Die Karriere der gefeierten Budapester Schauspielerin Rebeka Weer, unvergeßlich in der Rolle von Shakespeares Cleopatra, endet über Nacht. Der Grund: Ihre Tochter Judit, eine hochbegabte Geigerin, hat sich in den Westen abgesetzt. Von den Behörden unter Druck gesetzt, versucht sie, Judit zur Rückkehr zu bewegen - vergeblich. Um ihre Karriere zu retten, erklärt sie die Tochter für tot, inszeniert eine Beerdigung und verschickt Traueranzeigen an hochgestellte Persönlichkeiten in Kultur und Parteiapparat. Als die Entlassung nicht rückgängig gemacht wird, zieht sie sich in ihre Wohnung zurück. Fünfzehn Jahre lang setzt sie keinen Fuß mehr vor die Tür und überwacht jeden Schritt ihres Sohnes, der Schriftsteller werden will. Während draußen ein politisches System zusammenbricht, wird immer offensichtlicher, daß der Sohn dem aus Haß, Erpressung und Obsessionen geflochtenen Netz niemals entkommen wird. Auch nicht, als er nach allerlei unglücklichen Affären Estzer Feher auf der Freiheitsbrücke trifft und sich in sie verliebt. Attila Bartis erzählt diese Geschichte mit beklemmender Intensität. Dieser roman noir, der in manchen Zügen an Werke Sartres und Camus erinnert, ist Familiengeschichte und Künstlerroman und zugleich eines der bleibenden Bücher über die Wende in Ungarn.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2005Das Meer der Ruhe liegt auf dem Mond
Requisiten eines abgesetzten Lebens: Der ungarische Autor Attila Bartis läßt die politische Wende im Familiendrama verschwinden
Während die Tochter beerdigt wird, muß das Taxi mit laufendem Zähler warten. Den Sarg hatte der Fahrer gegen zweitausend Forint auf dem Dachgepäckträger transportiert. Die Mutter, schwarzes Seidenkostüm, hauchdünne Sandaletten an den Füßen, schwarzes Samttäschchen, hat es eilig, und gleich nachdem ein paar Schaufeln Erde den Sarg bedecken, macht sie sich schon wieder auf den Weg zum Parteisekretär: ob er jetzt zufrieden sei, und sie nun wieder die großen Rollen spielen dürfe. Doch ihre Partie als trauernde Mutter, wahrlich kein Glanzstück, wird der letzte öffentliche Auftritt von Rebeka Weér gewesen sein.
Es geschah in Budapest, Mitte der achtziger Jahre: Die gefeierte Theaterschauspielerin, gerade als furiose Cleopatra zu bewundern, muß auf Druck der Partei ihre Karriere beenden. Die Tochter Judit, eine aufstrebende Geigenvirtuosin, hat sich in den Westen abgesetzt, und nachdem sie weder durch mütterliche Bitten noch durch Drohungen zur Rückkehr zu bewegen ist, greift Rebeka Weér zum letzten Mittel: Sie läßt Judit für tot erklären und beerdigt an ihrer Statt sämtliche Erinnerungsstücke. Die Partei zeigt sich unbeeindruckt und bleibt hartnäckig bei ihrem faktischen Berufsverbot; die Mutter verläßt fortan ihre Wohnung, vollständig eingerichtet mit Requisiten all ihrer großen Rollen, nicht mehr. Ihr Publikum besteht nur noch aus ihrem Sohn, dem Ich-Erzähler dieser Geschichte. Das Drama wird fünfzehn Jahre lang auf dem Spielplan stehen, bis zum Tod der Mutter.
Der ungarische Schriftsteller Attila Bartis, geboren 1968, erzählt in seinem zweiten auf deutsch übersetzten Roman (nach "Der Spaziergang" von 1999) die Chronik einer familiären Katastrophe, die keinen der Beteiligten verschont. Das Buch setzt mit der Beerdigung der Mutter ein. Zögerlich, fast widerstrebend legt der inzwischen zum Schriftsteller gewordene Sohn die verwickelten Fäden seines Lebens auseinander. Jahrelang hatte er der Mutter gefälschte Briefe der Schwester aus allen Teilen der Welt zugesandt; tatsächlich hat sich Judit schon vor Jahren in Frankreich mit einer Geigensaite die Pulsadern aufgeschnitten. Jahrelang muß sich der Sohn für jede Abwesenheit rechtfertigen; seine Geschichten, in denen er seine Situation zu verarbeiten sucht, hält die Mutter für "Müll" - und muß sie doch heimlich lesen. Der angehende Schriftsteller wiederum bringt seine Tage in der Eckkneipe herum und die Nächte mit One-night-stands, die ihn selber anekeln. Ein innerer Zwang regiert die Handlungen aller Figuren dieses Romans. Das Stück, das Mutter und Sohn geben und dessen immergleiche Dialoge zwischen "Wannkommstdu" und "Wowarstdu" keinen Souffleur brauchen, ist mal Strindberg und mal Tschechow, meistens aber reiner Beckett oder gar pures Theater der Grausamkeit.
Zur Eskalation kommt es, als der Erzähler Eszter begegnet, einer jungen Frau, die ebenfalls mit dem Leben abgeschlossen hat, und in die Donau springen will. Erst in ihrer Liebe finden die beiden jene prekäre Seelenruhe, von der der Romantitel auf fast höhnische Weise spricht. Das Mare Tranquillitatis liegt auf dem Mond, den sie gemeinsam beobachten. Seiner jenseitigen Stille kommt die Gegenwart allein in der momenthaften erotischen Erfüllung nahe. Doch ihr Glück wird im zerstörerischen Beziehungsgeflecht bald zerrieben. Die tyrannische Mutter lehnt Eszter als "Nutte" ab, die ihr den Sohn abspenstig machen will; zugleich verstrickt sich dieser in eine gewalttätige Affäre mit seiner deutlich älteren Verlegerin - der pathologisch gewordenen Mutterbindung kann er nicht entkommen. Weil zu allem Überfluß auch Eszter mit eigenen Traumatisierungen zu kämpfen hat, läuft das Psychodrama mit beinahe quälender Folgerichtigkeit auf einen furchtbaren Frontalzusammenstoß hinaus.
Der Zusammenhang der privaten Tragödie mit den politischen und sozialen Umbrüchen ist nicht so leicht herzustellen, wie die verlegerische Etikettierung des Buchs als "Wenderoman" verspricht. Zwar hat Bartis in die Familiengeschichte ein Panorama der ungarischen Gesellschaft eingelassen - der Schriftsteller macht für eine Lesung eine Reise durch die Provinz; Nebenfiguren wie eine verrückt gewordene, vögelmordende Prostituierte werfen grelle Schlaglichter auf die triste Großstadtrealität -, doch setzt die Weltflucht der Mutter ja vor der Wende ein. Bartis beschreibt vielmehr die Schwierigkeit, sich überhaupt von der Vergangenheit zu lösen und sich einer wie auch immer veränderten Gegenwart zuzuwenden. Auch der Sohn hat sich in einer Scheinwelt eingerichtet; auch er lebt in den Kulissen einer längst abgesetzten Inszenierung. Doch die alten Wunden verheilen auch in der neuen Zeit nicht mehr.
Mit beeindruckender Sprachkraft gelingt es Bartis, die Ambivalenzen seiner Figuren, ihre Haßliebe und selbstzerstörerischen Energien zu entblößen und dabei die Spannung über dreihundert Seiten zu halten. Nie gleitet er dabei in abstraktes Psychologisieren ab, immer bleibt er am Konkreten: am Schmerz. Gewalt äußert sich körperlich und sprachlich; die mitunter krassen und deutlichen Sexszenen lassen die enormen Kräfte spürbar werden, die im Innern der Figuren um die Herrschaft ringen. Allein hier scheint die ansonsten flüssige Übersetzung manchmal überfordert: "Deine Wonne fehlt mir" heißt es einmal, als der Orgasmus gemeint ist.
Fast nebenbei erzählt Attila Bartis, auf spürbar autobiographischem Fundament, davon, wie ein Schicksal zum Stoff wird, ein Leben zum Roman und ein junger Mann zum Schriftsteller. Und eine tyrannische, verrückte, unerträgliche Mutter zur unsterblichen literarischen Figur. Dieses Buch ist ein gewaltiges Epitaph; wird es aufgeschlagen, ist es mit der Ruhe vorbei.
Attila Bartis: "Die Ruhe". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Agnes Relle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 300 S., geb., 22,80 [Euro].
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Requisiten eines abgesetzten Lebens: Der ungarische Autor Attila Bartis läßt die politische Wende im Familiendrama verschwinden
Während die Tochter beerdigt wird, muß das Taxi mit laufendem Zähler warten. Den Sarg hatte der Fahrer gegen zweitausend Forint auf dem Dachgepäckträger transportiert. Die Mutter, schwarzes Seidenkostüm, hauchdünne Sandaletten an den Füßen, schwarzes Samttäschchen, hat es eilig, und gleich nachdem ein paar Schaufeln Erde den Sarg bedecken, macht sie sich schon wieder auf den Weg zum Parteisekretär: ob er jetzt zufrieden sei, und sie nun wieder die großen Rollen spielen dürfe. Doch ihre Partie als trauernde Mutter, wahrlich kein Glanzstück, wird der letzte öffentliche Auftritt von Rebeka Weér gewesen sein.
Es geschah in Budapest, Mitte der achtziger Jahre: Die gefeierte Theaterschauspielerin, gerade als furiose Cleopatra zu bewundern, muß auf Druck der Partei ihre Karriere beenden. Die Tochter Judit, eine aufstrebende Geigenvirtuosin, hat sich in den Westen abgesetzt, und nachdem sie weder durch mütterliche Bitten noch durch Drohungen zur Rückkehr zu bewegen ist, greift Rebeka Weér zum letzten Mittel: Sie läßt Judit für tot erklären und beerdigt an ihrer Statt sämtliche Erinnerungsstücke. Die Partei zeigt sich unbeeindruckt und bleibt hartnäckig bei ihrem faktischen Berufsverbot; die Mutter verläßt fortan ihre Wohnung, vollständig eingerichtet mit Requisiten all ihrer großen Rollen, nicht mehr. Ihr Publikum besteht nur noch aus ihrem Sohn, dem Ich-Erzähler dieser Geschichte. Das Drama wird fünfzehn Jahre lang auf dem Spielplan stehen, bis zum Tod der Mutter.
Der ungarische Schriftsteller Attila Bartis, geboren 1968, erzählt in seinem zweiten auf deutsch übersetzten Roman (nach "Der Spaziergang" von 1999) die Chronik einer familiären Katastrophe, die keinen der Beteiligten verschont. Das Buch setzt mit der Beerdigung der Mutter ein. Zögerlich, fast widerstrebend legt der inzwischen zum Schriftsteller gewordene Sohn die verwickelten Fäden seines Lebens auseinander. Jahrelang hatte er der Mutter gefälschte Briefe der Schwester aus allen Teilen der Welt zugesandt; tatsächlich hat sich Judit schon vor Jahren in Frankreich mit einer Geigensaite die Pulsadern aufgeschnitten. Jahrelang muß sich der Sohn für jede Abwesenheit rechtfertigen; seine Geschichten, in denen er seine Situation zu verarbeiten sucht, hält die Mutter für "Müll" - und muß sie doch heimlich lesen. Der angehende Schriftsteller wiederum bringt seine Tage in der Eckkneipe herum und die Nächte mit One-night-stands, die ihn selber anekeln. Ein innerer Zwang regiert die Handlungen aller Figuren dieses Romans. Das Stück, das Mutter und Sohn geben und dessen immergleiche Dialoge zwischen "Wannkommstdu" und "Wowarstdu" keinen Souffleur brauchen, ist mal Strindberg und mal Tschechow, meistens aber reiner Beckett oder gar pures Theater der Grausamkeit.
Zur Eskalation kommt es, als der Erzähler Eszter begegnet, einer jungen Frau, die ebenfalls mit dem Leben abgeschlossen hat, und in die Donau springen will. Erst in ihrer Liebe finden die beiden jene prekäre Seelenruhe, von der der Romantitel auf fast höhnische Weise spricht. Das Mare Tranquillitatis liegt auf dem Mond, den sie gemeinsam beobachten. Seiner jenseitigen Stille kommt die Gegenwart allein in der momenthaften erotischen Erfüllung nahe. Doch ihr Glück wird im zerstörerischen Beziehungsgeflecht bald zerrieben. Die tyrannische Mutter lehnt Eszter als "Nutte" ab, die ihr den Sohn abspenstig machen will; zugleich verstrickt sich dieser in eine gewalttätige Affäre mit seiner deutlich älteren Verlegerin - der pathologisch gewordenen Mutterbindung kann er nicht entkommen. Weil zu allem Überfluß auch Eszter mit eigenen Traumatisierungen zu kämpfen hat, läuft das Psychodrama mit beinahe quälender Folgerichtigkeit auf einen furchtbaren Frontalzusammenstoß hinaus.
Der Zusammenhang der privaten Tragödie mit den politischen und sozialen Umbrüchen ist nicht so leicht herzustellen, wie die verlegerische Etikettierung des Buchs als "Wenderoman" verspricht. Zwar hat Bartis in die Familiengeschichte ein Panorama der ungarischen Gesellschaft eingelassen - der Schriftsteller macht für eine Lesung eine Reise durch die Provinz; Nebenfiguren wie eine verrückt gewordene, vögelmordende Prostituierte werfen grelle Schlaglichter auf die triste Großstadtrealität -, doch setzt die Weltflucht der Mutter ja vor der Wende ein. Bartis beschreibt vielmehr die Schwierigkeit, sich überhaupt von der Vergangenheit zu lösen und sich einer wie auch immer veränderten Gegenwart zuzuwenden. Auch der Sohn hat sich in einer Scheinwelt eingerichtet; auch er lebt in den Kulissen einer längst abgesetzten Inszenierung. Doch die alten Wunden verheilen auch in der neuen Zeit nicht mehr.
Mit beeindruckender Sprachkraft gelingt es Bartis, die Ambivalenzen seiner Figuren, ihre Haßliebe und selbstzerstörerischen Energien zu entblößen und dabei die Spannung über dreihundert Seiten zu halten. Nie gleitet er dabei in abstraktes Psychologisieren ab, immer bleibt er am Konkreten: am Schmerz. Gewalt äußert sich körperlich und sprachlich; die mitunter krassen und deutlichen Sexszenen lassen die enormen Kräfte spürbar werden, die im Innern der Figuren um die Herrschaft ringen. Allein hier scheint die ansonsten flüssige Übersetzung manchmal überfordert: "Deine Wonne fehlt mir" heißt es einmal, als der Orgasmus gemeint ist.
Fast nebenbei erzählt Attila Bartis, auf spürbar autobiographischem Fundament, davon, wie ein Schicksal zum Stoff wird, ein Leben zum Roman und ein junger Mann zum Schriftsteller. Und eine tyrannische, verrückte, unerträgliche Mutter zur unsterblichen literarischen Figur. Dieses Buch ist ein gewaltiges Epitaph; wird es aufgeschlagen, ist es mit der Ruhe vorbei.
Attila Bartis: "Die Ruhe". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Agnes Relle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 300 S., geb., 22,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Ein Roman wie ein Hieb", urteilt Lothar Müller über dieses Buch des ungarischen Schriftstellers Attila Bartis. Von einem augenzwinkernden, anekdotengesättigten Familienroman ist dieses Buch denkbar weit entfernt. Durch die im Ungarn der achtziger und frühen neunziger Jahre angesiedelte Geschichte über die gefeierte Budapester Schauspielerin Rebeka Weer und ihre frühreifen Kinder, die künftige Geigenvirtuosin Tochter Judit, und den zum Schriftsteller avancierenden Sohn Andor, die sich auf jeweils eigene Weise an ihrer tyrannischen Mutter rächen, weht für Müller ein "frostiger Wind". Während Judit in den Westen geht und damit das Ende von Rebekas Schauspielkarriere besiegelt, entspinnt sich zwischen der Mutter und ihrem Sohn das "Drama der Hassliebe". Müller ist beeindruckt von der Kälte der Prosa, von der Unversöhnlichkeit und Konsequenz des Romans. Auch wenn der "böse Blick" Andors der Auflösung in die Allegorie bisweilen bedenklich nahekomme, verdiene die "schneidende Schärfe" des Romans Respekt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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