Kindheit in Karl-Marx-Stadt, konforme Jugend in der DDR, Zusammenbruch des Sozialismus - zuletzt: was von ihm übrig bleibt. Jan Kuhlbrodt erschreibt sich diese Rückkehr. Anhand von Büchern, die immer neu sortiert sein wollen, dem Blick ins Internet und aus dem Fenster entsteht ein Gedicht - eine Geschichte, die Geschichte, die immer auch unsere Geschichte ist. Geschrieben wird sie von Menschen, bewohnt von Tieren: Ausgestorben geglaubt kehren Wolf und Luchs zurück, während Waschbär und Nutria aus verlassenen Pelzfarmen entfliehen. Das Gedächtnis wird zu Schlieren, die Guppys in ihrem Aquarium an die Decke werfen: Es ist da, aber nicht ganz verstehbar. Ein Loch, durch das die Zeit rieselt, durch das Kosmonauten die Sphäre verlassen, zum Punkt, an dem die Gesetze der Geschichte brechen. "Die Rückkehr der Tiere" ist keine Nostalgie, es ist ein völlig neuer Blick auf die Nahtstellen der Geschichte, die Kuhlbrodt in seinen Artenkosmos einschreibt.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Tobias Lehmkuhl hält Jan Kuhlbrodts Buch für das überraschendste zum Thema Wiedervereinigung in diesem Jahr. Wie der Autor darin eben nicht vom Aufbegehren berichtet, sondern vom Stasi-Opa und der eigenen NVA-Geschichte, findet Lehmkuhl ungewöhnlich. Auch die Anlage des Buches ohne Zentrum, als Sammlung von Prosasplittern, Eindrücken einer DDR-Kindheit und -Jugend, verbunden allenfalls durch das Tiermotiv (von den Guppys im Kinderaquarium bis zum Elefanten-gleichen Herumstapfen als Rekrut), scheint Lehmkuhl originell.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.10.2020Das Zweitaktergeräusch verliert sich im Luftstrom
„Die Rückkehr der Tiere“: Jan Kuhlbrodt verknüpft in seinen Prosagedichten mühelos intensiv-flapsige Erzählstücke mit philosophischen Reflexionen
Nach der Wende erlebte die DDR-Industrie einen gewaltigen Niedergang. Zugleich wurden fast fünf Prozent des damaligen Staatsgebiets der DDR unter Naturschutz gestellt. Nationalparks, Biosphärenreservate und Naturparks lockten nicht nur Besucher an, plötzlich waren wieder Tiere da, die man jahrzehntelang nicht gesehen hatte: Luchse in den Wäldern oder Seeadler über dem Greifswalder Bodden.
Ein knappes Jahr, bevor die Schutzgebietsverordnungen als Teil des Einigungsvertrags in Kraft treten, zuckelt Jan Kuhlbrodts Erzähler zusammen mit seinem Freund Thilo im Trabbi von Karl-Marx-Stadt aus über Plauen nach Nürnberg. In Bayern gibt es ein eigenes Begrüßungsgeld, einen „Fuffi in West“, der zusätzlich zu den hundert Mark des Bundes ausgezahlt wird: „Anfangs putzte ich die Frontscheibe alle paar Kilometer mit meinem Handschuh frei, dann ließen wir die Fenster einfach offen, setzten unsere Mützen auf. Es war ein arschkalter Dezember. Auch im Auto war es arschkalt. Bei offenem Fenster hatten wir die Heizung voll aufgedreht. Das Zweitaktergeräusch verlor sich im Luftstrom, der die Fenster knattern ließ.“
Was hier so rotzig im Ton daherkommt, ist der Auftakt zu einem wundersamen Buch, das auf den ersten Blick aus nichts als Textsplittern zu bestehen scheint. Ein Buch über die Wende, ein Buch über Wörter, vor allem aber ein Buch über das Erinnern und Erzählen, über die Bilder und roten Fäden, die wir immer schon durch unsere Vorstellungen ziehen. So wie der Erzähler, der mit seinem Erfinder Jan Kuhlbrodt zahllose Gemeinsamkeiten teilt, die Bücherstapel in seiner Wohnung Mal um Mal umschichtet, verschieben sich auch die Erinnerungsmomente fortwährend.
Die titelgebenden Tiere sind dabei nicht nur zurückgekehrte Naturwesen oder Begleiter eines Heranwachsenden im Plattenbau. Vielmehr leiten sie auch die Wahrnehmung des Schreibenden, werden zu Sprachtieren, die als Motive die kleinen Textwürfel verbinden, mal lose zusammenhalten, mal in Spannung zueinander setzen. Hier zwitschern Vögel über die Seiten. Dort taucht ein Hund auf, wird später wieder erwähnt, manchmal nur wie nebenbei beim Gassigehen beobachtet. Und doch ist er in seiner Unfähigkeit, die Höhe von Hindernissen richtig einzuschätzen, ein Bild für die bewusst gesetzten Unschärfemomente des Erinnerns und Schreibens.
Mitunter erinnern diese Konstellationen aus Erzählsplittern und Vignetten an die Denkbilder Walter Benjamins. Kuhlbrodt schafft durch gezielte Verschiebungen und Verwischungen ganz eigentümliche Figurationen, ein Verfahren, das einer Technik beziehungsweise ironisch erwähnten Nicht-Technik des fotografierenden Erzählers gleicht: „Es gelang mir nie, beim Entwickeln den richtigen Punkt zu erwischen, an dem ich das Fotopapier aus der Flüssigkeit zog.“ Gedichte, wie der Untertitel behauptet, sind diese Texte vielleicht allenfalls im Sinne von Baudelaires „Kleinen Gedichten in Prosa“. Eine eigene, sehr bewegliche Form ohne strengen Rhythmus, die laut Baudelaire dazu in der Lage ist, sich dem nervösen Bewusstsein der Moderne und den Schwingungen der industrialisierten Welt anzuschmiegen.
Und so gelingt es Jan Kuhlbrodt mühelos, intensiv-flapsige Erzählstücke mit philosophischen Reflexionen zu verknüpfen, atmosphärische Sätze zu Gerüchen oder Stoffen mit Bonmots über das Schreiben („Show, don’t tell.“). Dabei versucht er, die Bruchstücke einer individuellen Biografie mit den vermeintlich exemplarischen Hülsen einer DDR-Lebensgeschichte abzugleichen. Er zeigt, wie Geschichtsverläufe immer konstruiert und simuliert sind, es mögen die Erzählungen des eigenen Lebens sein oder Ideen wie die einer harmoni-schen Wiedervereinigung. Nicht, indem er es einfach nur sagt oder gar behauptet, sondern indem er es in der Form seiner Texte reflektiert. Das macht Größe und Kraft dieses kleinen Buches aus.
NICO BLEUTGE
Jan Kuhlbrodt: Die Rückkehr der Tiere. Gedichte. Mit Zeichnungen von Klaus Walter. Verlagshaus Berlin, Berlin 2020. 177 Seiten, 17,90 Euro.
„Es gelang mir nie,
beim Entwickeln den richtigen
Punkt zu erwischen“
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„Die Rückkehr der Tiere“: Jan Kuhlbrodt verknüpft in seinen Prosagedichten mühelos intensiv-flapsige Erzählstücke mit philosophischen Reflexionen
Nach der Wende erlebte die DDR-Industrie einen gewaltigen Niedergang. Zugleich wurden fast fünf Prozent des damaligen Staatsgebiets der DDR unter Naturschutz gestellt. Nationalparks, Biosphärenreservate und Naturparks lockten nicht nur Besucher an, plötzlich waren wieder Tiere da, die man jahrzehntelang nicht gesehen hatte: Luchse in den Wäldern oder Seeadler über dem Greifswalder Bodden.
Ein knappes Jahr, bevor die Schutzgebietsverordnungen als Teil des Einigungsvertrags in Kraft treten, zuckelt Jan Kuhlbrodts Erzähler zusammen mit seinem Freund Thilo im Trabbi von Karl-Marx-Stadt aus über Plauen nach Nürnberg. In Bayern gibt es ein eigenes Begrüßungsgeld, einen „Fuffi in West“, der zusätzlich zu den hundert Mark des Bundes ausgezahlt wird: „Anfangs putzte ich die Frontscheibe alle paar Kilometer mit meinem Handschuh frei, dann ließen wir die Fenster einfach offen, setzten unsere Mützen auf. Es war ein arschkalter Dezember. Auch im Auto war es arschkalt. Bei offenem Fenster hatten wir die Heizung voll aufgedreht. Das Zweitaktergeräusch verlor sich im Luftstrom, der die Fenster knattern ließ.“
Was hier so rotzig im Ton daherkommt, ist der Auftakt zu einem wundersamen Buch, das auf den ersten Blick aus nichts als Textsplittern zu bestehen scheint. Ein Buch über die Wende, ein Buch über Wörter, vor allem aber ein Buch über das Erinnern und Erzählen, über die Bilder und roten Fäden, die wir immer schon durch unsere Vorstellungen ziehen. So wie der Erzähler, der mit seinem Erfinder Jan Kuhlbrodt zahllose Gemeinsamkeiten teilt, die Bücherstapel in seiner Wohnung Mal um Mal umschichtet, verschieben sich auch die Erinnerungsmomente fortwährend.
Die titelgebenden Tiere sind dabei nicht nur zurückgekehrte Naturwesen oder Begleiter eines Heranwachsenden im Plattenbau. Vielmehr leiten sie auch die Wahrnehmung des Schreibenden, werden zu Sprachtieren, die als Motive die kleinen Textwürfel verbinden, mal lose zusammenhalten, mal in Spannung zueinander setzen. Hier zwitschern Vögel über die Seiten. Dort taucht ein Hund auf, wird später wieder erwähnt, manchmal nur wie nebenbei beim Gassigehen beobachtet. Und doch ist er in seiner Unfähigkeit, die Höhe von Hindernissen richtig einzuschätzen, ein Bild für die bewusst gesetzten Unschärfemomente des Erinnerns und Schreibens.
Mitunter erinnern diese Konstellationen aus Erzählsplittern und Vignetten an die Denkbilder Walter Benjamins. Kuhlbrodt schafft durch gezielte Verschiebungen und Verwischungen ganz eigentümliche Figurationen, ein Verfahren, das einer Technik beziehungsweise ironisch erwähnten Nicht-Technik des fotografierenden Erzählers gleicht: „Es gelang mir nie, beim Entwickeln den richtigen Punkt zu erwischen, an dem ich das Fotopapier aus der Flüssigkeit zog.“ Gedichte, wie der Untertitel behauptet, sind diese Texte vielleicht allenfalls im Sinne von Baudelaires „Kleinen Gedichten in Prosa“. Eine eigene, sehr bewegliche Form ohne strengen Rhythmus, die laut Baudelaire dazu in der Lage ist, sich dem nervösen Bewusstsein der Moderne und den Schwingungen der industrialisierten Welt anzuschmiegen.
Und so gelingt es Jan Kuhlbrodt mühelos, intensiv-flapsige Erzählstücke mit philosophischen Reflexionen zu verknüpfen, atmosphärische Sätze zu Gerüchen oder Stoffen mit Bonmots über das Schreiben („Show, don’t tell.“). Dabei versucht er, die Bruchstücke einer individuellen Biografie mit den vermeintlich exemplarischen Hülsen einer DDR-Lebensgeschichte abzugleichen. Er zeigt, wie Geschichtsverläufe immer konstruiert und simuliert sind, es mögen die Erzählungen des eigenen Lebens sein oder Ideen wie die einer harmoni-schen Wiedervereinigung. Nicht, indem er es einfach nur sagt oder gar behauptet, sondern indem er es in der Form seiner Texte reflektiert. Das macht Größe und Kraft dieses kleinen Buches aus.
NICO BLEUTGE
Jan Kuhlbrodt: Die Rückkehr der Tiere. Gedichte. Mit Zeichnungen von Klaus Walter. Verlagshaus Berlin, Berlin 2020. 177 Seiten, 17,90 Euro.
„Es gelang mir nie,
beim Entwickeln den richtigen
Punkt zu erwischen“
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