachformen und Handlungsweisen der Beteiligten, die Aktivität und Passivität im politischen Handeln sowie regionale Konflikte. Ebenso werden Verarbeitungsformen und Deutungen der revolutionären Ereignisse betrachtet; dabei geht es um das Erinnern, aber auch - wie in der Schweiz - um das Vergessen. Die Autoren bieten quellennahe und anschauliche Einblicke in die Revolutionen von 1848/49, die insgesamt zu einem Bild von großer Tiefenschärfe gerinnen.
Inhaltsverzeichnis:
J. Sperber: Eine alte Revolution in neuer Zeit
S. Müller: Soldaten, Bürger, Barrikaden
M. Hettling: Die Toten und die Lebenden
R. Hachtmann: Vom Stand zur »Classe«: Selbstverständnis und Sprachverhalten von Arbeitern und Gesellen, Unternehmern und Meistern in der Berliner Revolution
C. Lipp: Aktivismus und politische Abstinenz
C. Eifert: Eine Herausforderung für die brandenburgischen Landräte
T. Götz/H. Heiss: Die Nation vom Rande aus gesehen
A. Neemann: Kontinuitäten und Brüche aus einzelstaatlicher Perspektive
S. Rouette: Die Bürger, der Bauer und die Revolution
M. S. Baader: »Alle wahren Demokraten tun es«
C. Jansen: Ludwig Simon, Arnold Ruge und Friedrich Wilhelm IV
T. Mergel: Sozialmoralische Milieus und Revolutionsgeschichtsschreibung
P. Sarasin: Sich an 1848 erinnern.
Die Ereignisse 1848/49 waren noch stark von traditionalen Elementen geprägt, können aber zugleich als Beginn moderner Entwicklungen gelten: Die Revolutionen ermöglichten neuartige Erfahrungen, die ihrerseits die politischen Optionen und Handlungsmöglichkeiten, die soziale Geographie und kollektive Mentalität veränderten. Beispielsweise schufen die Ausweitung der Presse und die seit der Einführung der Eisenbahn erweiterten Reisemöglichkeiten einen größeren Erfahrungsraum, der die Idee des einheitlichen Vaterlandes greifbar werden ließ. Gerade mit Blick auf langfristige Entwicklungen ist also der Erfolg der Revolution positiver als bisher zu bewerten.
Die Beiträge des Bandes ordnen sich in dieses Koordinatensystem ein. Sie untersuchen die Erfahrungen, Sprachformen und Handlungsweisen der Beteiligten, die Aktivität und Passivität im politischen Handeln sowie regionale Konflikte. Ebenso werden Verarbeitungsformen und Deutungen der revolutionären Ereignisse betrachtet; dabei geht es um das Erinnern, aber auch - wie in der Schweiz - um das Vergessen. Die Autoren bieten quellennahe und anschauliche Einblicke in die Revolutionen von 1848/49, die insgesamt zu einem Bild von großer Tiefenschärfe gerinnen.
Inhaltsverzeichnis:
J. Sperber: Eine alte Revolution in neuer Zeit
S. Müller: Soldaten, Bürger, Barrikaden
M. Hettling: Die Toten und die Lebenden
R. Hachtmann: Vom Stand zur »Classe«: Selbstverständnis und Sprachverhalten von Arbeitern und Gesellen, Unternehmern und Meistern in der Berliner Revolution
C. Lipp: Aktivismus und politische Abstinenz
C. Eifert: Eine Herausforderung für die brandenburgischen Landräte
T. Götz/H. Heiss: Die Nation vom Rande aus gesehen
A. Neemann: Kontinuitäten und Brüche aus einzelstaatlicher Perspektive
S. Rouette: Die Bürger, der Bauer und die Revolution
M. S. Baader: »Alle wahren Demokraten tun es«
C. Jansen: Ludwig Simon, Arnold Ruge und Friedrich Wilhelm IV
T. Mergel: Sozialmoralische Milieus und Revolutionsgeschichtsschreibung
P. Sarasin: Sich an 1848 erinnern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.1998Wer oben sitzt, darf sich nicht wehren
Die Reaktion reagierte trotzdem: Die Forschung tut sich schwer mit der Revolution von 1848
Revolutionen sind Prozesse. Prozesse lassen sich nur verstehen, wenn man ihre Einzelheiten zu einer Einheit bündelt. Die Einheit kann man mit einem Begriff herstellen, mit einer Erzählung oder mit einem Symbol, wie es im Fall der Französischen Revolution mit dem Sturm auf die Bastille geschah.
Die deutsche Revolution sperrt sich gegen die Herstellung ihrer Einheit. Sie ist gescheitert, wenn man auf die Revolutionäre blickt. Sie war erfolgreich, wenn man die politische Welt in Deutschland vor und nach 1848 vergleicht. Aber es gibt keinen Tag, auf den man die Revolution datieren könnte, keinen Platz, auf dem ihre Flammen jäh aufgelodert wären, keine Person, die sie angeführt hätte, und kein Zeichen, das sie veranschaulicht. Der Heckerhut wirkt so falsch wie der "teutsche Dreifarb". Schwarzrotgold - vermutet Hans Hattenhauer - stammt von den Uniformen der landständischen mecklenburg-strelitzschen Ritterschaft. Und der heute von Martin Walser so genannte "edle Hecker" war ein labiler Mann, der sich von seiner eigenen Großmäuligkeit hinreißen ließ. Sein Zug von Konstanz nach Kandern im April 1848 stellte der Revolution ein Bein, noch bevor sie richtig laufen konnte.
Wer sich selbst ein Urteil bilden will, liest am besten Veit Valentins große "Geschichte der deutschen Revolution". Die beiden Bände sind 1930/31 zum ersten Mal erschienen und gelten seitdem unbestritten als wissenschaftliches und literarisches Meisterwerk. Jetzt liegen sie mit einem informativen Nachwort, in ansprechender Ausstattung und zu einem günstigen Preis neu vor. Dafür ist dem Verlag zu danken. Valentin erzählt die Geschichte eines politischen Kampfes. "Unterschichten" und "Frauen" kommen bei ihm auch vor, nur nicht als Allegorien sozialer Ungerechtigkeit, sondern als Menschen, Lola Montez etwa, wohl die letzte Frau, die stolz mit "maitresse du Roi" unterschrieb.
In Dippers und Specks "1848" stellen sechsundzwanzig Historiker dar, was die "räumlich und sozial sensibilisierte historische Forschung" seit einigen Jahrzehnten zutage gefördert hat: "eine Vielzahl von Revolutionen". Die tausend Revolutionen blühten zeitlich im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und so weiter, räumlich in Baden, Sachsen und so weiter, örtlich auf der Straße oder in Wirtshäusern, sozial in Schichten vom Adel bis zu Frauen und Juden und politisch, wo kommuniziert wird, in Nation, Militär - einfühlsam beschrieben von Ute Frevert -, Verfassung und Ökonomie.
In seinen Überlegungen zum Scheitern der Revolution bemüht sich Christof Dipper energisch, die Geschichtsschreibung zu entmoralisieren. Nur, eine Struktur der Umwälzung zeigt auch er nicht. Für Prozesse scheint die historische Forschung nicht sensibilisiert zu sein. Natürlich darf man die Revolution auch aus der Perspektive des Wirtshauses betrachten. Aber man darf sie nicht einfach ins Wirtshaus holen. Denn daß "im Rheinland die Wirte, Bierbrauer und Bäcker auf den Mitgliederlisten der demokratischen Vereine konstant überrepräsentiert" waren, belegt eher den Geschäftssinn als den revolutionären Geist des Gaststättengewerbes.
Aus Jansens und Mergels Sammelband erfährt man, daß die "Vielzahl der Revolutionen" nichts sei als der Verzicht auf eine politische Bewertung der achtundvierziger Bewegung, leider auch der Verzicht auf den Versuch, die Einheit der Revolution zu denken. Immerhin machen die Herausgeber von der neuen fachlichen Freiheit den erfreulichsten Gebrauch. Sie versuchen gar nicht erst ein Gesichtspuzzle, sondern spielen Figurenwerfen. Die Themen reichen von der Kindergartenidee über das Verhalten der Esslinger Bürger und der brandenburgischen Landräte bis zu dem Versuch des Paulskirchenlinken Ludwig Simon, Preußens Friedrich Wilhelm IV. mit einer Collage seiner "Reden und Trinksprüche" lächerlich zu machen. Nur hat das nicht einmal die preußische Polizei gemerkt. Trotzdem, die Farbtupfer dieses Buches hauchen der Revolution Leben ein.
Wolfgang Hardtwigs Band gibt eine Ringvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität wieder und will 1848 in einen europäischen Zusammenhang stellen. Die Durchführung bleibt etwas hinter der guten Absicht zurück. Sich aus der nationalstaatlichen Perspektive zu lösen ist eben schwer, wenn man von den Revolutionären aus denkt. Aber die nationalstaatliche Perspektive wird vielfach gebrochen. So spürt Peter Niedermüller den Mythen nach, mit denen die Ungarn ihr 1848 zu einem nationalen Freiheitskampf stilisiert haben, Ludmila Thomas macht die russische Revolutionsfurcht verständlich, und Hartmut Kaelble sieht in 1848 wegen der vielen Entsprechungen in den einzelnen Staaten eine europäische Revolution.
Irmtraud Götz von Olenhusen will mit einigen jüngeren Historikern für Frankreich, Italien, die Rheinlande, Baden und Österreich die Frage beantworten, ob die Erinnerung an die Französische Revolution die Revolutionäre von 1848 beflügelt oder gehemmt habe. Es geht nicht um einen Revolutionsvergleich, sondern um die Propaganda der Revolutionäre. Das Ergebnis hat man geahnt: Der Gedanke an 1789 hat die Radikalen eher beflügelt, die Liberalen eher gehemmt und alle gehindert, erneut "den Schrecken auf die Tagesordnung" zu setzen. Das Scheitern der Achtundvierziger entzauberte auch den Mythos von 1789.
Der sie geführt, es war der Tod
Die "Vielzahl von Revolutionen" scheint Manfred Hettling noch zu überbieten. "Totenkult statt Revolution" meint: 1848 gab es keine Revolution, weil zu wenig Tote. Denn "ohne Gewalt keine Revolution". Mit den paar Schießunfällen, die sich doch ereignet hatten, habe die Nachwelt einen Kult getrieben, der das Fehlen "einer neuartigen revolutionären Einheit" verdeckte. Wie das Begräbnis der Märzgefallenen in Berlin, die Totenfeier für Robert Blum und die preußischen Kriegerdenkmäler inszeniert wurden, beschreibt Hettling vortrefflich. Daß er Tabus berührt und nicht bricht, sorgt für Spannung.
Wahrscheinlich ohne seinen Willen stellt Hettling genau die Einheit der Revolution her, die die neuere historische Forschung auflösen möchte. Denn nicht Regionen, Parlamente oder Wirtshäuser zwingen zur Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, sondern die Grenze des Lebens, der Tod. Als Liberale und Radikale im Mai 1870 hinter dem Sarg des populären linksliberalen Achtundvierzigers Benedikt Waldeck schritten, hatte selbstverständlich jeder etwas anderes erlebt und seine eigene Revolution im Kopf. Aber wie hätten sich Anhänger beider Richtungen versammeln können, wenn ihnen nicht etwas Gemeinsames wesentlicher gewesen wäre?
Lassen wir Valentins Werk außer Betracht. Es ist das Recht und die Pflicht der Geschichtswissenschaft, neue Fakten ans Licht zu holen. Neue Fakten sieht sie nur, wenn sie ohne Scheuklappen forscht. Scheuklappen hat die neuere Forschung tatsächlich abgelegt. Im Hinblick auf 1848 sind offene Parteinahmen im Streit zwischen Liberalen und Radikalen, der immerhin einige Tote gekostet hat, seltener geworden. Aber man darf Scheuklappen nicht mit Brillen verwechseln. Wer nicht die Brille der Begriffe putzt, nimmt entweder wogende Schatten wahr oder er muß so nahe an die Tatsachen herantreten, daß er nur Risse oder Falten sieht. Ohne "Theorie" übernehmen - sagen wir: - soziale Mechanismen die nähere Differenzierung.
"Ohne Gewalt keine Revolution": Diese These kann sich Hettling nur leisten, weil ihn die Zunft nicht zwingt, zwischen Revolutionen von Massenhysterien, Diadochenkämpfen oder Meutereien zu unterscheiden oder sich mit dem Gerücht auseinanderzusetzen, es habe friedliche Revolutionen gegeben. In der "Vielzahl von Revolutionen" taucht ein Revolutionsbegriff nicht auf. Dafür ist selbstverständlich, daß die Leute um so prinzipieller im Recht sind, je weiter unten sie auf der simplen Skala sozialer Schichten - Oben/Mitte/Unten/Unterunten - stehen. Einer der Autoren findet es erstaunlich, wie selten die Altrevolutionäre "der Reaktion, also Preußen und Österreich", die Schuld an ihrer Niederlage zugewiesen haben. Verlierer, die Sieger verantwortlich machen, zeigen allerdings nur, daß sie dem Streit besser ausgewichen wären. Aber fast die gesamte Forschung ist überrascht und muß ihren geheimen Zorn zügeln, wenn die Reaktion reagiert. Denn das ist unfair. Auf dem Spielplatz der Revolution gilt: Wer oben sitzt, darf sich nicht wehren, wenn die da unten an den Beinen seines Stuhles sägen, weil die da unten die Schwächeren sind. Mit einer solchen Ethik läßt sich die Revolution leicht in tausendundeine auflösen. Oben und unten sieht man überall. Nur die Revolutionäre sehen schlecht aus. Sie hatten die Stärke ihrer Schwäche und den Stumpfsinn der Reaktion auf ihrer Seite und haben trotzdem verloren.
Nach diesen Büchern zu urteilen, sitzt die Moral tiefer in der neueren historischen Forschung, als Christof Dipper annimmt. Sie äußert sich nur nicht mehr in Parteinahmen, sondern im fehlenden Verständnis für die tatsächlichen Bedingungen sozialer Integration und politischer Macht. Alexis de Tocqueville hat in "Der Alte Staat und die Revolution" gezeigt, daß in Frankreich der Feudalismus an sich selbst zugrunde gegangen ist und die Revolution nur wenig verändert hat. Aber dieser herzlose Aristokrat hat mehr auf die Oberschichten als auf die Unterschichten geblickt. Da die deutsche historische Forschung ihre Blicke nicht von den Unterschichten abwenden kann, wird sie uns noch einige Jahrzehnte mit immer neuen Revolutionen beglücken, die sich 1848 und 1849 abgespielt haben. GERD ROELLECKE
Veit Valentin: "Geschichte der deutschen Revolution 1848-1849". Beltz Quadriga Verlag, Weinheim 1998. Zwei Bände. 672 und 777 S., geb., bis 30. 6. 1998 128,- DM, danach 158,- DM.
Christof Dipper, Ulrich Speck (Hrsg.): "1848. Revolution in Deutschland". Insel Verlag, Frankfurt am Main 1998. 464 S., geb., 49,80 DM.
Christan Jansen, Thomas Mergel (Hrsg.): "Die Revolutionen von 1848/ 49". Erfahrung - Verarbeitung - Deutung. Verlag Vandenhoeck und Rupprecht, Göttingen 1998. 281 S., br., 39,80 DM.
Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): "Revolution in Deutschland und Europa 1848/ 49". Verlag Vandenhoeck und Rupprecht, Göttingen 1998. 280 S., br., 39,80 DM.
Irmtraut Götz von Olenhusen (Hrsg.): "1848/49 in Europa und der Mythos der Französischen Revolution". Verlag Vandenhoeck und Rupprecht, Göttingen 1998. 154 S., br., 29,80 DM.
Manfred Hettling: "Totenkult statt Revolution". 1848 und seine Opfer. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 224 S., Abb., br., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Reaktion reagierte trotzdem: Die Forschung tut sich schwer mit der Revolution von 1848
Revolutionen sind Prozesse. Prozesse lassen sich nur verstehen, wenn man ihre Einzelheiten zu einer Einheit bündelt. Die Einheit kann man mit einem Begriff herstellen, mit einer Erzählung oder mit einem Symbol, wie es im Fall der Französischen Revolution mit dem Sturm auf die Bastille geschah.
Die deutsche Revolution sperrt sich gegen die Herstellung ihrer Einheit. Sie ist gescheitert, wenn man auf die Revolutionäre blickt. Sie war erfolgreich, wenn man die politische Welt in Deutschland vor und nach 1848 vergleicht. Aber es gibt keinen Tag, auf den man die Revolution datieren könnte, keinen Platz, auf dem ihre Flammen jäh aufgelodert wären, keine Person, die sie angeführt hätte, und kein Zeichen, das sie veranschaulicht. Der Heckerhut wirkt so falsch wie der "teutsche Dreifarb". Schwarzrotgold - vermutet Hans Hattenhauer - stammt von den Uniformen der landständischen mecklenburg-strelitzschen Ritterschaft. Und der heute von Martin Walser so genannte "edle Hecker" war ein labiler Mann, der sich von seiner eigenen Großmäuligkeit hinreißen ließ. Sein Zug von Konstanz nach Kandern im April 1848 stellte der Revolution ein Bein, noch bevor sie richtig laufen konnte.
Wer sich selbst ein Urteil bilden will, liest am besten Veit Valentins große "Geschichte der deutschen Revolution". Die beiden Bände sind 1930/31 zum ersten Mal erschienen und gelten seitdem unbestritten als wissenschaftliches und literarisches Meisterwerk. Jetzt liegen sie mit einem informativen Nachwort, in ansprechender Ausstattung und zu einem günstigen Preis neu vor. Dafür ist dem Verlag zu danken. Valentin erzählt die Geschichte eines politischen Kampfes. "Unterschichten" und "Frauen" kommen bei ihm auch vor, nur nicht als Allegorien sozialer Ungerechtigkeit, sondern als Menschen, Lola Montez etwa, wohl die letzte Frau, die stolz mit "maitresse du Roi" unterschrieb.
In Dippers und Specks "1848" stellen sechsundzwanzig Historiker dar, was die "räumlich und sozial sensibilisierte historische Forschung" seit einigen Jahrzehnten zutage gefördert hat: "eine Vielzahl von Revolutionen". Die tausend Revolutionen blühten zeitlich im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und so weiter, räumlich in Baden, Sachsen und so weiter, örtlich auf der Straße oder in Wirtshäusern, sozial in Schichten vom Adel bis zu Frauen und Juden und politisch, wo kommuniziert wird, in Nation, Militär - einfühlsam beschrieben von Ute Frevert -, Verfassung und Ökonomie.
In seinen Überlegungen zum Scheitern der Revolution bemüht sich Christof Dipper energisch, die Geschichtsschreibung zu entmoralisieren. Nur, eine Struktur der Umwälzung zeigt auch er nicht. Für Prozesse scheint die historische Forschung nicht sensibilisiert zu sein. Natürlich darf man die Revolution auch aus der Perspektive des Wirtshauses betrachten. Aber man darf sie nicht einfach ins Wirtshaus holen. Denn daß "im Rheinland die Wirte, Bierbrauer und Bäcker auf den Mitgliederlisten der demokratischen Vereine konstant überrepräsentiert" waren, belegt eher den Geschäftssinn als den revolutionären Geist des Gaststättengewerbes.
Aus Jansens und Mergels Sammelband erfährt man, daß die "Vielzahl der Revolutionen" nichts sei als der Verzicht auf eine politische Bewertung der achtundvierziger Bewegung, leider auch der Verzicht auf den Versuch, die Einheit der Revolution zu denken. Immerhin machen die Herausgeber von der neuen fachlichen Freiheit den erfreulichsten Gebrauch. Sie versuchen gar nicht erst ein Gesichtspuzzle, sondern spielen Figurenwerfen. Die Themen reichen von der Kindergartenidee über das Verhalten der Esslinger Bürger und der brandenburgischen Landräte bis zu dem Versuch des Paulskirchenlinken Ludwig Simon, Preußens Friedrich Wilhelm IV. mit einer Collage seiner "Reden und Trinksprüche" lächerlich zu machen. Nur hat das nicht einmal die preußische Polizei gemerkt. Trotzdem, die Farbtupfer dieses Buches hauchen der Revolution Leben ein.
Wolfgang Hardtwigs Band gibt eine Ringvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität wieder und will 1848 in einen europäischen Zusammenhang stellen. Die Durchführung bleibt etwas hinter der guten Absicht zurück. Sich aus der nationalstaatlichen Perspektive zu lösen ist eben schwer, wenn man von den Revolutionären aus denkt. Aber die nationalstaatliche Perspektive wird vielfach gebrochen. So spürt Peter Niedermüller den Mythen nach, mit denen die Ungarn ihr 1848 zu einem nationalen Freiheitskampf stilisiert haben, Ludmila Thomas macht die russische Revolutionsfurcht verständlich, und Hartmut Kaelble sieht in 1848 wegen der vielen Entsprechungen in den einzelnen Staaten eine europäische Revolution.
Irmtraud Götz von Olenhusen will mit einigen jüngeren Historikern für Frankreich, Italien, die Rheinlande, Baden und Österreich die Frage beantworten, ob die Erinnerung an die Französische Revolution die Revolutionäre von 1848 beflügelt oder gehemmt habe. Es geht nicht um einen Revolutionsvergleich, sondern um die Propaganda der Revolutionäre. Das Ergebnis hat man geahnt: Der Gedanke an 1789 hat die Radikalen eher beflügelt, die Liberalen eher gehemmt und alle gehindert, erneut "den Schrecken auf die Tagesordnung" zu setzen. Das Scheitern der Achtundvierziger entzauberte auch den Mythos von 1789.
Der sie geführt, es war der Tod
Die "Vielzahl von Revolutionen" scheint Manfred Hettling noch zu überbieten. "Totenkult statt Revolution" meint: 1848 gab es keine Revolution, weil zu wenig Tote. Denn "ohne Gewalt keine Revolution". Mit den paar Schießunfällen, die sich doch ereignet hatten, habe die Nachwelt einen Kult getrieben, der das Fehlen "einer neuartigen revolutionären Einheit" verdeckte. Wie das Begräbnis der Märzgefallenen in Berlin, die Totenfeier für Robert Blum und die preußischen Kriegerdenkmäler inszeniert wurden, beschreibt Hettling vortrefflich. Daß er Tabus berührt und nicht bricht, sorgt für Spannung.
Wahrscheinlich ohne seinen Willen stellt Hettling genau die Einheit der Revolution her, die die neuere historische Forschung auflösen möchte. Denn nicht Regionen, Parlamente oder Wirtshäuser zwingen zur Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, sondern die Grenze des Lebens, der Tod. Als Liberale und Radikale im Mai 1870 hinter dem Sarg des populären linksliberalen Achtundvierzigers Benedikt Waldeck schritten, hatte selbstverständlich jeder etwas anderes erlebt und seine eigene Revolution im Kopf. Aber wie hätten sich Anhänger beider Richtungen versammeln können, wenn ihnen nicht etwas Gemeinsames wesentlicher gewesen wäre?
Lassen wir Valentins Werk außer Betracht. Es ist das Recht und die Pflicht der Geschichtswissenschaft, neue Fakten ans Licht zu holen. Neue Fakten sieht sie nur, wenn sie ohne Scheuklappen forscht. Scheuklappen hat die neuere Forschung tatsächlich abgelegt. Im Hinblick auf 1848 sind offene Parteinahmen im Streit zwischen Liberalen und Radikalen, der immerhin einige Tote gekostet hat, seltener geworden. Aber man darf Scheuklappen nicht mit Brillen verwechseln. Wer nicht die Brille der Begriffe putzt, nimmt entweder wogende Schatten wahr oder er muß so nahe an die Tatsachen herantreten, daß er nur Risse oder Falten sieht. Ohne "Theorie" übernehmen - sagen wir: - soziale Mechanismen die nähere Differenzierung.
"Ohne Gewalt keine Revolution": Diese These kann sich Hettling nur leisten, weil ihn die Zunft nicht zwingt, zwischen Revolutionen von Massenhysterien, Diadochenkämpfen oder Meutereien zu unterscheiden oder sich mit dem Gerücht auseinanderzusetzen, es habe friedliche Revolutionen gegeben. In der "Vielzahl von Revolutionen" taucht ein Revolutionsbegriff nicht auf. Dafür ist selbstverständlich, daß die Leute um so prinzipieller im Recht sind, je weiter unten sie auf der simplen Skala sozialer Schichten - Oben/Mitte/Unten/Unterunten - stehen. Einer der Autoren findet es erstaunlich, wie selten die Altrevolutionäre "der Reaktion, also Preußen und Österreich", die Schuld an ihrer Niederlage zugewiesen haben. Verlierer, die Sieger verantwortlich machen, zeigen allerdings nur, daß sie dem Streit besser ausgewichen wären. Aber fast die gesamte Forschung ist überrascht und muß ihren geheimen Zorn zügeln, wenn die Reaktion reagiert. Denn das ist unfair. Auf dem Spielplatz der Revolution gilt: Wer oben sitzt, darf sich nicht wehren, wenn die da unten an den Beinen seines Stuhles sägen, weil die da unten die Schwächeren sind. Mit einer solchen Ethik läßt sich die Revolution leicht in tausendundeine auflösen. Oben und unten sieht man überall. Nur die Revolutionäre sehen schlecht aus. Sie hatten die Stärke ihrer Schwäche und den Stumpfsinn der Reaktion auf ihrer Seite und haben trotzdem verloren.
Nach diesen Büchern zu urteilen, sitzt die Moral tiefer in der neueren historischen Forschung, als Christof Dipper annimmt. Sie äußert sich nur nicht mehr in Parteinahmen, sondern im fehlenden Verständnis für die tatsächlichen Bedingungen sozialer Integration und politischer Macht. Alexis de Tocqueville hat in "Der Alte Staat und die Revolution" gezeigt, daß in Frankreich der Feudalismus an sich selbst zugrunde gegangen ist und die Revolution nur wenig verändert hat. Aber dieser herzlose Aristokrat hat mehr auf die Oberschichten als auf die Unterschichten geblickt. Da die deutsche historische Forschung ihre Blicke nicht von den Unterschichten abwenden kann, wird sie uns noch einige Jahrzehnte mit immer neuen Revolutionen beglücken, die sich 1848 und 1849 abgespielt haben. GERD ROELLECKE
Veit Valentin: "Geschichte der deutschen Revolution 1848-1849". Beltz Quadriga Verlag, Weinheim 1998. Zwei Bände. 672 und 777 S., geb., bis 30. 6. 1998 128,- DM, danach 158,- DM.
Christof Dipper, Ulrich Speck (Hrsg.): "1848. Revolution in Deutschland". Insel Verlag, Frankfurt am Main 1998. 464 S., geb., 49,80 DM.
Christan Jansen, Thomas Mergel (Hrsg.): "Die Revolutionen von 1848/ 49". Erfahrung - Verarbeitung - Deutung. Verlag Vandenhoeck und Rupprecht, Göttingen 1998. 281 S., br., 39,80 DM.
Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): "Revolution in Deutschland und Europa 1848/ 49". Verlag Vandenhoeck und Rupprecht, Göttingen 1998. 280 S., br., 39,80 DM.
Irmtraut Götz von Olenhusen (Hrsg.): "1848/49 in Europa und der Mythos der Französischen Revolution". Verlag Vandenhoeck und Rupprecht, Göttingen 1998. 154 S., br., 29,80 DM.
Manfred Hettling: "Totenkult statt Revolution". 1848 und seine Opfer. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 224 S., Abb., br., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main