Produktdetails
- Verlag: Brill Fink / Brill Fink
- Artikelnr. des Verlages: 1882223
- 1995
- Seitenzahl: 333
- Deutsch
- Abmessung: 214mm
- Gewicht: 408g
- ISBN-13: 9783770529322
- ISBN-10: 3770529324
- Artikelnr.: 05316228
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.1995Karriere durch Selbstverkauf in die Sklaverei
Paul Veyne zeigt, daß die römische Gesellschaft bunter war, als der Positivismus meint
Seit mehr als drei Jahrzehnten hat Paul Veyne, Professor am Collège de France, seine Fachkollegen irritiert: Eine enzyklopädische Kenntnis der gesamten Überlieferung der Antike verbindet sich bei ihm mit ungewöhnlichen Fragestellungen, frappierenden, oft kühnen Schlußfolgerungen und einer Darstellungsweise, die die Konventionen des Wissenschaftsbetriebs souverän mißachtet. Mit seinem großen Buch von 1976 über den antiken "Euergetismus", das öffentliche Mäzenatentum der hellenistisch-römischen Welt ("Brot und Spiele", deutsch 1988), dem Beitrag zum ersten Band der "Geschichte des privaten Lebens" (deutsch 1989) sowie mit einer Reihe weiterer, in deutschen Übersetzungen zugänglichen, kleineren Arbeiten sowohl zur antiken Sozial- und Kulturgeschichte wie zur Theorie der Geschichtswissenschaft dürfte er inzwischen auch einem breiteren Kreis von Lesern ein Begriff geworden sein.
Der Titel des nun vorliegenden Buches könnte als Versprechen einer Gesamtdarstellung der römischen Gesellschaft verstanden werden. Es handelt sich jedoch um eine (für die Veynes Arbeiten repräsentative) Auswahl von neun, zwischen 1961 und 1990 in Fachzeitschriften publizierten Aufsätzen, die, je jünger sie sind, um so mehr dementieren, daß eine solche Darstellung überhaupt möglich wäre. Fortgeschrittene Veyne-Leser wissen, daß er die Vorstellung, es gebe eine "Gesellschaft", in der das Ganze die Teile erkläre, aus denen es sich zusammensetzt, für eine Schimäre hält.
Seine Arbeiten zur römischen Wirtschaftsgeschichte gingen von der Absicht aus, bestimmte Grundannahmen der Forschung in Zweifel zu ziehen. Das "Leben des Trimalchio", der Figur aus dem Roman des Petronius (des "arbiter elegantiae" unter Nero), läßt erkennen, daß reiche Freigelassene nicht eine "städtische Bourgeoisie" darstellen, als die sie Michael Rostovtzeff in seiner modernisierenden Darstellung der Wirtschaft und Gesellschaft der römischen Kaiserzeit hatte verstehen wollen. Auch ein zum Millionär aufgestiegener Ex-Sklave kann letztlich die Beschränkungen seines Standes nicht überwinden, nicht in die lokale Führungselite aufsteigen - und er weiß dies auch.
In seinem ökonomischen Verhalten ist er auch kein homo oeconomicus im Sinne Max Webers, der dem Erwerbsbürger in Mittelalter und Neuzeit entspräche. Ist er nämlich erst einmal zu Reichtum gekommen, richtet sich sein ganzes Streben darauf, als Grundrentner den luxuriösen Lebensstil der Aristokratie nachzuahmen. Mit aristokratischem Lebensstil sind lukrative "Gelegenheitsunternehmungen" (im Sinne Sombarts) in Handel, Reederei und Geldgeschäften auch größeren Umfangs durchaus vereinbar, da Aristokraten oder Notabeln sozial nicht durch diese Geschäfte definiert werden. Die vorherrschende Orientierung am Grundbesitz als Mittel der Sicherung des sozialen Status bedeutet eine Strategie, die darauf zielt, "nicht ökonomisch unabhängig zu sein, sondern nicht mehr von der Ökonomie abzuhängen".
Veyne bringt in den Quellen unterrepräsentierte Sachverhalte ans Tageslicht, wenn er etwa mit der Interpretation von Vergils "Bucolica" einen Teil der ländlichen Kleinpächter als Freigelassene identifiziert oder aufgrund der komplexen Regelungen des Römischen Rechts über den Selbstverkauf eines freien Bürgers in die Sklaverei ableitet, daß dieser Schritt nicht nur aus purer Not, sondern in manchen Fällen auch als Weg zu einem (begrenzten) sozialen Aufstieg getan worden ist. Ebenso weist er immer wieder auf die Grenzen unseres Wissens hin; so bleibt es eine offene Frage, wie in Rom die Funktion ausgefüllt wurde, die in anderen Gesellschaften Geschäftsbanken einnehmen.
Auch die kulturgeschichtlichen Aufsätze Veynes stellen sich als Versuche dar, traditionelle Vorstellungen zu erschüttern, mehr aber noch zu zeigen, daß sich manche Entwicklungen einfach nicht erklären lassen. Zwischen dem ersten Jahrhundert vor Christi und dem zweiten Jahrhundert nach Christi sei ein Wandel von Ehe und Sexualmoral eingetreten: von der Ehe als einem Oberschichten-Institut zur Regelung der Vermögensübertragung, neben dem fast alle Freiräume für (bi-)sexuelle Aktivitäten blieben, zur Ausdehnung der Ehe auf alle sozialen Schichten und zur jedenfalls theoretischen Verwertung sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe. Die spätere christliche Sexualmoral sei nichts anderes als die Übernahme einer neuen Moral des Heidentums gewesen.
Unabhängig vom Christentum veränderten sich auch die religiösen Vorstellungen: von einem traditionellen Ritualismus, der den Gebildeten der Zeit Ciceros eine intellektuelle Peinlichkeit war, zu philosophisch ernst zu nehmenden Vorstellungen über die vernünftigen Regeln göttlichen Regiments. Auch hier zeigt sich für Veyne, daß sich der Sieg des Christentums nicht aufgrund nachvollziehbarer Kausalitäten und Bedürfnisse erklären lasse, auch nicht mit einem angeblichen Niedergang des Heidentums.
Funktionalistische Erklärungen über den Zusammenhang von Religion und Sozialstruktur lehnt Veyne eindeutig als unfruchtbaren "Soziologismus" ab. Daß diese auch in anderen Bereichen nicht ausreichen, zeigt die Trajanssäule in Rom: Wie solle die Darstellung "in einer Art Comicstrip" der Eroberung Dakiens durch Kaiser Trajan auf dem mehr als zweihundert Meter langen Reliefband einer vierzig Meter hohen Säule mit der Gestaltung von 184 Episoden und 2500 Personen Propaganda sein, wenn ein Betrachter mit bloßem Auge die Details gar nicht erkennen konnte? Hier werden keine Informationen vermittelt, sondern die Trajanssäule ist monumentaler Ausdruck der Majestät des Kaisers.
Veynes Arbeiten bieten eine faszinierende Einsicht in eine Welt, die fremder ist, als viele glaubten, und deren Regeln nicht so einfach zu rekonstruieren sind, wie es wissenschaftlicher Positivismus gemeint hat. Er beschwört die "Faszination des Chaos" (was allerdings keine Entschuldigung für die zahlreichen Druckfehler und editorischen Schlampereien der deutschen Ausgabe sein sollte). Der Historiker solle sich vielmehr auf "die Unendlichkeit der möglichen Beschreibungen der Welt" einlassen. Viele Leser werden sich unbefangen an den kulturhistorischen Details, den geistreichen Spekulationen und assoziativen Vergleichen freuen können; Fachgenossen, die Erklärungen struktureller Zusammenhänge anstreben, darüber eher ärgern - hoffentlich produktiv. WILFRIED NIPPEL
Paul Veyne: "Die römische Gesellschaft". Übersetzt von Heinz Jatho. Wilhelm Fink Verlag, München 1995. 333 S., br., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Paul Veyne zeigt, daß die römische Gesellschaft bunter war, als der Positivismus meint
Seit mehr als drei Jahrzehnten hat Paul Veyne, Professor am Collège de France, seine Fachkollegen irritiert: Eine enzyklopädische Kenntnis der gesamten Überlieferung der Antike verbindet sich bei ihm mit ungewöhnlichen Fragestellungen, frappierenden, oft kühnen Schlußfolgerungen und einer Darstellungsweise, die die Konventionen des Wissenschaftsbetriebs souverän mißachtet. Mit seinem großen Buch von 1976 über den antiken "Euergetismus", das öffentliche Mäzenatentum der hellenistisch-römischen Welt ("Brot und Spiele", deutsch 1988), dem Beitrag zum ersten Band der "Geschichte des privaten Lebens" (deutsch 1989) sowie mit einer Reihe weiterer, in deutschen Übersetzungen zugänglichen, kleineren Arbeiten sowohl zur antiken Sozial- und Kulturgeschichte wie zur Theorie der Geschichtswissenschaft dürfte er inzwischen auch einem breiteren Kreis von Lesern ein Begriff geworden sein.
Der Titel des nun vorliegenden Buches könnte als Versprechen einer Gesamtdarstellung der römischen Gesellschaft verstanden werden. Es handelt sich jedoch um eine (für die Veynes Arbeiten repräsentative) Auswahl von neun, zwischen 1961 und 1990 in Fachzeitschriften publizierten Aufsätzen, die, je jünger sie sind, um so mehr dementieren, daß eine solche Darstellung überhaupt möglich wäre. Fortgeschrittene Veyne-Leser wissen, daß er die Vorstellung, es gebe eine "Gesellschaft", in der das Ganze die Teile erkläre, aus denen es sich zusammensetzt, für eine Schimäre hält.
Seine Arbeiten zur römischen Wirtschaftsgeschichte gingen von der Absicht aus, bestimmte Grundannahmen der Forschung in Zweifel zu ziehen. Das "Leben des Trimalchio", der Figur aus dem Roman des Petronius (des "arbiter elegantiae" unter Nero), läßt erkennen, daß reiche Freigelassene nicht eine "städtische Bourgeoisie" darstellen, als die sie Michael Rostovtzeff in seiner modernisierenden Darstellung der Wirtschaft und Gesellschaft der römischen Kaiserzeit hatte verstehen wollen. Auch ein zum Millionär aufgestiegener Ex-Sklave kann letztlich die Beschränkungen seines Standes nicht überwinden, nicht in die lokale Führungselite aufsteigen - und er weiß dies auch.
In seinem ökonomischen Verhalten ist er auch kein homo oeconomicus im Sinne Max Webers, der dem Erwerbsbürger in Mittelalter und Neuzeit entspräche. Ist er nämlich erst einmal zu Reichtum gekommen, richtet sich sein ganzes Streben darauf, als Grundrentner den luxuriösen Lebensstil der Aristokratie nachzuahmen. Mit aristokratischem Lebensstil sind lukrative "Gelegenheitsunternehmungen" (im Sinne Sombarts) in Handel, Reederei und Geldgeschäften auch größeren Umfangs durchaus vereinbar, da Aristokraten oder Notabeln sozial nicht durch diese Geschäfte definiert werden. Die vorherrschende Orientierung am Grundbesitz als Mittel der Sicherung des sozialen Status bedeutet eine Strategie, die darauf zielt, "nicht ökonomisch unabhängig zu sein, sondern nicht mehr von der Ökonomie abzuhängen".
Veyne bringt in den Quellen unterrepräsentierte Sachverhalte ans Tageslicht, wenn er etwa mit der Interpretation von Vergils "Bucolica" einen Teil der ländlichen Kleinpächter als Freigelassene identifiziert oder aufgrund der komplexen Regelungen des Römischen Rechts über den Selbstverkauf eines freien Bürgers in die Sklaverei ableitet, daß dieser Schritt nicht nur aus purer Not, sondern in manchen Fällen auch als Weg zu einem (begrenzten) sozialen Aufstieg getan worden ist. Ebenso weist er immer wieder auf die Grenzen unseres Wissens hin; so bleibt es eine offene Frage, wie in Rom die Funktion ausgefüllt wurde, die in anderen Gesellschaften Geschäftsbanken einnehmen.
Auch die kulturgeschichtlichen Aufsätze Veynes stellen sich als Versuche dar, traditionelle Vorstellungen zu erschüttern, mehr aber noch zu zeigen, daß sich manche Entwicklungen einfach nicht erklären lassen. Zwischen dem ersten Jahrhundert vor Christi und dem zweiten Jahrhundert nach Christi sei ein Wandel von Ehe und Sexualmoral eingetreten: von der Ehe als einem Oberschichten-Institut zur Regelung der Vermögensübertragung, neben dem fast alle Freiräume für (bi-)sexuelle Aktivitäten blieben, zur Ausdehnung der Ehe auf alle sozialen Schichten und zur jedenfalls theoretischen Verwertung sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe. Die spätere christliche Sexualmoral sei nichts anderes als die Übernahme einer neuen Moral des Heidentums gewesen.
Unabhängig vom Christentum veränderten sich auch die religiösen Vorstellungen: von einem traditionellen Ritualismus, der den Gebildeten der Zeit Ciceros eine intellektuelle Peinlichkeit war, zu philosophisch ernst zu nehmenden Vorstellungen über die vernünftigen Regeln göttlichen Regiments. Auch hier zeigt sich für Veyne, daß sich der Sieg des Christentums nicht aufgrund nachvollziehbarer Kausalitäten und Bedürfnisse erklären lasse, auch nicht mit einem angeblichen Niedergang des Heidentums.
Funktionalistische Erklärungen über den Zusammenhang von Religion und Sozialstruktur lehnt Veyne eindeutig als unfruchtbaren "Soziologismus" ab. Daß diese auch in anderen Bereichen nicht ausreichen, zeigt die Trajanssäule in Rom: Wie solle die Darstellung "in einer Art Comicstrip" der Eroberung Dakiens durch Kaiser Trajan auf dem mehr als zweihundert Meter langen Reliefband einer vierzig Meter hohen Säule mit der Gestaltung von 184 Episoden und 2500 Personen Propaganda sein, wenn ein Betrachter mit bloßem Auge die Details gar nicht erkennen konnte? Hier werden keine Informationen vermittelt, sondern die Trajanssäule ist monumentaler Ausdruck der Majestät des Kaisers.
Veynes Arbeiten bieten eine faszinierende Einsicht in eine Welt, die fremder ist, als viele glaubten, und deren Regeln nicht so einfach zu rekonstruieren sind, wie es wissenschaftlicher Positivismus gemeint hat. Er beschwört die "Faszination des Chaos" (was allerdings keine Entschuldigung für die zahlreichen Druckfehler und editorischen Schlampereien der deutschen Ausgabe sein sollte). Der Historiker solle sich vielmehr auf "die Unendlichkeit der möglichen Beschreibungen der Welt" einlassen. Viele Leser werden sich unbefangen an den kulturhistorischen Details, den geistreichen Spekulationen und assoziativen Vergleichen freuen können; Fachgenossen, die Erklärungen struktureller Zusammenhänge anstreben, darüber eher ärgern - hoffentlich produktiv. WILFRIED NIPPEL
Paul Veyne: "Die römische Gesellschaft". Übersetzt von Heinz Jatho. Wilhelm Fink Verlag, München 1995. 333 S., br., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main