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Erstmals wird auf breiter Basis von neuen Dokumenten aus russischen und österreichischen Archiven sowie auf Grundlage von Gesprächen mit Zeitzeugen beider Länder die zehnjährige sowjetische Besatzung Österreichs umfassend dargestellt. Die Beiträge österreichischer und russischer Historiker spannen einen weiten Bogen: vom Kriegsende 1945, über den Einsatz der NKWD-Truppen, die sowjetischen Geheimdienste, die österreichische Regierung aus sowjetischer Sicht, die Militärkommandanturen, die sowjetische Österreich-Politik und deren Änderung nach Stalins Tod, bis zu den Staatsvertragsverhandlungen…mehr

Produktbeschreibung
Erstmals wird auf breiter Basis von neuen Dokumenten aus russischen und österreichischen Archiven sowie auf Grundlage von Gesprächen mit Zeitzeugen beider Länder die zehnjährige sowjetische Besatzung Österreichs umfassend dargestellt. Die Beiträge österreichischer und russischer Historiker spannen einen weiten Bogen: vom Kriegsende 1945, über den Einsatz der NKWD-Truppen, die sowjetischen Geheimdienste, die österreichische Regierung aus sowjetischer Sicht, die Militärkommandanturen, die sowjetische Österreich-Politik und deren Änderung nach Stalins Tod, bis zu den Staatsvertragsverhandlungen in Moskau und zum Abzug der Truppen 1955. Dazu kommen Beiträge zum Alltag in der sowjetischen Zone, wie dem Wandel des "Russenbildes", zur Gewalt gegen Frauen, zur Entnazifizierung, zu Verhaftungen und Verschleppungen sowie sowjetischen Hilfsleistungen. Im begleitenden Dokumentenband finden sich zu jedem Kapitel Schlüsselakten, die zum Großteil erstmals veröffentlicht werden.
Autorenporträt
Stefan Karner, Professor für Wirtschafts- und Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Kriegsgefangene in der Sowjetunion, Rüstungsindustrie in Österreich, Zwangsarbeit in Österreich, Rote Armee in Österreich. Publikationen u.a. Die Steiermark 1938 - 1934, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion.
Barabar Stelzl-Marx, geboren 1971, ist stv. Leiterin des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.2005

Der listige Wolf und der brutale Bär
Aufsätze und Dokumente zur sowjetischen Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955

Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx/Alexander Tschubarjan (Herausgeber): Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945-1955. Band 1: Beiträge, Band 2: Dokumente. R. Oldenbourg Verlag für Geschichte und Politik, Wien 2005. 888 und 979 Seiten, je Band 24,80 [Euro].

Gedenkjahre werden allzuoft mit Schuld und Sühne verbunden sowie mit Täter-Opfer-Diskursen überladen. Das Gedankenjahr, das jetzt in Österreich begangen wird, hebt sich davon in geradezu hedonistischer Weise ab, auch wenn mit 1945 (Kriegsende) und 1995 (EU-Beitritt) zwei Jahreszahlen hinzugefügt wurden, die in der Bevölkerung ambivalente Gefühle auslösen. Doch der Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 überstrahlt alles, hatte er doch den Abzug der Roten Armee aus (Ost-)Österreich im Gefolge.

Den zehn Jahren davor sind ein Aufsatz- und ein zweisprachiger Dokumentenband des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung in Graz gewidmet. Sein Leiter Stefan Karner hat bereits kurz nach dem Fall der Mauer seine Sprachkenntnisse dazu verwendet, sich um den Zugang zu russischen Archiven zu bemühen, zunächst mit dem Zweck, Auskünfte über das Schicksal österreichischer Kriegsgefangener zu erhalten. Inzwischen ist das Unternehmen gewachsen und konzentriert sich auf die gesamte sowjetische Besatzungszeit.

Österreich - die "Insel der Seligen" - sieht sich gerne als Sonderfall und als "Brücke zwischen Ost und West". Dabei war es sein Glück, daß es im Kalten Krieg eine Barriere zwischen Nord und Süd darstellte - und daher für Stalin, wie Peter Ruggenthaler im Beitrag der Aufsatzsammlung formuliert, kein Sonderfall, sondern überhaupt kein Fall war. Sogar die gängige Annahme, erst der Tod Stalins hätte den Abschluß des Staatsvertrages ermöglicht, erweist sich als nicht unbedingt stichhaltig. Anders als die SBZ, die zur DDR mutierte, war die "österreichische SBZ" strategisch und geopolitisch ohne großen Wert. Die von den Sowjets in ihrer Zone als "deutsches Eigentum" beschlagnahmten Betriebe aber wurden abgelöst - zumal mit den Erdölquellen, die hohe Investitionen erforderten, gelang Moskau dabei ein gutes Geschäft. Damit war die Klausel verbunden, die Firmen nicht an ausländische, sprich: deutsche Vorbesitzer zu "returnieren", was im Verhältnis von Wien und Bonn für Spannungen sorgte.

Den Preis für das russische Desinteresse an einem Weiterverbleib in Österreich zahlte die KPÖ, in der Besatzungszeit auf 155 000 Mitglieder angeschwollen, aber mit kaum mehr Wählern als Mitgliedern. Die aus dem Parteiarchiv der KPdSU freigegebenen Quellen bieten den ersten greifbaren Beleg, daß die KPÖ-Führung mit einer zweiten Mini-DDR liebäugelte, jedoch von ihren Moskauer Herren und Meistern rüde desillusioniert wurde. Die Unterstützung der Sowjets vermochte nie den Ansehensverlust wettzumachen, den ihre Schützlinge durch diese Assoziation erlitten. Die politische Erfolglosigkeit der Kommunisten wiederum, die über fünf Prozent der Stimmen nie hinauskamen, führte intern zu einer verächtlichen Haltung der sowjetischen Stellen ihnen und ihren fellow travellers gegenüber.

Stalin setzte von Anfang an nicht auf eine unmittelbare Machtergreifung durch die KPÖ, sondern auf Volksfronttaktik, und er war bereit zu warten, bis die Vereinigten Staaten einmal aus Europa abgezogen waren. Herausgeber Karner und Autor Ruggenthaler stellen hier die Frage in den Raum, ob der Tod des amerikanischen Präsidenten Roosevelt im April 1945 für Österreich ein Glück war. Als Glück erwies sich aber zweifelsohne auch, daß Karl Renner als Republikgünder schon Erfahrung hatte, sich zudem als letzter Präsident des österreichischen Nationalrats 1933 bei Kriegsende für eine Wiederbelebung der Republik geradezu anbot und sich im Frühjahr 1945 auch tatsächlich selbst anbot. Daß sich der damals 75 Jahre alte Politiker im Jahr 1938 zwar nicht für das NS-Regime ausgesprochen hatte (wie terrible simplicateurs immer noch kolportieren), aber den Anschluß an das Deutsche Reich als historischen Fortschritt begrüßt hatte, mochte im Bedarfsfall als Druckmittel sogar nützlich sein. Doch als sich der würdige Greis als "listiger Wolf" entpuppte und der österreichischen Sozialdemokratie das Kompliment eintrug, die "rechteste und reaktionärste" Europas zu sein, war es für die Sowjets dennoch zu spät.

Bilaterale Geschichtsschreibung erfordert diplomatisches Fingerspitzengefühl. Das hat seinen Preis. Vom gängigen Topos der Selbstanklage, wie er in Teilen der westlichen Historiographie mittlerweile zum guten Ton gehört, ist das Gros der russischen Autoren wahrlich nicht angekränkelt. Man kann es freilich auch übertreiben. Die Bewunderung vor so viel patriotischer Geradlinigkeit wird immer wieder durch Passagen von unfreiwilliger Komik aufgelockert. In einer Fußnote verborgen findet sich der Hinweis, daß es bis heute schwierig ist, "in der ehemaligen Sowjetunion negative Aspekte der Handlungen der Roten Armee anzusprechen". Auf wenig Gegenliebe wird dort wohl der Beitrag über die "Repatriierungen", insbesondere der 40 000 in Kärnten ausgelieferten Kosaken gefallen sein. Dafür zeichnet sich der Beitrag von Barbara Stelzl-Marx "zum Beziehungsgeflecht zwischen sowjetischen Besatzungssoldaten und österreichischen Frauen" durch ein Zartgefühl gegenüber dem "frauenhungrigen Männerpotential" aus, das feministischen Autoren die Zornesröte in die Wangen treiben müßte - hätte nicht eine von ihnen längst gestanden, sie sei eigentlich froh, daß dieses Thema nicht entsprechend behandelt werde, weil das ja doch bloß "den Revisionisten" nützen würde. Im Klartext: Die Zahl der Vergewaltigungen wird auf 70 000 bis 240 000 geschätzt, die Zahl der Rotarmisten, die in Österreich einmarschierten, mit 400 000 beziffert. Einen kleinen Blick in das Geschehen, das sich hinter der Fassade Potemkinscher Dörfer abspielte, wie sie in totalitären Regimes besonders gern errichtet werden, gibt der lesenswerte Beitrag von Nikita Petrov über die Inneren Truppen des NKWD. Petrov berichtet über den Kulturschock, der Rotarmisten angesichts des materiellen Komforts des besiegten Gegners erfaßte, ebenso wie über die systemtypische Maßnahme, daß angesichts grassierender Disziplinlosigkeit ab und zu auch ein Plansoll an zu überführenden Missetätern ausgeschrieben wurde.

Der methodische Kunstgriff, von der Rekonstruktion der altmodischen Realität zugunsten der Reflexion von Bildern und Wahrnehmungen abzusehen, läßt sich übrigens hervorragend in den Dienst der Völkerverständigung stellen. Ob derlei Wahrnehmungen auch tatsächlich zutrafen, muß dann nicht explizit bejaht werden. Allenfalls stellt sich die semantische Frage, ob "Vorurteile, die vielfach zutrafen", weiterhin noch als solche zu bezeichnen sind.

Wie der Staatsvertragskanzler Julius Raab so richtig sagte: Es hat keinen Sinn, den russischen Bären ständig in den Schwanzstummel zu zwicken. Geschichtswissenschaft ist ohne oder nur mit wenigen Quellen schwer möglich, auch wenn viele an einem solchen Projekt arbeiten. Und zu dem Thema stehen die Archive nun einmal in Moskau. Schließlich geht es in der Historie nicht um politische Bekenntnisformeln, sondern um Erkenntnisgewinn. Und der ist im vorliegenden Fall groß genug, um selbst dort, wo er es nicht ist, mit einem wissenden Lächeln darüber hinwegzusehen.

LOTHAR HÖBELT

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