Ricarda Huchs Bücher über »Blütezeit « und »Ausbreitung und Verfall« der Romantik, die wir in einem Band zusammenfassen, sind ein bahnbrechendes Werk: In einer im besten Sinne die Disziplinen umgreifenden Manier porträtiert sie nicht nur die Dichter und Künstler, sondern auch die frühen Naturwissenschaftler, Mediziner, Theologen, Politiker - ebenso wie die bisher vernachlässigten Figuren: die Frauen, Freundinnen und Gefährtinnen der berühmten Protagonisten. In 35 Kapiteln schreibt Ricarda Huch in ihrem glänzenden, klaren Stil an der Biographie einer Idee, die Epoche machte, und lässt keinen Zweifel daran, weshalb sie bis heute zentraler Bezugspunkt der Literatur ist. Für Karl Heinz Bohrer haben Ricarda Huchs Bücher zur Romantik einem »spezifisch modernen Verständnis der Epoche den Weg gewiesen«, für Marcel Reich-Ranicki sind sie ein »fundamentales kulturgeschichtliches Dokument und ein literarisches Kunstwerk von großer Schönheit« ebenso wie ein intim-persönliches Buch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2018Interdisziplinär zu denken war ihr selbstverständlich
Unwiderstehliche Prosa: Ricarda Huchs epochemachende Darstellung der deutschen Romantik, neu aufgelegt in der "Anderen Bibliothek"
Ricarda Huchs Abhandlung über die Romantik ist eines der erstaunlichsten Bücher der Literaturgeschichte und auch der Literaturwissenschaft. 1899 zum größeren Teil zuerst erschienen, wurde es in eine literarische Mitwelt hineingeschrieben, die nur noch über einen auf das Symbol der blauen Blume reduzierten, trivialen Begriff des Romantischen verfügte. Tatsächlich war außer ein paar Gedichten kaum etwas präsent.
Die großen Leistungen der romantischen Dichter und Gelehrten auf den Gebieten der Volksliteratur, der mittelalterlichen Dichtung, der Sprachwissenschaft, Philologie und Hermeneutik, der Naturphilosophie, der Deutung der Malerei der Renaissance, der Shakespeare-Übersetzung oder der vergleichenden europäischen Literaturgeschichte waren unter einer einseitig auf Goethe und Schiller fixierten Germanistik weitgehend in Vergessenheit geraten.
So konnte die Arbeit einer Dichterin zur Begründung einer inzwischen weltweit florierenden umfassenden Romantikforschung werden, die sich mit Wilhelm Diltheys Schleiermacher-Studien und dem Novalis-Aufsatz in seinem berühmten Sammelband "Das Erlebnis und die Dichtung" (1906) erst langsam entwickelte. Die 1864 geborene Ricarda Huch war freilich nicht nur eine Dichterin. Die früh mit souveränem Selbstbewusstsein ausgestattete Kaufmannstochter hatte als eine der ersten deutschen Frauen in Zürich ein Universitätsstudium begonnen, das sie 1892 mit einer Dissertation über die eidgenössische Geschichte abschloss. So verfügte sie über die Fähigkeiten zur wissenschaftlichen Arbeit, war aber gleichzeitig frei von den Beschränkungen der positivistisch orientierten zeitgenössischen Germanistik.
Die Konzeption ihrer Studie nimmt vieles bereits auf, was sich im Umkreis Wilhelm Diltheys als geistesgeschichtliche Methode entwickelte, mit ihrem Gegenstand ging sie auf die Ursprünge dieser Betrachtungsweise bei Hegel und den Romantikern zurück. Gleichzeitig aber sondiert Ricarda Huch auch die tieferen Beweggründe der eigenen, mit historischem Denken zeitlebens verflochtenen Dichtung. So besticht die Darstellung nach wie vor durch die Wechselwirkung von Gegenstand und Methode. Was viel später unter dem Etikett interdisziplinär als besonders fortschrittlich propagiert wurde, erscheint bei Ricarda Huch selbstverständlich. Ihr Spektrum der Romantik umfasst Philologie, Philosophie, Naturwissenschaft nebst Nachtseiten, Medizin, Psychologie, Mythologie, Symbolforschung und nicht zuletzt Politik und Gesellschaftslehre, womit zugleich Aspekte ihrer Konzeption bezeichnet sind. Nachhaltig gewirkt hat auch die geoliterarische Betrachtung der Ausbreitung der romantischen Bewegung von Jena über Berlin, Dresden, Halle, Heidelberg und München nach Wien und Rom.
Eine Neuerung, die zur Lebhaftigkeit der Darstellung erheblich beiträgt, sind die den Werkdeutungen und Nacherzählungen beigesellten Psychogramme der romantischen Akteure, Wackenroder, Tieck, Novalis, August und Friedrich Schlegel, Brentano, Arnim oder Hoffmann, die von der Überzeugung getragen werden, dass die romantische Dichtung je nicht von der existentiellen Problematik ihrer Urheber abgelöst werden kann. Fast alle Romantiker waren in ihren Augen problematische Existenzen, die in Liebe, Ehe oder gar Familie, wie sie selbst, wenig Glück hatten.
Der Glutkern der Abhandlung besteht in der Verteidigung der romantischen Ästhetik gegen die bürgerlich-klassizistischen Ansprüche der Harmonie und Feierlichkeit der Kunst. Ausgehend von der Programmzeitschrift der Frühromantiker "Das Athenäum" (1798 bis 1800), wird das Fragmentarische und Widersprüchliche der romantischen Kunstkonzeption als adäquater Ausdruck eines Krisenbewusstseins gerechtfertigt. So wird deutlich, dass die moderne Kunst in der Tradition der Romantik steht. Wenn die Dichterin die Romantiker als eine ungestüme jugendliche Bande beschreibt, die furchtlos über eine träge gewordene Väterwelt hereinbricht, so ermuntert sie damit auch die freien Geister ihrer eigenen Zeit. So beschrieb der junge Hugo von Hofmannsthal das Buch als einen "Zauberschlüssel", der ihm mehr "unterirdische Säle" aufgesperrt habe, als er zählen könne.
Über viele Einzelheiten ist die Literaturwissenschaft inzwischen hinausgelangt. Die Ausführungen zum Verfall der romantischen Bewegung erliegen dem im neunzehnten Jahrhundert populären historischen Schema von Aufstieg und Verfall, einige Wertungen kann der heutige Leser nicht nachvollziehen. Insbesondere haben die Bewunderer E.T.A. Hoffmanns oder Eichendorffs Grund, sich zu ärgern oder zu wundern. Was aber bleibt, ist die der Entdeckerfreude entspringende Frische der Darstellung, ihre, wie Tilman Spreckelsen in seinem bündig orientierenden Nachwort schreibt, "elegante, diskret effiziente und in ihrem Duktus unwiderstehliche Prosa". Zumal in der gewohnt prächtigen Edition der "Anderen Bibliothek" ist Ricarda Huchs Buch so unvermindert geeignet, Lust auf Lektüre zu machen und manchen auch heute wieder in Vergessenheit geratenen romantischen Text wieder zur Hand zu nehmen.
FRIEDMAR APEL
Ricarda Huch: "Die Romantik". Ausbreitung, Blütezeit und Verfall.
Die Andere Bibliothek,
Berlin 2017. 732 S. geb.,
42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unwiderstehliche Prosa: Ricarda Huchs epochemachende Darstellung der deutschen Romantik, neu aufgelegt in der "Anderen Bibliothek"
Ricarda Huchs Abhandlung über die Romantik ist eines der erstaunlichsten Bücher der Literaturgeschichte und auch der Literaturwissenschaft. 1899 zum größeren Teil zuerst erschienen, wurde es in eine literarische Mitwelt hineingeschrieben, die nur noch über einen auf das Symbol der blauen Blume reduzierten, trivialen Begriff des Romantischen verfügte. Tatsächlich war außer ein paar Gedichten kaum etwas präsent.
Die großen Leistungen der romantischen Dichter und Gelehrten auf den Gebieten der Volksliteratur, der mittelalterlichen Dichtung, der Sprachwissenschaft, Philologie und Hermeneutik, der Naturphilosophie, der Deutung der Malerei der Renaissance, der Shakespeare-Übersetzung oder der vergleichenden europäischen Literaturgeschichte waren unter einer einseitig auf Goethe und Schiller fixierten Germanistik weitgehend in Vergessenheit geraten.
So konnte die Arbeit einer Dichterin zur Begründung einer inzwischen weltweit florierenden umfassenden Romantikforschung werden, die sich mit Wilhelm Diltheys Schleiermacher-Studien und dem Novalis-Aufsatz in seinem berühmten Sammelband "Das Erlebnis und die Dichtung" (1906) erst langsam entwickelte. Die 1864 geborene Ricarda Huch war freilich nicht nur eine Dichterin. Die früh mit souveränem Selbstbewusstsein ausgestattete Kaufmannstochter hatte als eine der ersten deutschen Frauen in Zürich ein Universitätsstudium begonnen, das sie 1892 mit einer Dissertation über die eidgenössische Geschichte abschloss. So verfügte sie über die Fähigkeiten zur wissenschaftlichen Arbeit, war aber gleichzeitig frei von den Beschränkungen der positivistisch orientierten zeitgenössischen Germanistik.
Die Konzeption ihrer Studie nimmt vieles bereits auf, was sich im Umkreis Wilhelm Diltheys als geistesgeschichtliche Methode entwickelte, mit ihrem Gegenstand ging sie auf die Ursprünge dieser Betrachtungsweise bei Hegel und den Romantikern zurück. Gleichzeitig aber sondiert Ricarda Huch auch die tieferen Beweggründe der eigenen, mit historischem Denken zeitlebens verflochtenen Dichtung. So besticht die Darstellung nach wie vor durch die Wechselwirkung von Gegenstand und Methode. Was viel später unter dem Etikett interdisziplinär als besonders fortschrittlich propagiert wurde, erscheint bei Ricarda Huch selbstverständlich. Ihr Spektrum der Romantik umfasst Philologie, Philosophie, Naturwissenschaft nebst Nachtseiten, Medizin, Psychologie, Mythologie, Symbolforschung und nicht zuletzt Politik und Gesellschaftslehre, womit zugleich Aspekte ihrer Konzeption bezeichnet sind. Nachhaltig gewirkt hat auch die geoliterarische Betrachtung der Ausbreitung der romantischen Bewegung von Jena über Berlin, Dresden, Halle, Heidelberg und München nach Wien und Rom.
Eine Neuerung, die zur Lebhaftigkeit der Darstellung erheblich beiträgt, sind die den Werkdeutungen und Nacherzählungen beigesellten Psychogramme der romantischen Akteure, Wackenroder, Tieck, Novalis, August und Friedrich Schlegel, Brentano, Arnim oder Hoffmann, die von der Überzeugung getragen werden, dass die romantische Dichtung je nicht von der existentiellen Problematik ihrer Urheber abgelöst werden kann. Fast alle Romantiker waren in ihren Augen problematische Existenzen, die in Liebe, Ehe oder gar Familie, wie sie selbst, wenig Glück hatten.
Der Glutkern der Abhandlung besteht in der Verteidigung der romantischen Ästhetik gegen die bürgerlich-klassizistischen Ansprüche der Harmonie und Feierlichkeit der Kunst. Ausgehend von der Programmzeitschrift der Frühromantiker "Das Athenäum" (1798 bis 1800), wird das Fragmentarische und Widersprüchliche der romantischen Kunstkonzeption als adäquater Ausdruck eines Krisenbewusstseins gerechtfertigt. So wird deutlich, dass die moderne Kunst in der Tradition der Romantik steht. Wenn die Dichterin die Romantiker als eine ungestüme jugendliche Bande beschreibt, die furchtlos über eine träge gewordene Väterwelt hereinbricht, so ermuntert sie damit auch die freien Geister ihrer eigenen Zeit. So beschrieb der junge Hugo von Hofmannsthal das Buch als einen "Zauberschlüssel", der ihm mehr "unterirdische Säle" aufgesperrt habe, als er zählen könne.
Über viele Einzelheiten ist die Literaturwissenschaft inzwischen hinausgelangt. Die Ausführungen zum Verfall der romantischen Bewegung erliegen dem im neunzehnten Jahrhundert populären historischen Schema von Aufstieg und Verfall, einige Wertungen kann der heutige Leser nicht nachvollziehen. Insbesondere haben die Bewunderer E.T.A. Hoffmanns oder Eichendorffs Grund, sich zu ärgern oder zu wundern. Was aber bleibt, ist die der Entdeckerfreude entspringende Frische der Darstellung, ihre, wie Tilman Spreckelsen in seinem bündig orientierenden Nachwort schreibt, "elegante, diskret effiziente und in ihrem Duktus unwiderstehliche Prosa". Zumal in der gewohnt prächtigen Edition der "Anderen Bibliothek" ist Ricarda Huchs Buch so unvermindert geeignet, Lust auf Lektüre zu machen und manchen auch heute wieder in Vergessenheit geratenen romantischen Text wieder zur Hand zu nehmen.
FRIEDMAR APEL
Ricarda Huch: "Die Romantik". Ausbreitung, Blütezeit und Verfall.
Die Andere Bibliothek,
Berlin 2017. 732 S. geb.,
42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Harro Zimmermann erkennt mit Ricarda Huchs Blick auf die Romantik das Verstörende des 20. Jahrhunderts bereits vorgezeichnet. Den beiden von Tilman Spreckelsen neu herausgegebenen Büchern der Huch ("Blütezeit" und "Ausbreitung und Verfall der Romantik") hätte zwar ein umfangreicheres Nachwort und ein paar Literaturhinweise gut gestanden, findet Zimmermann, der "Modernisierung" der Romantik bei Huch zu folgen ist für ihn aber jedenfalls ein Genuss. Huchs Faszination für den Sprachzauber der Romantik und die Entdeckung des Unbewussten für die Literatur in dieser Epoche einerseits sowie ihre Kritik am romantischen Lebensstil andererseits scheinen dem Rezensenten nach wie vor gültig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein alter, so gut wie vergessener Band einer fast vergessenen Autorin, beinah hundertzwanzig Jahre alt und noch immer ein Juwel, feiert in der Anderen Bibliothek seine glanzvolle Wiederkehr. (...) Hier ist ein Buch, das von seiner Frische nichts verloren hat." Klaus Bellin Neues Deutschland 20180507