Wer die Türkei verstehen will, muss Pamuk lesen.
Als er die Schauspielerin zum ersten Mal im Theaterzelt sieht, ist Cem nur der einfache Lehrling des Brunnenbauers Murat. Sie ist schön, ihr rotes Haar leuchtet wie Feuer. Je mehr der Lehrling sich zu der Rothaarigen hingezogen fühlt, desto mehr entfremdet er sich von Meister Murat, der für ihn wie ein Vater geworden war. Als bei der Arbeit ein schrecklicher Unfall passiert, flieht Cem nach Istanbul. Jahrzehnte später kehrt er an jenen Brunnen zurück, wo er etwas Ungeheures entdeckt.
Nobelpreisträger Orhan Pamuk erzählt mit klassischer Wucht eine Geschichte von Vätern und Söhnen, von Liebe und Verrat, von Schuld und Sühne in der Türkei, einem Land, das noch immer zwischen Tradition und Moderne zerrissen ist - »absolute Weltklasse!« (Ulf Heise, MDR Kultur)
Als er die Schauspielerin zum ersten Mal im Theaterzelt sieht, ist Cem nur der einfache Lehrling des Brunnenbauers Murat. Sie ist schön, ihr rotes Haar leuchtet wie Feuer. Je mehr der Lehrling sich zu der Rothaarigen hingezogen fühlt, desto mehr entfremdet er sich von Meister Murat, der für ihn wie ein Vater geworden war. Als bei der Arbeit ein schrecklicher Unfall passiert, flieht Cem nach Istanbul. Jahrzehnte später kehrt er an jenen Brunnen zurück, wo er etwas Ungeheures entdeckt.
Nobelpreisträger Orhan Pamuk erzählt mit klassischer Wucht eine Geschichte von Vätern und Söhnen, von Liebe und Verrat, von Schuld und Sühne in der Türkei, einem Land, das noch immer zwischen Tradition und Moderne zerrissen ist - »absolute Weltklasse!« (Ulf Heise, MDR Kultur)
buecher-magazin.deCem, ein erfolgreicher Bauingenieur, der eigentlich Schriftsteller werden wollte, wird als Kind vom Vater verlassen und wächst bei seiner Mutter in Istanbul auf. Als Teenager begegnet er Meister Mahmut, bei dem er als Brunnenbauer in die Lehre geht. Mahmut steht für die fest durch Tradition verwurzelte Vaterfigur, streng an Regeln gebunden, aber auch beschützend. Es geschieht ein Unglück, Cem verwickelt sich in Schuldgefühle und wird selbst Vater, was er lange gar nicht weiß. Der türkische Nobelpreisträger interpretiert hier die Sage um Ödipus neu. Er verflechtet diese mit dem persischen Nationalepos "Schahname" über den Herrscher Rostam, der versehentlich in der Schlacht seinen Sohn Sohrab erstach, und sinniert dabei über die Bedeutung des Vatermordes, des verlorenen Sohnes, überhaupt jeglicher Vater-Sohn-Verwicklung in Orient und Okzident. "Der moderne Mensch geht im Dschungel der Stadt unter, darum ist er vaterlos", heißt es an einer Stelle. Man erahnt in diesem Roman auch Kritik am autoritären Regime von Erdogan. Als sprichwörtlich roter Faden durch die Handlung zieht sich Cems obsessive Liebe zu einer rothaarigen Theaterschauspielerin, deren feuriger Schopf für Verführung, Abenteuer und Rebellion gegen Konventionen steht.
© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.09.2017Iokaste in Istanbul
Orhan Pamuks neuer Roman „Die rothaarige Frau“ macht aus dem Konflikt zwischen
Tradition und Moderne eine Allegorie auf die politische Situation in der Türkei
VON STEFAN WEIDNER
Der Brunnen der Vergangenheit ist nicht nur tief, man kann auch hineinfallen oder hineingeworfen werden wie in einen echten Brunnen. Die Palette von Brunnenmetaphern, die Orhan Pamuk, der türkische Literaturnobelpreisträger des Jahres 2006, in seinem neuen Roman vor uns auffächert, beginnt mit der Frage des jungen Cem, „ob wir wohl recht daran taten, ins Innere der Erde zu streben statt zu den leuchtenden Sternen“. Und entpuppt sich als groß angelegter erzählerischer Versuch, die Fragerichtung umzukehren, also Zweifel daran zu säen, ob wir wirklich recht damit tun, (nur) zu den leuchtenden Sternen und in die Zukunft zu streben statt ins Innere der Erde, sprich, statt die Vergangenheit mit zu bedenken.
Mit der harschen Alternative in Gestalt dieser Frage scheint nämlich auch der Gegensatz zwischen Ost und West und zwischen Tradition und Moderne erfasst, zwei Polen, die ein wenig zu ausschließlich von den Ideologen der jeweiligen Kulturkreise für sich reklamiert werden. Unter der Unvermittelbarkeit dieser Pole, ihrem Entweder-Oder leiden die Protagonisten des Buchs ebenso wie die heutige Türkei.
Per aspera geht es nicht nur, wie man es im Westen gern hätte, ad astra, also zu den Sternen, sondern beträchtliche Mühen musste man in seligeren Zeiten auch dafür aufwenden, wenn man in die Tiefen der Erde vordringen wollte, und sei es nur auf der Suche nach dem Urelement des Lebens. „Alles, was lebt, haben wir aus Wasser gemacht“, heißt es in einem berühmten Koranvers, und aus dem Koran schöpft der Brunnenbaumeister Mahmut die Legenden, die er seinem Lehrling Cem erzählt. Der ist eigentlich ein Bücherwurm, der Sohn eines politisch links stehenden Apothekers und Aktivisten, der die Familie für die Politik und eine schöne, neue, rothaarige Geliebte vorzeitig verlassen hat, so dass Meister Mahmut, bei dem Cem ein bisschen Geld verdienen will, zum Vaterersatz werden kann.
Den Brunnen bauen sie 1985 in Öngören, einer fiktiven Garnisonsstadt vor den Toren Istanbuls, keine fünf Kilometer von Silivri entfernt, wo am Ende des Buchs, in unserer Gegenwart, das „größte Gefängnis nicht nur der Türkei, sondern von ganz Europa‘“ liegt, „wie auch die Wächter und die Gefängnisleitung nicht müde wurden zu betonen.“ Wenn es den Brunnenbauern gelingt, Wasser zu finden, winkt ihnen eine reiche Belohnung und den Menschen von Öngören Arbeit in der Textilfabrik, die dort errichtet werden soll.
30 Jahre später ist die Textilfabrik nach Bangladesch verlegt und das Grundstück von einer Immobilienfirma aufgekauft worden. Hochwertiger Wohnraum soll entstehen, eine neue Istanbuler Vorstadt, und um für das Projekt zu werben, ist der Besitzer der Firma nach Öngören zurückgekehrt. Es ist niemand anderes als Cem, der hier von seiner tatkräftig verdrängten Vergangenheit eingeholt wird wie die Türkei heute von ihrem verdrängten islamisch-osmanischen Erbe.
Orhan Pamuk hat auch, aber keineswegs nur einen politischen Roman geschrieben. Wenn die Geschichte augenscheinlich eine Parabel ist, dann so sehr über die Grundfragen der Existenz wie über die politischen Ereignisse in der Türkei heute. Die unausgesprochene Grundthese des Romans lautet, dass die politischen Ereignisse eine Folge archetypischer Verhaltensmuster sind, die sich in der Türkei nur stärker als anderswo materialisieren und offen auf der politische Bühne ausgetragen werden.
Fast beiläufig fällt gegen Ende des Romans das Wort über „die Kurden und die oppositionellen Journalisten, die nun die Zellen füllen, in denen früher putschende Militärs gesessen hatten“; während draußen die Immobilienhaie, die einen guten Draht zur Regierungspartei haben, die nötigen Tipps über die anstehenden Baufreigaben erhalten. Korruption? Gewiss. Auf ähnlich zwielichtige Weise machen ihre Renditen auch die deutschen Geschäftsleute, von denen wir erfahren, dass sie wenige Jahre zuvor, als Griechenland vor der Staatspleite stand, zahlreich in Athen anzutreffen waren, um sich die unter Wert angebotenen Immobilien zu sichern.
Es braucht keinen Autor, um diese Entwicklung zu bewerten; die Natur selbst spricht das Urteil. Die Wasserknappheit, nicht die oppositionellen Journalisten, die Kurden oder die putschenden Generäle werden dem Größenwahn der Regierenden die Grenzen aufzeigen. Die islamistische Postmoderne der AKP, darin gelehrige Schülerin des Neoliberalismus, zehrt vom Versprechen, auch ohne aspera ad astra gelangen zu können. Das Ergebnis ist eine Mentalität der Verantwortungslosigkeit, symbolisiert durch die neusten Flüche der Ingenieurswissenschaft, Bohrmaschinen, die es möglich machen, Grundwasser aus jeder Tiefe anzuzapfen.
Aufgrund des so möglich gemachten grenzenlosen städtischen Wachstums sinkt der Wasserspiegel immer weiter. Das Streben zu den Sternen überantwortet die Erde der Dürre. Ein Beruf wie der von Brunnenbaumeister Mahmut, der seinen Schacht noch mit der Hand ausheben musste, wird ein Fall für den Nostalgiker: also den Romancier.
Die überraschende Volte dieses hochkontrollierten, sich keinen Schlenker, kein Wort zu viel gestattenden Romans liegt nun darin, dass er den Antagonismus von Tradition und Moderne, von Ost und West, als Vater-Sohn Konflikt deutet. Als der Brunnenbaumeister Mahmut seinen Gehilfen, den späteren Immobilienhai Cem, dazu auffordert, zu den gemeinsamen Abenden unter freiem Himmel eine eigene Geschichte beizutragen, fällt diesem keine andere ein als die von Ödipus – welche Meister Mahmut, er scheint zu wissen warum, ganz und gar nicht gefällt. Intuitiv ahnt er, dass ihm dabei die Rolle von Ödipus‘ Vater und damit die des Opfers zu Teil wird. Einige Tage später sieht Cem in einem Varieté-Theater den orientalischen Gegenentwurf zum Ödipus-Mythos aufgeführt. Er stammt aus dem „Buch der Könige“ des persischen Nationaldichters Firdausi. Dort, im „Schahname“, ist es der Vater, Rostam, der größte Held der persischen Mythologie, der seinen Sohn Sohrab im Zweikampf nicht erkennt und mit Hilfe einer List umbringt.
Im Westen hingegen kann der Vater machen, was er will, der Sohn wird ihn umbringen, die Moderne obsiegen. Nach der Liebesnacht im Alkoholrausch lässt Cem den Meister, den er nach einem Unfall für tot hält, im Brunnen zurück und versucht fortan, sein Leben zu führen, als wäre nichts geschehen. Sein Verhalten ist das Sinnbild für eine alle Traditionen verachtende Moderne, die sich mit ihrem einseitigen Blick auf die Zukunft genau diese verbaut und die Vergangenheit wiederholen muss wie später Cem in seiner finalen Auseinandersetzung mit Enver am einst von Meister Mahmut gegrabenen Brunnen.
Enver, der Sohn von Cem, von dem dieser lange überhaupt nichts wusste, publiziert Gedichte in AKP-nahen Zeitschriften und erklärt seinem Vater seine orientalische Sicht: „Mit ihrem Individualismusfimmel sind unsere Eliten weder Individuen geworden noch sonst etwas Eigenständiges. Weil sie sich für etwas Besonderes halten, glauben sie nicht an Gott. Für sie ist das ein Beweis dafür, dass sie nicht sind, wie die anderen. Nur sagen sie das nicht so. Im Glauben dagegen steckt, dass man genauso ist, wie alle anderen.“ Beides auf einmal, den modernen Individualismus als Aufbegehren gegen den Vater und zugleich den Gehorsam gegen ihn und damit die Tradition, kann man nicht haben – und doch scheint dies genau das zu sein, was in der Türkei und vielleicht nicht nur dort von den Männern verlangt wird. Wenn aber dieser archetypische Konflikt unter Männern nicht oder nur mit Gewalt zu lösen ist, welche Rolle spielen die Frauen?
Ebenso unweigerlich wie die Männer in die archetypischen Muster eintreten und darin gefangen bleiben, tritt Gülcihan, die titelgebende rothaarige Frau, in die Rolle der Iokaste ein, der Mutter, dann Frau des Ödipus. Sie, die Cem als Darstellerin des Varieté-Theaters in Öngören kennen lernt, ist nicht nur die Mutter von Enver, Frucht einer flüchtigen Liebesnacht mit dem halb so alten Brunnenbau-Lehrling Cem, sondern war auch die Geliebte von Cems Vater, der um ihretwillen die Familie verlassen hatte. Sie schläft überhaupt nur mit Cem, weil dieser sie an ihren ehemaligen Geliebten, den Vater, erinnert. Ihr rotes Haar steht dabei für die erotische wie für die politische Versuchung gleichermaßen. Die tragikomische Pointe lautet, dass das scheinbar unausweichliche Schicksal an nichts als diesem roten Haar hängt – das zudem noch gefärbt ist!
Wäre es nicht unglaublich leicht, einer solchen Fatalität zu entkommen? Der Leser muss dies denken; der Autor sagt es nicht. Wie Mahmut in der Tiefe der Brunnen die versteinerten Fische findet, sieht der Erzähler nur die mythische Wiederholung. Wir begreifen: Erdoğan ist der Sohn, welcher den laizistischen Staatsgründer in den Brunnen werfen möchte, Mustafa Kemal, genannt Atatürk, den „Vater der Türken“, der selbst nichts anderes versuchte, als die osmanische Geschichte zu entsorgen und dem nun von dem aus dem Brunnen gestiegen Wiedergänger der Geschichte dasselbe Schicksal bereitet wird.
Der Wiederholungszwang, den Pamuk uns vor Augen hält, kann zur Verzweiflung treiben – und löst beim Leser, gleichsam homöopathisch, eine Katharsis aus, weckt die Abwehrkräfte, nämlich das eindringliche Bedürfnis, gegen die schicksalhafte Verdammnis ein für allemal zu rebellieren. Die Parabel vom Brunnenbauer und der rothaarigen Frau, so eingängig und konventionell sie uns erzählt wird, lehrt das Aufbegehren und den Trotz, lehrt uns den Widerstand gegen die scheinbare Unausweichlichkeit und macht uns damit frei, im Bewusstsein von Zukunft und Vergangenheit, Himmel und Erde, Tradition und Moderne gleichermaßen die Verantwortung für unser Schicksal zu übernehmen.
Ist die Politik in der Türkei
das Resultat archetypischer
Verhaltensmuster?
Das rote Haar steht für
die Versuchung – erotisch
wie auch politisch
Tief versunken: Gläubige Muslimas mit ihren Smartphones vor der Blauen Moschee in Istanbul.
foto: Ozan Kose/AFP
Orhan Pamuk
Foto: Ozan Kose/AFP
Orhan Pamuk:
Die rothaarige Frau.
Roman. Aus dem
Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag,
München 2017.
285 Seiten, 22 Euro.
E-Book 16,99 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Orhan Pamuks neuer Roman „Die rothaarige Frau“ macht aus dem Konflikt zwischen
Tradition und Moderne eine Allegorie auf die politische Situation in der Türkei
VON STEFAN WEIDNER
Der Brunnen der Vergangenheit ist nicht nur tief, man kann auch hineinfallen oder hineingeworfen werden wie in einen echten Brunnen. Die Palette von Brunnenmetaphern, die Orhan Pamuk, der türkische Literaturnobelpreisträger des Jahres 2006, in seinem neuen Roman vor uns auffächert, beginnt mit der Frage des jungen Cem, „ob wir wohl recht daran taten, ins Innere der Erde zu streben statt zu den leuchtenden Sternen“. Und entpuppt sich als groß angelegter erzählerischer Versuch, die Fragerichtung umzukehren, also Zweifel daran zu säen, ob wir wirklich recht damit tun, (nur) zu den leuchtenden Sternen und in die Zukunft zu streben statt ins Innere der Erde, sprich, statt die Vergangenheit mit zu bedenken.
Mit der harschen Alternative in Gestalt dieser Frage scheint nämlich auch der Gegensatz zwischen Ost und West und zwischen Tradition und Moderne erfasst, zwei Polen, die ein wenig zu ausschließlich von den Ideologen der jeweiligen Kulturkreise für sich reklamiert werden. Unter der Unvermittelbarkeit dieser Pole, ihrem Entweder-Oder leiden die Protagonisten des Buchs ebenso wie die heutige Türkei.
Per aspera geht es nicht nur, wie man es im Westen gern hätte, ad astra, also zu den Sternen, sondern beträchtliche Mühen musste man in seligeren Zeiten auch dafür aufwenden, wenn man in die Tiefen der Erde vordringen wollte, und sei es nur auf der Suche nach dem Urelement des Lebens. „Alles, was lebt, haben wir aus Wasser gemacht“, heißt es in einem berühmten Koranvers, und aus dem Koran schöpft der Brunnenbaumeister Mahmut die Legenden, die er seinem Lehrling Cem erzählt. Der ist eigentlich ein Bücherwurm, der Sohn eines politisch links stehenden Apothekers und Aktivisten, der die Familie für die Politik und eine schöne, neue, rothaarige Geliebte vorzeitig verlassen hat, so dass Meister Mahmut, bei dem Cem ein bisschen Geld verdienen will, zum Vaterersatz werden kann.
Den Brunnen bauen sie 1985 in Öngören, einer fiktiven Garnisonsstadt vor den Toren Istanbuls, keine fünf Kilometer von Silivri entfernt, wo am Ende des Buchs, in unserer Gegenwart, das „größte Gefängnis nicht nur der Türkei, sondern von ganz Europa‘“ liegt, „wie auch die Wächter und die Gefängnisleitung nicht müde wurden zu betonen.“ Wenn es den Brunnenbauern gelingt, Wasser zu finden, winkt ihnen eine reiche Belohnung und den Menschen von Öngören Arbeit in der Textilfabrik, die dort errichtet werden soll.
30 Jahre später ist die Textilfabrik nach Bangladesch verlegt und das Grundstück von einer Immobilienfirma aufgekauft worden. Hochwertiger Wohnraum soll entstehen, eine neue Istanbuler Vorstadt, und um für das Projekt zu werben, ist der Besitzer der Firma nach Öngören zurückgekehrt. Es ist niemand anderes als Cem, der hier von seiner tatkräftig verdrängten Vergangenheit eingeholt wird wie die Türkei heute von ihrem verdrängten islamisch-osmanischen Erbe.
Orhan Pamuk hat auch, aber keineswegs nur einen politischen Roman geschrieben. Wenn die Geschichte augenscheinlich eine Parabel ist, dann so sehr über die Grundfragen der Existenz wie über die politischen Ereignisse in der Türkei heute. Die unausgesprochene Grundthese des Romans lautet, dass die politischen Ereignisse eine Folge archetypischer Verhaltensmuster sind, die sich in der Türkei nur stärker als anderswo materialisieren und offen auf der politische Bühne ausgetragen werden.
Fast beiläufig fällt gegen Ende des Romans das Wort über „die Kurden und die oppositionellen Journalisten, die nun die Zellen füllen, in denen früher putschende Militärs gesessen hatten“; während draußen die Immobilienhaie, die einen guten Draht zur Regierungspartei haben, die nötigen Tipps über die anstehenden Baufreigaben erhalten. Korruption? Gewiss. Auf ähnlich zwielichtige Weise machen ihre Renditen auch die deutschen Geschäftsleute, von denen wir erfahren, dass sie wenige Jahre zuvor, als Griechenland vor der Staatspleite stand, zahlreich in Athen anzutreffen waren, um sich die unter Wert angebotenen Immobilien zu sichern.
Es braucht keinen Autor, um diese Entwicklung zu bewerten; die Natur selbst spricht das Urteil. Die Wasserknappheit, nicht die oppositionellen Journalisten, die Kurden oder die putschenden Generäle werden dem Größenwahn der Regierenden die Grenzen aufzeigen. Die islamistische Postmoderne der AKP, darin gelehrige Schülerin des Neoliberalismus, zehrt vom Versprechen, auch ohne aspera ad astra gelangen zu können. Das Ergebnis ist eine Mentalität der Verantwortungslosigkeit, symbolisiert durch die neusten Flüche der Ingenieurswissenschaft, Bohrmaschinen, die es möglich machen, Grundwasser aus jeder Tiefe anzuzapfen.
Aufgrund des so möglich gemachten grenzenlosen städtischen Wachstums sinkt der Wasserspiegel immer weiter. Das Streben zu den Sternen überantwortet die Erde der Dürre. Ein Beruf wie der von Brunnenbaumeister Mahmut, der seinen Schacht noch mit der Hand ausheben musste, wird ein Fall für den Nostalgiker: also den Romancier.
Die überraschende Volte dieses hochkontrollierten, sich keinen Schlenker, kein Wort zu viel gestattenden Romans liegt nun darin, dass er den Antagonismus von Tradition und Moderne, von Ost und West, als Vater-Sohn Konflikt deutet. Als der Brunnenbaumeister Mahmut seinen Gehilfen, den späteren Immobilienhai Cem, dazu auffordert, zu den gemeinsamen Abenden unter freiem Himmel eine eigene Geschichte beizutragen, fällt diesem keine andere ein als die von Ödipus – welche Meister Mahmut, er scheint zu wissen warum, ganz und gar nicht gefällt. Intuitiv ahnt er, dass ihm dabei die Rolle von Ödipus‘ Vater und damit die des Opfers zu Teil wird. Einige Tage später sieht Cem in einem Varieté-Theater den orientalischen Gegenentwurf zum Ödipus-Mythos aufgeführt. Er stammt aus dem „Buch der Könige“ des persischen Nationaldichters Firdausi. Dort, im „Schahname“, ist es der Vater, Rostam, der größte Held der persischen Mythologie, der seinen Sohn Sohrab im Zweikampf nicht erkennt und mit Hilfe einer List umbringt.
Im Westen hingegen kann der Vater machen, was er will, der Sohn wird ihn umbringen, die Moderne obsiegen. Nach der Liebesnacht im Alkoholrausch lässt Cem den Meister, den er nach einem Unfall für tot hält, im Brunnen zurück und versucht fortan, sein Leben zu führen, als wäre nichts geschehen. Sein Verhalten ist das Sinnbild für eine alle Traditionen verachtende Moderne, die sich mit ihrem einseitigen Blick auf die Zukunft genau diese verbaut und die Vergangenheit wiederholen muss wie später Cem in seiner finalen Auseinandersetzung mit Enver am einst von Meister Mahmut gegrabenen Brunnen.
Enver, der Sohn von Cem, von dem dieser lange überhaupt nichts wusste, publiziert Gedichte in AKP-nahen Zeitschriften und erklärt seinem Vater seine orientalische Sicht: „Mit ihrem Individualismusfimmel sind unsere Eliten weder Individuen geworden noch sonst etwas Eigenständiges. Weil sie sich für etwas Besonderes halten, glauben sie nicht an Gott. Für sie ist das ein Beweis dafür, dass sie nicht sind, wie die anderen. Nur sagen sie das nicht so. Im Glauben dagegen steckt, dass man genauso ist, wie alle anderen.“ Beides auf einmal, den modernen Individualismus als Aufbegehren gegen den Vater und zugleich den Gehorsam gegen ihn und damit die Tradition, kann man nicht haben – und doch scheint dies genau das zu sein, was in der Türkei und vielleicht nicht nur dort von den Männern verlangt wird. Wenn aber dieser archetypische Konflikt unter Männern nicht oder nur mit Gewalt zu lösen ist, welche Rolle spielen die Frauen?
Ebenso unweigerlich wie die Männer in die archetypischen Muster eintreten und darin gefangen bleiben, tritt Gülcihan, die titelgebende rothaarige Frau, in die Rolle der Iokaste ein, der Mutter, dann Frau des Ödipus. Sie, die Cem als Darstellerin des Varieté-Theaters in Öngören kennen lernt, ist nicht nur die Mutter von Enver, Frucht einer flüchtigen Liebesnacht mit dem halb so alten Brunnenbau-Lehrling Cem, sondern war auch die Geliebte von Cems Vater, der um ihretwillen die Familie verlassen hatte. Sie schläft überhaupt nur mit Cem, weil dieser sie an ihren ehemaligen Geliebten, den Vater, erinnert. Ihr rotes Haar steht dabei für die erotische wie für die politische Versuchung gleichermaßen. Die tragikomische Pointe lautet, dass das scheinbar unausweichliche Schicksal an nichts als diesem roten Haar hängt – das zudem noch gefärbt ist!
Wäre es nicht unglaublich leicht, einer solchen Fatalität zu entkommen? Der Leser muss dies denken; der Autor sagt es nicht. Wie Mahmut in der Tiefe der Brunnen die versteinerten Fische findet, sieht der Erzähler nur die mythische Wiederholung. Wir begreifen: Erdoğan ist der Sohn, welcher den laizistischen Staatsgründer in den Brunnen werfen möchte, Mustafa Kemal, genannt Atatürk, den „Vater der Türken“, der selbst nichts anderes versuchte, als die osmanische Geschichte zu entsorgen und dem nun von dem aus dem Brunnen gestiegen Wiedergänger der Geschichte dasselbe Schicksal bereitet wird.
Der Wiederholungszwang, den Pamuk uns vor Augen hält, kann zur Verzweiflung treiben – und löst beim Leser, gleichsam homöopathisch, eine Katharsis aus, weckt die Abwehrkräfte, nämlich das eindringliche Bedürfnis, gegen die schicksalhafte Verdammnis ein für allemal zu rebellieren. Die Parabel vom Brunnenbauer und der rothaarigen Frau, so eingängig und konventionell sie uns erzählt wird, lehrt das Aufbegehren und den Trotz, lehrt uns den Widerstand gegen die scheinbare Unausweichlichkeit und macht uns damit frei, im Bewusstsein von Zukunft und Vergangenheit, Himmel und Erde, Tradition und Moderne gleichermaßen die Verantwortung für unser Schicksal zu übernehmen.
Ist die Politik in der Türkei
das Resultat archetypischer
Verhaltensmuster?
Das rote Haar steht für
die Versuchung – erotisch
wie auch politisch
Tief versunken: Gläubige Muslimas mit ihren Smartphones vor der Blauen Moschee in Istanbul.
foto: Ozan Kose/AFP
Orhan Pamuk
Foto: Ozan Kose/AFP
Orhan Pamuk:
Die rothaarige Frau.
Roman. Aus dem
Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag,
München 2017.
285 Seiten, 22 Euro.
E-Book 16,99 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Sterben die Väter vor den Söhnen?
Großes Legenden- und Moraltheater: Orhan Pamuks Roman "Die rothaarige Frau" kleidet die türkische Gegenwart in einen klassischen Konflikt.
Von Rose-Maria Gropp
Dieser Roman ist so dicht gewebt wie die Gewänder auf den Schultern der Menschen in einer antiken Tragödie. Orhan Pamuk, der 2006 den Literaturnobelpreis erhielt, hat ein Schicksalsbuch geschrieben, in dem jeder Satz an seiner genauen Stelle steht, kein Wort ist überflüssig. Alles vollzieht sich, wie in den großen Menschheitsepen, mit unausweichlicher Notwendigkeit.
Im Zentrum der Erzählung steht ein Brunnen, der Mitte der achtziger Jahre in Öngören, einer erfundenen Garnisonsstadt nahe Istanbul, gegraben wird, um Wasser für eine geplante Textilfabrik zu gewinnen. Nicht nur der Brunnen ist aufgeladen mit Bedeutung - jener notorischen Tiefe individueller wie kollektiver Vergangenheit, die auf Thomas Manns biblische Geschichte von "Joseph und seinen Brüdern" anspielt. Auch das Geschehen auf der Bühne eines Wandertheaters, das damals in Öngören gastiert, gerät zur Metapher für die Bestimmung des Einzelnen - vor dem Hintergrund archaischer Muster, die im Widerstreit der Generationen und Kulturen durchschlagen. Pamuks poetisch dichte Beschreibung lässt keinen Zweifel daran, dass er solche Kräfte besonders in der Türkei am Wirken sieht.
Die Geschichte beginnt vor drei Jahrzehnten, als der Gymnasiast Cem Çelik zum Brunnenbauer Mahmut nach Öngören kommt, um sich etwas Geld zu verdienen in den Ferien, vor allem aber, um der Mutter zu entkommen, die wie er selbst unter der ständigen Abwesenheit des Vaters leidet. Akin Çelik ist linker Aktivist, immer wieder verhaftet, außerdem betrügt er seine Frau. Mahmut ist für Cem nicht nur der Meister bei der harten Arbeit des Brunnengrabens, sondern er tritt auch in die Funktion des Vaters ein. Pamuk lässt den Meister sprechen: "Wenn du deinem Lehrling nicht vertrauen kannst, kannst du auch kein Brunnenbauer werden. Man muss absolut sicher sein, dass der Junge da droben alles richtig und zur rechten Zeit macht, nur dann kann man ihn vergessen und sich auf seine Arbeit konzentrieren." Der väterliche Meister schwört den Lehrling an Sohnes Statt auf ein Herrschaftsverhältnis ein, das bis in die tiefsten Schichten zementiert werden muss - buchstäblich im Ausgießen des Brunnenschachts mit Beton. Nur so scheint die Stabilität der patriarchalischen Ordnung gewährleistet zu sein.
Eines Tages kontert der Lehrling die Belehrungen des Meisters, "auf einmal hatte ich Lust, ihm eine verstörende Geschichte zu erzählen". Cem erzählt von Ödipus, dem Vatertöter und Muttergatten, der seiner Wahrsagung nicht entkommen konnte. Dem Meister gefällt die Geschichte nicht. Doch von nun an steht Sophokles' Drama im Raum, und von hier aus eröffnet Pamuk das Feld für das unabwendbare Geschick, in dessen lange geheimem Zentrum die rothaarige Frau steht. Sie wird das Geschehen - unwillentlich willentlich - durch ihr Handeln zur Katastrophe treiben. So war sie es, die Gülcihan heißt, die im umherziehenden "Legenden- und Moraltheater" ihre tränentreibenden Monologe improvisierte und das Begehren des jungen Cem erweckte. Zugleich lernt er in dem poveren Varieté die Inversion des Ödipus-Mythos kennen: Im "Schahname" des persischen Nationaldichters Firdausi steht vor tausend Jahren die Geschichte vom Vater Rostam, der seinen Sohn Sohrab im Zweikampf tötet, weil er ihn nicht erkennt.
Cem schläft mit der rothaarigen Frau, die verheiratet ist und seine Mutter sein könnte und früher die Geliebte seines Vaters Akin war. Dass ihre Haare rot gefärbt sind, ist ein schon witziger Hinweis auf die Frage nach der Echtheit ihrer Gesinnung, vielleicht ihres Charakters. Der einen Vereinigung entspringt ein Sohn, Enver, von dem Cem dreißig Jahre lang nichts weiß; einmal benennt die rothaarige Frau den Kern des magischen Denkens: "Was in den alten Märchen und Legenden steht, kann einem auch selbst passieren. Und je öfter man es liest und je mehr man an die Legenden glaubt, umso eher geschieht dies auch. Man nennt ja eine Geschichte auch deswegen Legende, weil sie einem selber zustoßen wird."
Wie in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung spricht die rothaarige Frau als Iokaste; Pamuk macht sie zur Wiedergängerin der Muttergeliebten des Ödipus. Auch ihr Sohn Enver wird seinem Schicksal nicht entgehen; sie selbst wird ihn aufgefordert haben, seinem Vater Cem gegenüberzutreten. Dieser war nach der trunkenen Nacht mit ihr überstürzt aus Öngören geflohen, weg von seinem väterlichen Meister in dem lebenslangen Glauben, an ihm tödlich schuldig geworden zu sein. So sieht die Präsenz des Mythos in der Gegenwart aus, wenn sie aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit aufsteigt.
Es kommt zum Showdown am alten Brunnen zwischen Enver und Cem. "Wenn ich dir so richtig böse bin", sagt Enver zum Vater, "möchte ich dich am liebsten blenden"; wie es Ödipus sich selbst antat, als er die Wahrheit erkannte. Denn das "Unerträgliche an einem Vater ist ja, dass er einen ständig sieht". Schon am Anfang klingt das Motiv der väterlichen Blindheit an, als Meister Mahmut seinem Lehrling die biblische Geschichte von Joseph erzählt: "Ein ungerechter Vater macht seinen Sprössling blind."
Von was auch immer geblendet, steigt Cem vom Lehrling beim beschwerlichen Werk des Brunnenbaus zum erfolgreichen Bauunternehmer auf. Der Meister als Vater bleibt auf der Strecke. Cems Sohn, dessen Großvater sich noch für linke Ideale einsperren ließ und dessen Mutter als türkische Frau die Libertinage kennt, fühlt sich zur Autorität der rechten AKP hingezogen. Es ist offenbar, dass die geforderte Anerkennung des Vaters in schärfstem Widerspruch zur Freisetzung des Sohnes steht. Ödipus oder Sohrab? Der Konflikt wird unendlich sein.
Orhan Pamuk erschafft eine Parabel, er überprüft die Conditio humana in ihrer Verschränkung mit der Kultur. Gleichnishaft setzt er Freuds Diktum von der "Wiederkehr des Verdrängten" in sein Recht. Denn das Verdrängte kommt nicht als ein selbes zurück, sondern in Verkleidungen. Genauso setzt sich der Mythos nicht in unverwandelter Form durch. Doch er insistiert - in jedem Einzelnen wie in der Historie. Er wird Ereignis, er kann zeugen und kann töten. Pamuk verleiht dem archaischen Prinzip eine bezwingende Gestalt.
Orhan Pamuk: "Die rothaarige Frau". Roman.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2017. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Großes Legenden- und Moraltheater: Orhan Pamuks Roman "Die rothaarige Frau" kleidet die türkische Gegenwart in einen klassischen Konflikt.
Von Rose-Maria Gropp
Dieser Roman ist so dicht gewebt wie die Gewänder auf den Schultern der Menschen in einer antiken Tragödie. Orhan Pamuk, der 2006 den Literaturnobelpreis erhielt, hat ein Schicksalsbuch geschrieben, in dem jeder Satz an seiner genauen Stelle steht, kein Wort ist überflüssig. Alles vollzieht sich, wie in den großen Menschheitsepen, mit unausweichlicher Notwendigkeit.
Im Zentrum der Erzählung steht ein Brunnen, der Mitte der achtziger Jahre in Öngören, einer erfundenen Garnisonsstadt nahe Istanbul, gegraben wird, um Wasser für eine geplante Textilfabrik zu gewinnen. Nicht nur der Brunnen ist aufgeladen mit Bedeutung - jener notorischen Tiefe individueller wie kollektiver Vergangenheit, die auf Thomas Manns biblische Geschichte von "Joseph und seinen Brüdern" anspielt. Auch das Geschehen auf der Bühne eines Wandertheaters, das damals in Öngören gastiert, gerät zur Metapher für die Bestimmung des Einzelnen - vor dem Hintergrund archaischer Muster, die im Widerstreit der Generationen und Kulturen durchschlagen. Pamuks poetisch dichte Beschreibung lässt keinen Zweifel daran, dass er solche Kräfte besonders in der Türkei am Wirken sieht.
Die Geschichte beginnt vor drei Jahrzehnten, als der Gymnasiast Cem Çelik zum Brunnenbauer Mahmut nach Öngören kommt, um sich etwas Geld zu verdienen in den Ferien, vor allem aber, um der Mutter zu entkommen, die wie er selbst unter der ständigen Abwesenheit des Vaters leidet. Akin Çelik ist linker Aktivist, immer wieder verhaftet, außerdem betrügt er seine Frau. Mahmut ist für Cem nicht nur der Meister bei der harten Arbeit des Brunnengrabens, sondern er tritt auch in die Funktion des Vaters ein. Pamuk lässt den Meister sprechen: "Wenn du deinem Lehrling nicht vertrauen kannst, kannst du auch kein Brunnenbauer werden. Man muss absolut sicher sein, dass der Junge da droben alles richtig und zur rechten Zeit macht, nur dann kann man ihn vergessen und sich auf seine Arbeit konzentrieren." Der väterliche Meister schwört den Lehrling an Sohnes Statt auf ein Herrschaftsverhältnis ein, das bis in die tiefsten Schichten zementiert werden muss - buchstäblich im Ausgießen des Brunnenschachts mit Beton. Nur so scheint die Stabilität der patriarchalischen Ordnung gewährleistet zu sein.
Eines Tages kontert der Lehrling die Belehrungen des Meisters, "auf einmal hatte ich Lust, ihm eine verstörende Geschichte zu erzählen". Cem erzählt von Ödipus, dem Vatertöter und Muttergatten, der seiner Wahrsagung nicht entkommen konnte. Dem Meister gefällt die Geschichte nicht. Doch von nun an steht Sophokles' Drama im Raum, und von hier aus eröffnet Pamuk das Feld für das unabwendbare Geschick, in dessen lange geheimem Zentrum die rothaarige Frau steht. Sie wird das Geschehen - unwillentlich willentlich - durch ihr Handeln zur Katastrophe treiben. So war sie es, die Gülcihan heißt, die im umherziehenden "Legenden- und Moraltheater" ihre tränentreibenden Monologe improvisierte und das Begehren des jungen Cem erweckte. Zugleich lernt er in dem poveren Varieté die Inversion des Ödipus-Mythos kennen: Im "Schahname" des persischen Nationaldichters Firdausi steht vor tausend Jahren die Geschichte vom Vater Rostam, der seinen Sohn Sohrab im Zweikampf tötet, weil er ihn nicht erkennt.
Cem schläft mit der rothaarigen Frau, die verheiratet ist und seine Mutter sein könnte und früher die Geliebte seines Vaters Akin war. Dass ihre Haare rot gefärbt sind, ist ein schon witziger Hinweis auf die Frage nach der Echtheit ihrer Gesinnung, vielleicht ihres Charakters. Der einen Vereinigung entspringt ein Sohn, Enver, von dem Cem dreißig Jahre lang nichts weiß; einmal benennt die rothaarige Frau den Kern des magischen Denkens: "Was in den alten Märchen und Legenden steht, kann einem auch selbst passieren. Und je öfter man es liest und je mehr man an die Legenden glaubt, umso eher geschieht dies auch. Man nennt ja eine Geschichte auch deswegen Legende, weil sie einem selber zustoßen wird."
Wie in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung spricht die rothaarige Frau als Iokaste; Pamuk macht sie zur Wiedergängerin der Muttergeliebten des Ödipus. Auch ihr Sohn Enver wird seinem Schicksal nicht entgehen; sie selbst wird ihn aufgefordert haben, seinem Vater Cem gegenüberzutreten. Dieser war nach der trunkenen Nacht mit ihr überstürzt aus Öngören geflohen, weg von seinem väterlichen Meister in dem lebenslangen Glauben, an ihm tödlich schuldig geworden zu sein. So sieht die Präsenz des Mythos in der Gegenwart aus, wenn sie aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit aufsteigt.
Es kommt zum Showdown am alten Brunnen zwischen Enver und Cem. "Wenn ich dir so richtig böse bin", sagt Enver zum Vater, "möchte ich dich am liebsten blenden"; wie es Ödipus sich selbst antat, als er die Wahrheit erkannte. Denn das "Unerträgliche an einem Vater ist ja, dass er einen ständig sieht". Schon am Anfang klingt das Motiv der väterlichen Blindheit an, als Meister Mahmut seinem Lehrling die biblische Geschichte von Joseph erzählt: "Ein ungerechter Vater macht seinen Sprössling blind."
Von was auch immer geblendet, steigt Cem vom Lehrling beim beschwerlichen Werk des Brunnenbaus zum erfolgreichen Bauunternehmer auf. Der Meister als Vater bleibt auf der Strecke. Cems Sohn, dessen Großvater sich noch für linke Ideale einsperren ließ und dessen Mutter als türkische Frau die Libertinage kennt, fühlt sich zur Autorität der rechten AKP hingezogen. Es ist offenbar, dass die geforderte Anerkennung des Vaters in schärfstem Widerspruch zur Freisetzung des Sohnes steht. Ödipus oder Sohrab? Der Konflikt wird unendlich sein.
Orhan Pamuk erschafft eine Parabel, er überprüft die Conditio humana in ihrer Verschränkung mit der Kultur. Gleichnishaft setzt er Freuds Diktum von der "Wiederkehr des Verdrängten" in sein Recht. Denn das Verdrängte kommt nicht als ein selbes zurück, sondern in Verkleidungen. Genauso setzt sich der Mythos nicht in unverwandelter Form durch. Doch er insistiert - in jedem Einzelnen wie in der Historie. Er wird Ereignis, er kann zeugen und kann töten. Pamuk verleiht dem archaischen Prinzip eine bezwingende Gestalt.
Orhan Pamuk: "Die rothaarige Frau". Roman.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2017. 288 S., geb., 22,- [Euro].
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"Konstruiert wie ein mytisches Verhängnis, beschreibt Orhan Pamuk die Bruchstellen der türkischen Gesellschaft : den Wunsch nach dem starken Mann, nach Gehorsam und Führung, die Verdrängung historischer Schuld, das Wuchern der Städte, die Ausbeutung der Natur, der Verlust politischer Bandbreite ... Dass er auf die Verhängnisstruktur des Mythos zurückgreift, um Fragen von Schuld, Schicksal, Staat, Familie, und Moral zu diskutieren, macht seinen Roman literarisch ergiebig." Meike Feßmann, Der Tagesspiegel, 12.10.17
"Eine politisch brisante Vater-Sohn-Tragödie ... Raffiniert oszilliert dieser Roman über Väter und Söhne zwischen Wirklichkeit und Legende, spiegelt Figuren, Epochen, Kulturen." Susanne Schanda, Neue Zürcher Zeitung, 24.09.17
"Dieser Roman ist so dicht gewebt wie die Gewänder auf den Schultern der Menschen in einer antiken Tragödie. Orhan Pamuk hat ein Schicksalsbuch geschrieben, in dem jeder Satz an seiner genauen Stelle steht, kein Wort ist überflüssig." Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.17
"Mithilfe von Legendenschreibung hat der Schriftsteller eine Geschichte wie ein Gleichnis verfasst, die nun in der wie immer sehr klaren und eingängigen Übersetzung von Gerhard Meier vorliegt. Aufrichtig und märchenhaft wollte der Schriftsteller sein Buch erzählen, hieß es gegen Ende erklärend, authentisch und ehrlich, zugleich aber auch wohlbekannt wie eine Legende." Stefan Berkholz, SWR2, 02.10.17
"Die ganz hohe Kunst besteht bei Orhan Pamuk darin, dass seine Geschichten, obwohl sie ausgeklügelt sind, allesamt so anmuten, als habe er sie am eigenen Leib erfahren. Das zeugt von absoluter Weltklasse." Ulf Heise, MDR Kultur, 26.09.17
"Der türkische Nobelpreisträger schafft aus dem Erbe zweier alter Mythen einen Roman, dessen Dreh- und Angelpunkt eine moderne Frau ist - eine Außenseiterin, die frei und lustvoll lebt und provokativ ihre rot gefärbten Haare wie ein Warnung auf dem Kopf trägt. Diese Figur weist den Weg aus dem sinnlosen Kreislauf der Zerstörung ... In der patriarchal strukturierten türkischen Gesellschaft mit dem Präsidenten als autoritärem Übervater darf 'Die rothaarige Frau' durchaus als politische Parabel gelesen werden." Susanne Schanda, Neue Zürcher Zeitung, 24.09.17
"Die Parabel vom Brunnenbauer und der rothaarigen Frau lehrt das Aufbegehren und den Trotz, lehrt uns den Widerstand gegen die scheinbare Unausweichlichkeit und macht uns damit frei, die Verantwortung für unser Schicksal zu übernehmen." Stefan Weidner, Süddeutsche Zeitung, 23.09.17
"Eine politisch brisante Vater-Sohn-Tragödie ... Raffiniert oszilliert dieser Roman über Väter und Söhne zwischen Wirklichkeit und Legende, spiegelt Figuren, Epochen, Kulturen." Susanne Schanda, Neue Zürcher Zeitung, 24.09.17
"Dieser Roman ist so dicht gewebt wie die Gewänder auf den Schultern der Menschen in einer antiken Tragödie. Orhan Pamuk hat ein Schicksalsbuch geschrieben, in dem jeder Satz an seiner genauen Stelle steht, kein Wort ist überflüssig." Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.17
"Mithilfe von Legendenschreibung hat der Schriftsteller eine Geschichte wie ein Gleichnis verfasst, die nun in der wie immer sehr klaren und eingängigen Übersetzung von Gerhard Meier vorliegt. Aufrichtig und märchenhaft wollte der Schriftsteller sein Buch erzählen, hieß es gegen Ende erklärend, authentisch und ehrlich, zugleich aber auch wohlbekannt wie eine Legende." Stefan Berkholz, SWR2, 02.10.17
"Die ganz hohe Kunst besteht bei Orhan Pamuk darin, dass seine Geschichten, obwohl sie ausgeklügelt sind, allesamt so anmuten, als habe er sie am eigenen Leib erfahren. Das zeugt von absoluter Weltklasse." Ulf Heise, MDR Kultur, 26.09.17
"Der türkische Nobelpreisträger schafft aus dem Erbe zweier alter Mythen einen Roman, dessen Dreh- und Angelpunkt eine moderne Frau ist - eine Außenseiterin, die frei und lustvoll lebt und provokativ ihre rot gefärbten Haare wie ein Warnung auf dem Kopf trägt. Diese Figur weist den Weg aus dem sinnlosen Kreislauf der Zerstörung ... In der patriarchal strukturierten türkischen Gesellschaft mit dem Präsidenten als autoritärem Übervater darf 'Die rothaarige Frau' durchaus als politische Parabel gelesen werden." Susanne Schanda, Neue Zürcher Zeitung, 24.09.17
"Die Parabel vom Brunnenbauer und der rothaarigen Frau lehrt das Aufbegehren und den Trotz, lehrt uns den Widerstand gegen die scheinbare Unausweichlichkeit und macht uns damit frei, die Verantwortung für unser Schicksal zu übernehmen." Stefan Weidner, Süddeutsche Zeitung, 23.09.17