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Die Edition umfasst bislang streng geheim gehaltene sowjetische Dokumente zur Besatzung Österreichs: von Stalin, Molotow, Chruschtschow, vom ZK der KPdSU, von den führenden Militärs, den Geheimdiensten, der Wirtschaft und des Außenamtes.
Damit werden erstmals 189 zentrale Dokumente aus den Archiven des ehemaligen KGB, des Verteidigungsministeriums, des NKWD, der KPdSU und des Außenministeriums der Russischen Föderation sowie Schlüsseldokumente aus österreichischen Archiven auf Deutsch und Russisch publiziert. Darunter befinden sich Akten aus den Sondermappen Stalins und Molotows ebenso wie…mehr

Produktbeschreibung
Die Edition umfasst bislang streng geheim gehaltene sowjetische Dokumente zur Besatzung Österreichs: von Stalin, Molotow, Chruschtschow, vom ZK der KPdSU, von den führenden Militärs, den Geheimdiensten, der Wirtschaft und des Außenamtes.

Damit werden erstmals 189 zentrale Dokumente aus den Archiven des ehemaligen KGB, des Verteidigungsministeriums, des NKWD, der KPdSU und des Außenministeriums der Russischen Föderation sowie Schlüsseldokumente aus österreichischen Archiven auf Deutsch und Russisch publiziert. Darunter befinden sich Akten aus den Sondermappen Stalins und Molotows ebenso wie bisher unter Verschluss gehaltene Politbüro-Beschlüsse und unveröffentlichte Berichte zur sowjetischen Besatzung von Wien, Niederösterreich, dem Burgenland, dem Mühlviertel und der Steiermark.

Die Darstellungen und Analysen finden sich im Beitragsband zur Roten Armee in Österreich.

Karner, Stefan; Stelzl-Marx, Barbara (Hrsg.): Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945-1955. Beiträge (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung). München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2005.
ISBN 3-486-57816-2; 888 S.; EUR 24,80.

Karner, Stefan; Stelzl-Marx, Barbara; Tschubarjan, Alexander (Hrsg.):
Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 - 1955.
Dokumente (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung). München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2005.
ISBN 3-486-57901-0; 979 S.; EUR 24,80.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Gerhard Wettig, Kommen
E-Mail:

Darstellungen der Zeitgeschichte aus sowjetischer Perspektive und damit auch des Vorgehens in den von der Roten Armee besetzten Ländern sind nach wie vor vergleichsweise selten. Die unter den westlichen Historikern verbreitete Unkenntnis der russischen Sprache und die Hindernisse beim Zugang zu den Moskauer Archiven haben dazu geführt, dass die Geschichte der Ost-West-Beziehungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit weithin auf der Grundlage westlicher Dokumente geschrieben wird und die sowjetischen Aspekte der Interaktion wenig Aufmerksamkeit finden. Umso mehr ist zu begrüßen, dass nunmehr ein grundlegendes Werk über die Besatzungspolitik der UdSSR in Österreich erschienen ist, das überwiegend auf bisher nicht bekannten russischen Archivquellen beruht und damit den aufgrund österreichischer Akten gearbeiteten Untersuchungen von Gerald Stourzh die östliche Dimension hinzufügt.[1] Es entstand als gemeinschaftliches Pilotprojekt österreichischer und russischer Wissenschaftler unter der Leitung von Stefan Karner und Alexander Tschubarjan und wurde von hochgestellter Seite - Bundeskanzler Schüssel, Präsident Putin und Premierminister Kas’janov - gefördert. Die Unterstützung der Leiter maßgeblicher Moskauer Archive machte die Benutzung wichtiger bisher unzugänglicher Quellen möglich, die zum Teil in den - jeweils den russischen und deutschen Text gegenüberstellenden - Dokumentenband Eingang gefunden haben.

Beide Bände behandeln jeweils die Überlegungen des Kreml während des Zweiten Weltkriegs über die Grenzen und die Rolle Österreichs, die Vorgänge im Kontext der Besetzung, Struktur und Organisation des sowjetischen Okkupationsapparates, die von der Besatzungsmacht in ihrer Zone ausgeübte Kontrolle, den dortigen Alltag, die Entwicklung der Politik gegenüber Österreich und schließlich den Abschluss des Staatsvertrages mit dem folgenden Ende der Truppenpräsenz. Das Werk ist sorgfältig gearbeitet und mit einem umfangreichen wissenschaftlichen Apparat - vor allem einem Quellen- und einem Literaturverzeichnis sowie
Orts- und Personenregistern - versehen. Die thematische Relevanz geht weit über die Alpenrepublik hinaus, weil Gesamtzusammenhänge der sowjetischen Besatzungspolitik insgesamt deutlich werden. Vor allem ist der Vergleich mit dem sowjetischen Vorgehen im besetzten Deutschland und in Osteuropa aufschlussreich. Stalin war mit Blick auf die systemische Transformation des Landes außerordentlich zurückhaltend. Er leitete keine 'Demokratisierung' zur Entmachtung des Bürgertums ein, sondern beauftragte Karl Renner, der zwar Sozialist, aber kein Kommunist war, ohne Auflagen und Dreinrede mit der Bildung einer Regierung, verzichtete auf Beeinflussung der landesweiten Wahlen im November 1945 und akzeptierte deren Ergebnis, das die Kommunisten mit einem Stimmenanteil von kaum mehr als 5 Prozent ins politische Abseits verwies.

Es gab zwar Parallelen zum sowjetischen Vorgehen im besetzten Deutschland, doch waren diese von geringer Bedeutung. Die in der UdSSR geschulten Kriegsgefangenen übernahmen Aufgaben in der Verwaltung; die Parteien wurden zum Zusammenwirken verpflichtet, die Polizei kommunistischer Leitung unterstellt. Es fehlte aber der Zwang zum blockpolitischen Konsens mit den Kommunisten, die auch nicht als Übermittler sowjetischer Weisungen fungierten und daher keine 'führende Rolle' beanspruchen konnten. Von einem Sonderverhältnis, gar Zusammenschluss der 'Parteien der Arbeiterklasse', war nie die Rede, und der Regierungschef hatte von Anfang an eine eigenständige Position, auf Grund deren er sich als entscheidender Akteur durchsetzen konnte.

Auch wenn der Kreml in Österreich genau so wie in Deutschland für einen mehrmonatigen, sogar noch länger als dort ausgedehnten Ausschluss der Westmächte aus der - ebenfalls in Sektoren geteilten und inmitten der Sowjetzone gelegenen - Hauptstadt sorgte und so vollendete Tatsachen schaffen konnte, diente das nicht Sowjetisierungszwecken. Die westliche Seite befürchtete freilich genau dies und wandte sich daher bis Herbst
1945 gegen die Einsetzung der Regierung Renner, an der Stalin trotz erster Konflikte festhielt.

In der Folgezeit kehrte sich das Verhältnis um: Renner wurde zum Mann des Westens, den der Kreml seit dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges Mitte 1947 zum Feind erklärte. Aber auch danach unterschied sich die Besatzungspolitik der UdSSR grundlegend vom Vorgehen in allen anderen besetzten Gebieten: Es gab kein Bemühen, die Einführung des sowjetischen Systems zu forcieren. Die österreichische Regierung blieb unangefochten im Amt, das Land wurde nicht an der Teilnahme am Marshall-Plan gehindert, und als die Kommunisten einen Putsch ins Werk zu setzen suchten, versagte der Kreml seine Unterstützung. Damit hatte Österreich klar eine Sonderstellung in der sowjetischen Westpolitik.

Peter Ruggenthaler stellt die Frage nach den Beweggründen, die Stalin auf die Sowjetisierung Österreichs von vornherein verzichten ließen.
Auch wenn Zeugnisse über seine innersten Gedanken fehlen, lässt sich seine Motivation weithin klären. Er war der einzige maßgebliche Politiker, der sich 1938 gegen den Anschluss Österreichs an Deutschland gewandt hatte. Wenn man von dem Schweigen absieht, das ihm der Pakt mit Hitler 1939 gebot, ist er von dieser Haltung nie abgegangen. Schon in den ersten Kontakten, die der Kreml 1941 mit den Verbündeten im Westen hatte, gehörte die Selbstständigkeit Österreichs zu seinen wichtigsten Forderungen. Es galt, Deutschland künftig zu schwächen, um es nicht wieder zu einer gefährlichen Macht werden zu lassen. Dazu bedurfte es einer Überwindung der großdeutschen Gefühle, die das Land in der Zwischenkriegszeit gegen das Anschlussverbot hatten opponieren lassen.

Das geeignete Mittel dazu war, Österreich als 'erstes Opfer Hitlers' und zu 'befreiendes' Land zu behandeln, das das Schicksal Deutschlands nicht zu teilen brauchte. Stalin hielt zwar eine Besetzung des Landes für notwendig, um dessen staatliche Orientierung unter Kontrolle zu haben und zudem der UdSSR wirtschaftliche Vorteile zu sichern, wollte aber den Österreichern zeigen, dass sie als eine von den Deutschen getrennte Nation mit Privilegien diesen gegenüber rechnen konnten. Der Verzicht auf Sowjetisierung und die damit verbundene Satellisierung fiel ihm leicht, weil er Österreich als ein kleines Land in marginaler geostrategischer Position ansah. Für Deutschland (und auch Polen) galt das nicht: Die Machtverhältnisse in Europa wurden entscheidend davon bestimmt, wer in dessen Mitte das Heft in der Hand hatte. Die Zurückhaltung im besetzten Österreich war nicht notwendig ein Sowjetisierungsverzicht für alle Zeiten. Stalin ging davon aus, die UdSSR werde längerfristig die Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent erringen, zumal wenn sich die USA, wie ihm eine Äußerung Roosevelts auf der Konferenz von Jalta zu bestätigen schien, so wie nach dem Ersten Weltkrieg aus Europa zurückziehe. Dann mochte sich auch Österreich zur Annäherung an die Sowjetunion und ihr System bewogen sehen, zumal dieses, wie man in Moskau fest glaubte, dem Kapitalismus überlegen war. Das könnte erklären, wieso der Kreml, ungeachtet aller Enttäuschung über die Misserfolge der österreichischen Kommunisten, an diesen interessiert blieb: Sie sollten im Hinblick auf spätere Entwicklungen eine politische Basis im Lande aufrechterhalten.

Trotz manchen Hinweisen im Einzelnen bleibt unklar, wieso Stalin im Frühjahr 1945 auf Renner setzte. Zwar entsprach es seinen Vorstellungen, auf sichtbare Positionen zunächst keine Kommunisten zu platzieren, und es lässt sich auch einiges anführen, was ihn zur Wahl dieses sozialistischen Politikers bewog: Auch wenn Renner ein schlauer Fuchs war, der sich beabsichtigter sowjetischer Einflussnahme zu entziehen wusste, und der sowjetische Führer den kommunistischen Einfluss auf die künftige Führung in Wien stark überschätzte, ist das Vertrauen nicht zu erklären, das der sonst äußerst misstrauische Kremlchef dem österreichischen Bundeskanzler entgegenbrachte. Dieser erhielt dadurch einen im Machtbereich der UdSSR einmaligen Handlungsspielraum.

Für Stalin war die Politik gegenüber Wien stets eng mit der deutschen Frage verknüpft. Als die USA bei den Vier-Mächte-Verhandlungen über Österreich nach langen Auseinandersetzungen im Herbst 1949 auf seine Friedensvertragsforderungen eingingen, machte er durch nachgeschobene unannehmbare Bedingungen die erzielte Übereinkunft zunichte, weil deren Abkopplung von einer Deutschland-Regelung in seinem Sinne für ihn nicht in Betracht kam. Bis 1954 blieb die enge Verbindung mit der Deutschland-Politik bestehen; nach seinem Tod hielt Molotow in seiner Rolle als Außenminister den Standpunkt aufrecht. Ruggenthaler legt auf Grund der ihm zugänglichen sowjetischen Akten überzeugend dar, dass Stalins klares Nein zur Neutralisierung Österreichs im Frühjahr 1952 das gleichzeitige Angebot an die Westmächte zu Verhandlungen über ein neutrales Deutschland als nicht ernst gemeint erweist. Erst als Chruschtschow Anfang 1955 die Kontrolle über die sowjetische Außenpolitik übernahm, wurde im Kreml der Weg frei für eine Neubewertung der Interessen in Österreich, die nicht länger von der deutschen Frage bestimmt wurden. Beim nun eingeleiteten Abschluss des Staatsvertrages, der die Besetzung beendete, spielten wirtschaftliche und militärstrategische Gesichtspunkte (Verkauf der zunehmend unprofitablen sowjetischen Betriebe im Lande und Unterbrechung der Tiroler Verbindung zwischen den NATO-Staaten Bundesrepublik und Italien) eine wesentliche Rolle.

Die von den österreichischen und russischen Herausgebern vorgelegte Veröffentlichung lässt das differenzierte Herangehen an außenpolitische Probleme deutlich werden, zu dem sogar Stalin fähig war, wenn es ihm aus besonderen Gründen zweckmäßig erschien. Das Werk setzt einen Markstein der Sowjetunion-Forschung, an dem weder die historische Zunft noch das interessierte Publikum vorübergehen können.

Anmerkung:
[1] Siehe vor allem Stourzh, Gerald, Um Einheit und Freiheit.
Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945-1955, Wien 1998.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Michael Lemke

URL zur Zitation dieses Beitrages
Autorenporträt
Stefan Karner, Professor für Wirtschafts- und Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Kriegsgefangene in der Sowjetunion, Rüstungsindustrie in Österreich, Zwangsarbeit in Österreich, Rote Armee in Österreich. Publikationen u.a. Die Steiermark 1938 - 1934, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion.
Barabar Stelzl-Marx, geboren 1971, ist stv. Leiterin des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz.
Alexander O. Tschubarjan ist Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.2005

Der listige Wolf und der brutale Bär
Aufsätze und Dokumente zur sowjetischen Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955

Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx/Alexander Tschubarjan (Herausgeber): Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945-1955. Band 1: Beiträge, Band 2: Dokumente. R. Oldenbourg Verlag für Geschichte und Politik, Wien 2005. 888 und 979 Seiten, je Band 24,80 [Euro].

Gedenkjahre werden allzuoft mit Schuld und Sühne verbunden sowie mit Täter-Opfer-Diskursen überladen. Das Gedankenjahr, das jetzt in Österreich begangen wird, hebt sich davon in geradezu hedonistischer Weise ab, auch wenn mit 1945 (Kriegsende) und 1995 (EU-Beitritt) zwei Jahreszahlen hinzugefügt wurden, die in der Bevölkerung ambivalente Gefühle auslösen. Doch der Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 überstrahlt alles, hatte er doch den Abzug der Roten Armee aus (Ost-)Österreich im Gefolge.

Den zehn Jahren davor sind ein Aufsatz- und ein zweisprachiger Dokumentenband des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung in Graz gewidmet. Sein Leiter Stefan Karner hat bereits kurz nach dem Fall der Mauer seine Sprachkenntnisse dazu verwendet, sich um den Zugang zu russischen Archiven zu bemühen, zunächst mit dem Zweck, Auskünfte über das Schicksal österreichischer Kriegsgefangener zu erhalten. Inzwischen ist das Unternehmen gewachsen und konzentriert sich auf die gesamte sowjetische Besatzungszeit.

Österreich - die "Insel der Seligen" - sieht sich gerne als Sonderfall und als "Brücke zwischen Ost und West". Dabei war es sein Glück, daß es im Kalten Krieg eine Barriere zwischen Nord und Süd darstellte - und daher für Stalin, wie Peter Ruggenthaler im Beitrag der Aufsatzsammlung formuliert, kein Sonderfall, sondern überhaupt kein Fall war. Sogar die gängige Annahme, erst der Tod Stalins hätte den Abschluß des Staatsvertrages ermöglicht, erweist sich als nicht unbedingt stichhaltig. Anders als die SBZ, die zur DDR mutierte, war die "österreichische SBZ" strategisch und geopolitisch ohne großen Wert. Die von den Sowjets in ihrer Zone als "deutsches Eigentum" beschlagnahmten Betriebe aber wurden abgelöst - zumal mit den Erdölquellen, die hohe Investitionen erforderten, gelang Moskau dabei ein gutes Geschäft. Damit war die Klausel verbunden, die Firmen nicht an ausländische, sprich: deutsche Vorbesitzer zu "returnieren", was im Verhältnis von Wien und Bonn für Spannungen sorgte.

Den Preis für das russische Desinteresse an einem Weiterverbleib in Österreich zahlte die KPÖ, in der Besatzungszeit auf 155 000 Mitglieder angeschwollen, aber mit kaum mehr Wählern als Mitgliedern. Die aus dem Parteiarchiv der KPdSU freigegebenen Quellen bieten den ersten greifbaren Beleg, daß die KPÖ-Führung mit einer zweiten Mini-DDR liebäugelte, jedoch von ihren Moskauer Herren und Meistern rüde desillusioniert wurde. Die Unterstützung der Sowjets vermochte nie den Ansehensverlust wettzumachen, den ihre Schützlinge durch diese Assoziation erlitten. Die politische Erfolglosigkeit der Kommunisten wiederum, die über fünf Prozent der Stimmen nie hinauskamen, führte intern zu einer verächtlichen Haltung der sowjetischen Stellen ihnen und ihren fellow travellers gegenüber.

Stalin setzte von Anfang an nicht auf eine unmittelbare Machtergreifung durch die KPÖ, sondern auf Volksfronttaktik, und er war bereit zu warten, bis die Vereinigten Staaten einmal aus Europa abgezogen waren. Herausgeber Karner und Autor Ruggenthaler stellen hier die Frage in den Raum, ob der Tod des amerikanischen Präsidenten Roosevelt im April 1945 für Österreich ein Glück war. Als Glück erwies sich aber zweifelsohne auch, daß Karl Renner als Republikgünder schon Erfahrung hatte, sich zudem als letzter Präsident des österreichischen Nationalrats 1933 bei Kriegsende für eine Wiederbelebung der Republik geradezu anbot und sich im Frühjahr 1945 auch tatsächlich selbst anbot. Daß sich der damals 75 Jahre alte Politiker im Jahr 1938 zwar nicht für das NS-Regime ausgesprochen hatte (wie terrible simplicateurs immer noch kolportieren), aber den Anschluß an das Deutsche Reich als historischen Fortschritt begrüßt hatte, mochte im Bedarfsfall als Druckmittel sogar nützlich sein. Doch als sich der würdige Greis als "listiger Wolf" entpuppte und der österreichischen Sozialdemokratie das Kompliment eintrug, die "rechteste und reaktionärste" Europas zu sein, war es für die Sowjets dennoch zu spät.

Bilaterale Geschichtsschreibung erfordert diplomatisches Fingerspitzengefühl. Das hat seinen Preis. Vom gängigen Topos der Selbstanklage, wie er in Teilen der westlichen Historiographie mittlerweile zum guten Ton gehört, ist das Gros der russischen Autoren wahrlich nicht angekränkelt. Man kann es freilich auch übertreiben. Die Bewunderung vor so viel patriotischer Geradlinigkeit wird immer wieder durch Passagen von unfreiwilliger Komik aufgelockert. In einer Fußnote verborgen findet sich der Hinweis, daß es bis heute schwierig ist, "in der ehemaligen Sowjetunion negative Aspekte der Handlungen der Roten Armee anzusprechen". Auf wenig Gegenliebe wird dort wohl der Beitrag über die "Repatriierungen", insbesondere der 40 000 in Kärnten ausgelieferten Kosaken gefallen sein. Dafür zeichnet sich der Beitrag von Barbara Stelzl-Marx "zum Beziehungsgeflecht zwischen sowjetischen Besatzungssoldaten und österreichischen Frauen" durch ein Zartgefühl gegenüber dem "frauenhungrigen Männerpotential" aus, das feministischen Autoren die Zornesröte in die Wangen treiben müßte - hätte nicht eine von ihnen längst gestanden, sie sei eigentlich froh, daß dieses Thema nicht entsprechend behandelt werde, weil das ja doch bloß "den Revisionisten" nützen würde. Im Klartext: Die Zahl der Vergewaltigungen wird auf 70 000 bis 240 000 geschätzt, die Zahl der Rotarmisten, die in Österreich einmarschierten, mit 400 000 beziffert. Einen kleinen Blick in das Geschehen, das sich hinter der Fassade Potemkinscher Dörfer abspielte, wie sie in totalitären Regimes besonders gern errichtet werden, gibt der lesenswerte Beitrag von Nikita Petrov über die Inneren Truppen des NKWD. Petrov berichtet über den Kulturschock, der Rotarmisten angesichts des materiellen Komforts des besiegten Gegners erfaßte, ebenso wie über die systemtypische Maßnahme, daß angesichts grassierender Disziplinlosigkeit ab und zu auch ein Plansoll an zu überführenden Missetätern ausgeschrieben wurde.

Der methodische Kunstgriff, von der Rekonstruktion der altmodischen Realität zugunsten der Reflexion von Bildern und Wahrnehmungen abzusehen, läßt sich übrigens hervorragend in den Dienst der Völkerverständigung stellen. Ob derlei Wahrnehmungen auch tatsächlich zutrafen, muß dann nicht explizit bejaht werden. Allenfalls stellt sich die semantische Frage, ob "Vorurteile, die vielfach zutrafen", weiterhin noch als solche zu bezeichnen sind.

Wie der Staatsvertragskanzler Julius Raab so richtig sagte: Es hat keinen Sinn, den russischen Bären ständig in den Schwanzstummel zu zwicken. Geschichtswissenschaft ist ohne oder nur mit wenigen Quellen schwer möglich, auch wenn viele an einem solchen Projekt arbeiten. Und zu dem Thema stehen die Archive nun einmal in Moskau. Schließlich geht es in der Historie nicht um politische Bekenntnisformeln, sondern um Erkenntnisgewinn. Und der ist im vorliegenden Fall groß genug, um selbst dort, wo er es nicht ist, mit einem wissenden Lächeln darüber hinwegzusehen.

LOTHAR HÖBELT

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