Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis und dem Geschwister-Scholl-Preis 2017
Hisham Matar wuchs als Kind in Libyen auf, doch die Diktatur unter Gaddafi hat seine Familie früh zerstört. Er selbst lebt seit langem in England, sein Vater wurde in das berüchtigtste Gefängnis von Libyen verschleppt. In dem kurzen Zeitfenster nach Gaddafis Sturz und vor dem neuen Bürgerkrieg kehrt Hisham Matar in seine Heimat zurück, um endlich vor Ort nach seinem Vater zu suchen. Sein Buch ist ein bewegendes Dokument.
Hisham Matar wuchs als Kind in Libyen auf, doch die Diktatur unter Gaddafi hat seine Familie früh zerstört. Er selbst lebt seit langem in England, sein Vater wurde in das berüchtigtste Gefängnis von Libyen verschleppt. In dem kurzen Zeitfenster nach Gaddafis Sturz und vor dem neuen Bürgerkrieg kehrt Hisham Matar in seine Heimat zurück, um endlich vor Ort nach seinem Vater zu suchen. Sein Buch ist ein bewegendes Dokument.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2017In jeder Zelle war der Diktator zu hören
Preisgekrönt: Hisham Matars Nachforschungen über seinen in Gaddafis Kerker verschwundenen Vater
Hisham Matar war neunzehn Jahre alt, als sein Vater, ein in Libyen bekannter Oppositioneller, aus Kairo entführt wurde. Sechs Jahre lang hörte die Familie nichts von ihm. Erst im Frühjahr 1996 erreichte sie ein Brief, ein zu einem winzigen Quadrat gefaltetes Papier, überbracht von einem Boten, der aus Furcht vor ungebetenen Zuhörern im Wohnzimmer die Musik aufdrehte, bevor er das Schreiben überreichte. Es bestätigte, was sich Hisham Matar bis dahin zu denken geweigert hatte: Jaballa Matar saß in Abu Salim, dem berüchtigten Kerker des Regimes in Tripolis.
Es war, so schreibt Hisham Matar in seinem mit dem Pulitzerpreis und gerade erst mit dem englischen Folio-Preis ausgezeichneten Buch, nicht ungewöhnlich, dass libysche Oppositionelle auch im Ausland von Gaddafis Schergen entführt oder ermordet wurden. Aber das Wissen um diese Gefahr, das den Vater immerhin veranlasst hatte, häufig eine Waffe bei sich zu tragen und die Unterseiten seiner Autos nach Bomben abzusuchen, hatte ihn weder vor ihr bewahrt, noch dürfte es ihn auf sein Schicksal vorbereitet haben. Das gilt auch für die Zurückgebliebenen. Von dem Moment an, in dem sein Vater verschwand, stand das Leben von Hisham Matar im Zeichen von dessen Abwesenheit. Sie führte ihn eines Tages in Paris an die Ufer der Seine, deren dunklem Rauschen er nur knapp widerstand, und nährte über die Jahre ein zur Obsession mutierendes Bemühen, so viele Informationen wie möglich zu sammeln, um Gewissheit zu erlangen.
Dieser Wunsch spricht aus jeder Seite seines Buches. Hisham Matar sucht nach Spuren und liest in allem - in Gesten und Gesichtern, auf Fotos und Gemälden, an Häuserfassaden und Kirchenportalen, in Geschichte und Gegenwart. Allerdings, und darin gründet die ungeheure Spannung seines Buches, von der ausnahmsweise nichts verlorengeht, wenn man verrät, dass Matars Suche vergebens ist, allerdings ergeben diese Spuren und Zeichen nie ein vollständiges Bild, sondern bleiben immer Fragmente einer Geschichte, die kein Ende hat und keiner Logik folgt.
In den Mittelpunkt seines Buches stellt Matar eine Reise, die ihn im März 2012 nach Benghasi zurückführte. Jahrzehnte hatte er im Exil verbracht und nie gewusst, ob er wieder zurückkehren könnte, dann aber genau jene kurze Zeitspanne erwischt, in der nach Gaddafis Sturz tatsächlich ein Hauch von Hoffnung in der Luft lag. Er traf Verwandte wieder, die er mehr als dreißig Jahre nicht gesehen hatte. Seinen Cousin, den Juristen Marwan, beispielsweise, der mit anderen Richtern und Anwälten gerade versucht, rechtsstaatliche Strukturen aufzubauen, um die künftige Gerichtsbarkeit von Libyen vor politischer Einflussnahme zu schützen. Und seinen Onkel Mahmud, der gemeinsam mit seinem Vater sowie drei weiteren Verwandten ins Gefängnis nach Abu Salim verschleppt worden war und erst freikam, als Gaddafi 2011 vergeblich versuchte, mit der Freilassung einzelner politischer Gefangener, die Gemüter im Land zu beruhigen.
Die Begegnung mit seinem Onkel Mahmud ist eine, die Hisham Matar gleichermaßen sucht und fürchtet. Denn Mahmud hat mit dem Vater lange in demselben Gefängnis gesessen und kennt das Leiden der Gefangenen. Matar aber hört nicht nur zu, wenn Mahmud davon erzählt, von den endlosen Stunden, in denen die Gefangenen aus Lautsprechern in jeder Zelle mit den Volksreden von Gaddafi beschallt wurden, in einer Lautstärke, die die Plastikflaschen auf dem Boden hüpfen ließ. Er sieht das Leid auch und erweist sich als ebenso begnadeter Beobachter wie Erzähler, wenn er seinen Onkel etwa beim Gang zum Gebet mit den Worten beschreibt: "Seine Haltung dabei, seine schlanke Gestalt und die jungenhafte Agilität seiner Bewegungen, schien wie eine Auflehnung gegen die Auslöschung - ein Zeichen seines individuellen Charakters und zugleich Teil des alten menschlichen Kampfes gegen die Sterblichkeit. Es brachte eine Distanz zwischen ihn und die Welt, die wie der Fächer, den das Netz eines Fischers auf der Wasseroberfläche hinterlässt, nur kurz zu erkennen war."
Diese kurzen, oft messerscharfen Porträts reiht Matar an Gedanken über das Exil und die Heimat, an Episoden aus der Geschichte Libyens, Rückblenden in seine eigene Vergangenheit und die Ergebnisse seiner Ahnenforschung. Nie folgt eine dieser Passagen zwingend auf eine andere, nichts scheint aufeinander aufzubauen. Doch gerade durch das collagenartige Erzählen, durch die großartige Komposition dieses Stückwerks veranschaulicht Matar, wie tief die Willkür von Gaddafis Terrorregime sein Leben durchdrungen hat. Wie ruhelos er seit dem Verschwinden seines Vaters um diese eine Leerstelle kreist.
Jahrelang hat Hisham Matar versucht zu erfahren, was genau mit dem Vater geschehen ist. Mit Hilfe von schreibenden Freunden und dem internationalen PEN gelang es ihm, so großen öffentlichen Druck aufzubauen, dass die Menschenrechtslage in Libyen sogar im britischen Oberhaus thematisiert wurde. Der damalige Außenminister David Miliband kam nicht umhin, ihm eine Audienz zu gewähren, in der er versprach, der britische Botschafter werde in Tripolis alle zwei Wochen nach dem Verbleib von Jaballa Matar sowie anderer Gefangener fragen. Auf dem Höhepunkt dieser Kampagne suchte selbst einer von Gaddafis Söhnen, Saif al-Islam, der sich im Westen gern als liberaler Reformer gab, den Kontakt zu Hisham Matar. Sie trafen sich in einem Londoner Hotel. Saif al-Islam versprach zu helfen. Man schrieb sich E-Mails. Schon bald, schrieb Saif al-Islam, bald könne er Matar alles verraten. Aber er verriet nichts, er hielt ihn nur hin.
Die Lücke bleibt bestehen. Eine andere aber schließt sich langsam, und daran hat Hisham Matar mit seinem beeindruckenden Buch einen gewissen Anteil. Vierzig Jahre lang hat Muamar al-Gaddafi in Libyen geherrscht und alles zerstört, was zum Leben freier Menschen gehört. Bücher, Zeitungen, Musik, Filme, Theater und Kinos waren so lange verboten, bis es kaum mehr jemanden gab, der sich traute, einen künstlerischen Gedanken zu hegen. Zu den wenigen Schriftstellern, die Libyen in dieser Zeit hervorgebracht hat, zu Ibrahim Al-Koni, Alessandro Spina und Mansour Bushnaf, ist nun aber einer hinzugekommen. Das ist kein kleiner Sieg für Hisham Matar.
LENA BOPP
Hisham Matar: "Die Rückkehr". Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Luchterhand Verlag, München 2017. 287 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Preisgekrönt: Hisham Matars Nachforschungen über seinen in Gaddafis Kerker verschwundenen Vater
Hisham Matar war neunzehn Jahre alt, als sein Vater, ein in Libyen bekannter Oppositioneller, aus Kairo entführt wurde. Sechs Jahre lang hörte die Familie nichts von ihm. Erst im Frühjahr 1996 erreichte sie ein Brief, ein zu einem winzigen Quadrat gefaltetes Papier, überbracht von einem Boten, der aus Furcht vor ungebetenen Zuhörern im Wohnzimmer die Musik aufdrehte, bevor er das Schreiben überreichte. Es bestätigte, was sich Hisham Matar bis dahin zu denken geweigert hatte: Jaballa Matar saß in Abu Salim, dem berüchtigten Kerker des Regimes in Tripolis.
Es war, so schreibt Hisham Matar in seinem mit dem Pulitzerpreis und gerade erst mit dem englischen Folio-Preis ausgezeichneten Buch, nicht ungewöhnlich, dass libysche Oppositionelle auch im Ausland von Gaddafis Schergen entführt oder ermordet wurden. Aber das Wissen um diese Gefahr, das den Vater immerhin veranlasst hatte, häufig eine Waffe bei sich zu tragen und die Unterseiten seiner Autos nach Bomben abzusuchen, hatte ihn weder vor ihr bewahrt, noch dürfte es ihn auf sein Schicksal vorbereitet haben. Das gilt auch für die Zurückgebliebenen. Von dem Moment an, in dem sein Vater verschwand, stand das Leben von Hisham Matar im Zeichen von dessen Abwesenheit. Sie führte ihn eines Tages in Paris an die Ufer der Seine, deren dunklem Rauschen er nur knapp widerstand, und nährte über die Jahre ein zur Obsession mutierendes Bemühen, so viele Informationen wie möglich zu sammeln, um Gewissheit zu erlangen.
Dieser Wunsch spricht aus jeder Seite seines Buches. Hisham Matar sucht nach Spuren und liest in allem - in Gesten und Gesichtern, auf Fotos und Gemälden, an Häuserfassaden und Kirchenportalen, in Geschichte und Gegenwart. Allerdings, und darin gründet die ungeheure Spannung seines Buches, von der ausnahmsweise nichts verlorengeht, wenn man verrät, dass Matars Suche vergebens ist, allerdings ergeben diese Spuren und Zeichen nie ein vollständiges Bild, sondern bleiben immer Fragmente einer Geschichte, die kein Ende hat und keiner Logik folgt.
In den Mittelpunkt seines Buches stellt Matar eine Reise, die ihn im März 2012 nach Benghasi zurückführte. Jahrzehnte hatte er im Exil verbracht und nie gewusst, ob er wieder zurückkehren könnte, dann aber genau jene kurze Zeitspanne erwischt, in der nach Gaddafis Sturz tatsächlich ein Hauch von Hoffnung in der Luft lag. Er traf Verwandte wieder, die er mehr als dreißig Jahre nicht gesehen hatte. Seinen Cousin, den Juristen Marwan, beispielsweise, der mit anderen Richtern und Anwälten gerade versucht, rechtsstaatliche Strukturen aufzubauen, um die künftige Gerichtsbarkeit von Libyen vor politischer Einflussnahme zu schützen. Und seinen Onkel Mahmud, der gemeinsam mit seinem Vater sowie drei weiteren Verwandten ins Gefängnis nach Abu Salim verschleppt worden war und erst freikam, als Gaddafi 2011 vergeblich versuchte, mit der Freilassung einzelner politischer Gefangener, die Gemüter im Land zu beruhigen.
Die Begegnung mit seinem Onkel Mahmud ist eine, die Hisham Matar gleichermaßen sucht und fürchtet. Denn Mahmud hat mit dem Vater lange in demselben Gefängnis gesessen und kennt das Leiden der Gefangenen. Matar aber hört nicht nur zu, wenn Mahmud davon erzählt, von den endlosen Stunden, in denen die Gefangenen aus Lautsprechern in jeder Zelle mit den Volksreden von Gaddafi beschallt wurden, in einer Lautstärke, die die Plastikflaschen auf dem Boden hüpfen ließ. Er sieht das Leid auch und erweist sich als ebenso begnadeter Beobachter wie Erzähler, wenn er seinen Onkel etwa beim Gang zum Gebet mit den Worten beschreibt: "Seine Haltung dabei, seine schlanke Gestalt und die jungenhafte Agilität seiner Bewegungen, schien wie eine Auflehnung gegen die Auslöschung - ein Zeichen seines individuellen Charakters und zugleich Teil des alten menschlichen Kampfes gegen die Sterblichkeit. Es brachte eine Distanz zwischen ihn und die Welt, die wie der Fächer, den das Netz eines Fischers auf der Wasseroberfläche hinterlässt, nur kurz zu erkennen war."
Diese kurzen, oft messerscharfen Porträts reiht Matar an Gedanken über das Exil und die Heimat, an Episoden aus der Geschichte Libyens, Rückblenden in seine eigene Vergangenheit und die Ergebnisse seiner Ahnenforschung. Nie folgt eine dieser Passagen zwingend auf eine andere, nichts scheint aufeinander aufzubauen. Doch gerade durch das collagenartige Erzählen, durch die großartige Komposition dieses Stückwerks veranschaulicht Matar, wie tief die Willkür von Gaddafis Terrorregime sein Leben durchdrungen hat. Wie ruhelos er seit dem Verschwinden seines Vaters um diese eine Leerstelle kreist.
Jahrelang hat Hisham Matar versucht zu erfahren, was genau mit dem Vater geschehen ist. Mit Hilfe von schreibenden Freunden und dem internationalen PEN gelang es ihm, so großen öffentlichen Druck aufzubauen, dass die Menschenrechtslage in Libyen sogar im britischen Oberhaus thematisiert wurde. Der damalige Außenminister David Miliband kam nicht umhin, ihm eine Audienz zu gewähren, in der er versprach, der britische Botschafter werde in Tripolis alle zwei Wochen nach dem Verbleib von Jaballa Matar sowie anderer Gefangener fragen. Auf dem Höhepunkt dieser Kampagne suchte selbst einer von Gaddafis Söhnen, Saif al-Islam, der sich im Westen gern als liberaler Reformer gab, den Kontakt zu Hisham Matar. Sie trafen sich in einem Londoner Hotel. Saif al-Islam versprach zu helfen. Man schrieb sich E-Mails. Schon bald, schrieb Saif al-Islam, bald könne er Matar alles verraten. Aber er verriet nichts, er hielt ihn nur hin.
Die Lücke bleibt bestehen. Eine andere aber schließt sich langsam, und daran hat Hisham Matar mit seinem beeindruckenden Buch einen gewissen Anteil. Vierzig Jahre lang hat Muamar al-Gaddafi in Libyen geherrscht und alles zerstört, was zum Leben freier Menschen gehört. Bücher, Zeitungen, Musik, Filme, Theater und Kinos waren so lange verboten, bis es kaum mehr jemanden gab, der sich traute, einen künstlerischen Gedanken zu hegen. Zu den wenigen Schriftstellern, die Libyen in dieser Zeit hervorgebracht hat, zu Ibrahim Al-Koni, Alessandro Spina und Mansour Bushnaf, ist nun aber einer hinzugekommen. Das ist kein kleiner Sieg für Hisham Matar.
LENA BOPP
Hisham Matar: "Die Rückkehr". Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Luchterhand Verlag, München 2017. 287 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
In seinem Buch "Die Rückkehr" erzählt Hisham Matar die Geschichte seines Vaters Jaballa Matar, der als Sekretär der libyschen UN-Vertretung und Oppositioneller im Jahre 1990 vom libyschen Geheimdienst entführt wurde und in Gaddafis Folterkellern spurlos verschwand, erklärt Susanne Mayer in ihrer hymnischen Besprechung. Im Gegensatz zu Matars poetischen Romanen besticht dieses Erinnerungsbuch durch eine geradezu "karge" Erzählweise, fährt die Kritikerin fort, die staunt, wie "pedantisch" der Autor seine Reiseroute nach Libyen, die einzelnen Gespräche und Begegnungen mit der Familie nahestehenden Menschen oder Zeugen der politischen Geschehnisse protokolliert. Aber das Buch vermag weit mehr als von einem erschütternden Familiendrama und der obsessiven Suche nach dem Vater zu erzählen, versichert Mayer: Bewegt liest sie Matars Erinnerungen an seine Kindheit in Tripolis und im Exil, erfährt einiges über die libysche Geschichte und bewundert, wie nüchtern der Autor Szenen "absurder Abgründigkeit" beschreibt, etwa wenn er schildert, wie er in einem Luxushotel auf den Sohn Gaddafis trifft oder der Bruder seines Vaters nach 21 Jahren aus der Haft entlassen wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»So zurückhaltend der Stil ist, so komplex, so virtuos konstruiert ist dieses Buch, der Erzähler bemüht sich um Nüchternheit, gerade in Szenen absurder Abgründigkeit.« Susanne Mayer / DIE ZEIT