Die »ambivalente Moderne« hat Spuren hinterlassen - auch in Schweden. Social Engineering schien eine Möglichkeit, die negativen Folgen der Moderne aufzufangen, indem die sozialen Beziehungen neu gestaltet werden. Zwei der weltweit bekanntesten Sozialingenieure waren Alva und Gunnar Myrdal. In Schweden, den USA und Asien versuchten sie zwischen 1930 und 1980 eine gerechte Gesellschaftsordnung zu entwerfen, die jedoch das Paradebeispiel einer »Normalisierungsgesellschaft« darstellt. Ein Blick auf ihre aufregend-konfliktreiche Ehe zeigt, dass sich Machtbeziehungen präziser analysieren lassen, wenn sie in den Alltagspraktiken der Experten verortet werden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2010Ordentlich sei das Leben, denn vernünftig ist der Plan
Wie der Wohlfahrtsstaat zu seinen Steuerungsphantasien kam: Thomas Etzemüller führt Alva und Gunnar Myrdal als sozialtechnologische Pioniere vor, die nicht nur Schweden in ihren Bann schlugen.
Bevölkerungspolitik, Eugenik, kollektivistische Gesellschaftsplanung - das wird oft mit totalitären Systemen verbunden. Irrtümlicherweise nicht mit Schweden. Schweden gilt seit langem als wohlfahrtsstaatliches Musterland, des Interessenausgleichs von Arbeit und Kapital, mit fortschrittlicher Wohnungspolitik und durchgesetzter Geschlechtergleichheit, als Heimat des funktionalen Designs und der funktionalen Kindererziehung. Schon in den dreißiger Jahren schwärmte man davon.
Der Oldenburger Historiker Thomas Etzemüller hat jetzt eine politische Biographie von Alva und Gunnar Myrdal geschrieben, die zeigt, wie gleitend von jener Zeit bis ins sozialdemokratische Zeitalter der siebziger Jahre die Übergänge zwischen fortschrittlicher und autoritärer Politik waren. Und um es gleich zu sagen: Er hat darin einen unglaublich reichen, nachgerade spannenden Stoff gefunden und eines der besten ideengeschichtlichen Bücher seit langem geschrieben. Die Myrdals waren das Musterpaar der schwedischen Gesellschaftsreform. Er Jurist und Volkswirt, sie vor allem mit Familienpolitik und Pädagogik beschäftigt, jeder mit einem Nobelpreis - er 1974 für Ökonomie, sie 1982 für Frieden - dekoriert, beide tätig in Ministerämtern, bei den Vereinten Nationen, im schwedischen Parlament, vor allem aber als nimmermüde Publizisten und Vortragsreisende. Mittels Statistik, Ökonomie und Soziologie trauten sie sich zu, einem ganzen Land - und später sogar der Welt - Rationalität zu lehren: Kritische Theorie als Sozialtechnologie.
Es gibt sogar ein schwedisches Verb, das "myrdalen" heißt und das zweckmäßiges Kinderzeugen meint, weil die beiden 1934 mit einer demographischen "Schweden schafft sich ab"-Diagnose berühmt wurden, die sie mit einem Plädoyer für die Ablösung der Kindererziehung von den Müttern und für Eugenik verbanden. Ihnen schwebte die gute Gesellschaft als eine vor, in der sich der Gegensatz von Gemeinschaft und Individuum aufhebe. Und zwar vor allem von der Seite des Individuums her, das der politischen Einrichtung der Gesellschaft zu viel verdanke, um sich liberal aufspielen zu dürfen.
Die Nation als Gemeinschaft moderner, aufgeklärter, gesundheitsbewusster Menschen - wenn irgendwo, dann wurde in Schweden seit den dreißiger Jahren die historische Epoche als Projekt aufgefasst. Der Name des entsprechenden Programms, das durch korporativen Zusammenschluss aller sozialer Gruppen verwirklicht werden sollte, war "Volksheim" (folkhem). Es galt der Abschaffung der Ungleichheit durch Steuergesetze und Konsumsteuerung, wissenschaftlich fundierter Erziehung sowie der Vereinsmitgliedschaft und politischen Aktivität aller bei auferlegter "ordentlicher" Lebensführung.
"Die einzige Romantik ist die Romantik der Zweckmäßigkeit", schrieb Alva Myrdal, weshalb sie beispielsweise die Rechtfertigung fürs kindliche König-und-Prinzessin-Spielen darin fand, es übe den Willen zum sozialen Aufstieg ein! Man würde gerne wissen, wie die Myrdals "Pippi Langstrumpf" aufgenommen haben. Die Villa Myrdal, die sie sich in Stockholm einrichteten, war jedenfalls keine Villa Kunterbunt, denn auch in ihr sollte ein exemplarisches Leben geführt werden; ohne Gardinen, Telefon am Bett, "spartanisch und gemütlich", wie es in einem der vielen Zeitungsberichte mit Homestories hieß.
Ins intellektuelle Zentrum dieser Doppelbiographie stellt Etzemüller die Studienreise des Paares 1938 in die Vereinigten Staaten, wo Myrdal sein bekanntestes Buch, "An American Dilemma", über die sogenannte "Rassenfrage" schrieb. Die Carnegie-Stiftung hatte amerikanische Soziologen für in dieser Sache befangen erklärt und ihn mit einem umfangreichen Auftrag und erheblichen Mitteln versehen. Und tatsächlich soll sein geschickter Auftritt als naiver Schwede, der sich erkundigt, wie es denn mit den Negern so steht, manchem Südstaatler die Zunge gelöst haben. 1944 erscheint sein Buch, knapp tausendfünfhundert eng gefüllte Seiten lang. Seine These: Rassisten wie Schwarze sind Opfer. Denn eigentlich bekräftigen alle den "amerikanischen Glauben" an Gleichheit und faire Chancen. So komme es der Wissenschaft zu, die Rassisten auf ihren Selbstwiderspruch und die im Licht ihrer Werte verheerenden Folgen ihres Zurückbleibens hinter eben diesen Werten aufmerksam zu machen. Dazu wäre es für Myrdal hilfreich gewesen, einen Teil der Schwarzen aus den Südstaaten umzusiedeln, damit sie ich gleichmäßiger über das ganze Land verteilen, um so weniger Anlass für Vorurteile zu bieten.
Diese Beschreibung ist typisch für den Geist der wohlfahrtsstaatlichen Problemwahrnehmung. Die Ziele sind unablehnbar, die Individuen aber willensschwach und dürfen darum im Namen ihrer eigenen Zwecke zu Objekten einer wohlwollenden Planung durch Planer gemacht werden, die ihrerseits ein transparentes, argumentationsbestimmtes Leben führen. Etzemüller zeichnet parallel den Aufstieg dieser Ideen, die auch andere - Architekten, Stadtplaner, Sozialpolitiker - vorantrieben, und den der Karriere beider Myrdals nach, einschließlich der beeindruckende Geschichte ihrer Ehe, die eine ständige Auseinandersetzung über Geschlechterrollen und ein ständiges Leiden an den eigenen Idealen war. Er tut es, auch angesichts der abenteuerlichen Steuerungsphantasien und der selbstgerechten Intellektualität, von der er zu berichten hat, äußerst fair. Die Geschichte der sozialen Irrtümer ist zu faszinierend, um sie herablassend oder mit Schaum vor dem Mund zu schreiben. Außerdem hält sie immer noch an, und es gibt keinen Grund, das Musterpaar des sozialen Ingenieurwesens für ein Kuriosum zu halten.
JÜRGEN KAUBE
Thomas Etzemüller: "Die Romantik der Rationalität". Alva & Gunnar Myrdal - Social Engineering in Schweden.
Transscript Verlag, Bielefeld 2010. 499 S., br., 35,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie der Wohlfahrtsstaat zu seinen Steuerungsphantasien kam: Thomas Etzemüller führt Alva und Gunnar Myrdal als sozialtechnologische Pioniere vor, die nicht nur Schweden in ihren Bann schlugen.
Bevölkerungspolitik, Eugenik, kollektivistische Gesellschaftsplanung - das wird oft mit totalitären Systemen verbunden. Irrtümlicherweise nicht mit Schweden. Schweden gilt seit langem als wohlfahrtsstaatliches Musterland, des Interessenausgleichs von Arbeit und Kapital, mit fortschrittlicher Wohnungspolitik und durchgesetzter Geschlechtergleichheit, als Heimat des funktionalen Designs und der funktionalen Kindererziehung. Schon in den dreißiger Jahren schwärmte man davon.
Der Oldenburger Historiker Thomas Etzemüller hat jetzt eine politische Biographie von Alva und Gunnar Myrdal geschrieben, die zeigt, wie gleitend von jener Zeit bis ins sozialdemokratische Zeitalter der siebziger Jahre die Übergänge zwischen fortschrittlicher und autoritärer Politik waren. Und um es gleich zu sagen: Er hat darin einen unglaublich reichen, nachgerade spannenden Stoff gefunden und eines der besten ideengeschichtlichen Bücher seit langem geschrieben. Die Myrdals waren das Musterpaar der schwedischen Gesellschaftsreform. Er Jurist und Volkswirt, sie vor allem mit Familienpolitik und Pädagogik beschäftigt, jeder mit einem Nobelpreis - er 1974 für Ökonomie, sie 1982 für Frieden - dekoriert, beide tätig in Ministerämtern, bei den Vereinten Nationen, im schwedischen Parlament, vor allem aber als nimmermüde Publizisten und Vortragsreisende. Mittels Statistik, Ökonomie und Soziologie trauten sie sich zu, einem ganzen Land - und später sogar der Welt - Rationalität zu lehren: Kritische Theorie als Sozialtechnologie.
Es gibt sogar ein schwedisches Verb, das "myrdalen" heißt und das zweckmäßiges Kinderzeugen meint, weil die beiden 1934 mit einer demographischen "Schweden schafft sich ab"-Diagnose berühmt wurden, die sie mit einem Plädoyer für die Ablösung der Kindererziehung von den Müttern und für Eugenik verbanden. Ihnen schwebte die gute Gesellschaft als eine vor, in der sich der Gegensatz von Gemeinschaft und Individuum aufhebe. Und zwar vor allem von der Seite des Individuums her, das der politischen Einrichtung der Gesellschaft zu viel verdanke, um sich liberal aufspielen zu dürfen.
Die Nation als Gemeinschaft moderner, aufgeklärter, gesundheitsbewusster Menschen - wenn irgendwo, dann wurde in Schweden seit den dreißiger Jahren die historische Epoche als Projekt aufgefasst. Der Name des entsprechenden Programms, das durch korporativen Zusammenschluss aller sozialer Gruppen verwirklicht werden sollte, war "Volksheim" (folkhem). Es galt der Abschaffung der Ungleichheit durch Steuergesetze und Konsumsteuerung, wissenschaftlich fundierter Erziehung sowie der Vereinsmitgliedschaft und politischen Aktivität aller bei auferlegter "ordentlicher" Lebensführung.
"Die einzige Romantik ist die Romantik der Zweckmäßigkeit", schrieb Alva Myrdal, weshalb sie beispielsweise die Rechtfertigung fürs kindliche König-und-Prinzessin-Spielen darin fand, es übe den Willen zum sozialen Aufstieg ein! Man würde gerne wissen, wie die Myrdals "Pippi Langstrumpf" aufgenommen haben. Die Villa Myrdal, die sie sich in Stockholm einrichteten, war jedenfalls keine Villa Kunterbunt, denn auch in ihr sollte ein exemplarisches Leben geführt werden; ohne Gardinen, Telefon am Bett, "spartanisch und gemütlich", wie es in einem der vielen Zeitungsberichte mit Homestories hieß.
Ins intellektuelle Zentrum dieser Doppelbiographie stellt Etzemüller die Studienreise des Paares 1938 in die Vereinigten Staaten, wo Myrdal sein bekanntestes Buch, "An American Dilemma", über die sogenannte "Rassenfrage" schrieb. Die Carnegie-Stiftung hatte amerikanische Soziologen für in dieser Sache befangen erklärt und ihn mit einem umfangreichen Auftrag und erheblichen Mitteln versehen. Und tatsächlich soll sein geschickter Auftritt als naiver Schwede, der sich erkundigt, wie es denn mit den Negern so steht, manchem Südstaatler die Zunge gelöst haben. 1944 erscheint sein Buch, knapp tausendfünfhundert eng gefüllte Seiten lang. Seine These: Rassisten wie Schwarze sind Opfer. Denn eigentlich bekräftigen alle den "amerikanischen Glauben" an Gleichheit und faire Chancen. So komme es der Wissenschaft zu, die Rassisten auf ihren Selbstwiderspruch und die im Licht ihrer Werte verheerenden Folgen ihres Zurückbleibens hinter eben diesen Werten aufmerksam zu machen. Dazu wäre es für Myrdal hilfreich gewesen, einen Teil der Schwarzen aus den Südstaaten umzusiedeln, damit sie ich gleichmäßiger über das ganze Land verteilen, um so weniger Anlass für Vorurteile zu bieten.
Diese Beschreibung ist typisch für den Geist der wohlfahrtsstaatlichen Problemwahrnehmung. Die Ziele sind unablehnbar, die Individuen aber willensschwach und dürfen darum im Namen ihrer eigenen Zwecke zu Objekten einer wohlwollenden Planung durch Planer gemacht werden, die ihrerseits ein transparentes, argumentationsbestimmtes Leben führen. Etzemüller zeichnet parallel den Aufstieg dieser Ideen, die auch andere - Architekten, Stadtplaner, Sozialpolitiker - vorantrieben, und den der Karriere beider Myrdals nach, einschließlich der beeindruckende Geschichte ihrer Ehe, die eine ständige Auseinandersetzung über Geschlechterrollen und ein ständiges Leiden an den eigenen Idealen war. Er tut es, auch angesichts der abenteuerlichen Steuerungsphantasien und der selbstgerechten Intellektualität, von der er zu berichten hat, äußerst fair. Die Geschichte der sozialen Irrtümer ist zu faszinierend, um sie herablassend oder mit Schaum vor dem Mund zu schreiben. Außerdem hält sie immer noch an, und es gibt keinen Grund, das Musterpaar des sozialen Ingenieurwesens für ein Kuriosum zu halten.
JÜRGEN KAUBE
Thomas Etzemüller: "Die Romantik der Rationalität". Alva & Gunnar Myrdal - Social Engineering in Schweden.
Transscript Verlag, Bielefeld 2010. 499 S., br., 35,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Lachen kann Rezensent Jürgen Kaube nicht über die skurrilen Sozialfantasien und die "selbstgerechte Intellektualität" des Musterpaares der schwedischen Gesellschaftsreform Alva und Gunnar Myrdal, die Thomas Etzemüller in seiner politischen Doppelbiografie zwar dar-, aber nicht ausstellt. "Äußerst fair", meint Kaube, wird hier über soziale Irrtümer (bis zur Eugenik immerhin!) des Paars geschrieben. Die Zeit zwischen 1934 und 1982 erzählt der Autor allerdings derart spannend und aus einem reichen Stoff schöpfend, dass Kaube das Buch gleich für eins der besten ideengeschichtlichen seit langem hält. Der Geist - auch der private! - der Myrdals werde dabei spürbar: Schaudernd lesen wir bei Kaube, wie das Wunderpaar das "willensschwache" Individuum voller Elan zum Objekt ihres wohlfahrtstaatlichen Masterplans machte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»[E]in Einblick in die theoretischen Grundlagen des 'schwedischen Modells' und seiner Begründer, der auch vor den abschreckenden Seiten ihrer radikalen Vision nicht Halt macht.« Alexandra Fanta, Falter, 21/11 (2011) »Eines der besten ideengeschichtlichen Bücher seit langem.« Jürgen Kaube, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2010 »Wegen der detaillierten und nicht-ideologisierenden Schilderung der involvierten AkteurInnen [...], wegen der Verortung sozialwissenschaftlicher Ideen nicht nur im zeitgenössischen Denken, sondern auch im weiteren Kontext sozialpolitischen und -ökonomischen Handelns [...] ist Etzemüllers Buch ein Musterbeispiel für einen fruchtbaren Zugang zur Geschichte der Sozialwissenschaften, [...] der den Zusammenhang zwischen der Lebenswelt der AkteurInnen und ihren Äußerungen in den Feldern Wissenschaft, Politik und Wirtschaft in einer Art und Weise rekonstruiert, die Anknüpfungspunkte für aktuelle (theoretische) Überlegungen bietet.« Christian Dayé, SWS-Rundschau, 4 (2010) Besprochen in: Historische Anthropologie, 18/1 (2010), Hans-Christoph Liess http://hpd.de, 21.12.2010, Armin Pfahl-Traughber Aufklärung und Kritik, 3 (2011) NORDEUROPAforum, 21 (2011), Valeska Henze Archiv für Sozialgeschichte, 51 (2011) Das Historisch-Politische Buch, 59/2 (2011), Ursula Hüllbusch Zeitschrift für Ideengeschichte, VI/4 (2012), Tim B. Müller